Wo das Asphaltband der Nordstrooss bei Lorenzweiler auf einer langen Brücke das Alzettetal überquert, ehe es Richtung Grünewald in einem Tunnel verschwindet, soll ein großes Feuchtgebiet mit einem Auenwald entstehen. Das Vorhaben hat es in sich. Es soll an die 64 Hektar Fläche umfassen und sieht unter anderem auch vor, das Flussbett der Alzette streckenweise zu verlegen.
Doch obwohl es über das Projekt seit 1997 sogar eine großherzogliche Verordnung gibt, steht es nach wie vor nur auf dem Papier. Eigentlich soll es eine von mehreren Maßnahmen sein, mit denen die Umweltauswirkungen der Nordstrooss im Streckenabschnitt zwischen der Hauptstadt und Mersch kompensiert werden. Wo Naturräume zerstört oder beeinträchtigt werden, muss „kompensiert“ werden. So schrieb es schon das 1997 gültige Naturschutzgesetz vor, das von 1982 datierte. Doch der Teufel steckt im Detail. Immer wieder lassen sich Kompensationsmaßnahmen nicht rea-lisieren. Luxemburg habe dafür nach wie vor nicht die richtige rechtliche Basis, erklärte der delegierte Nachhaltigkeitsminister Marco Schank (CSV) im September vergangenen Jahres, als er einen Entwurf zur Reform des Naturschutzgesetzes vorstellte. Vor neun Jahren, bei der letzten Reform, wurde die richtige Basis demnach ebenfalls verfehlt.
Dass das diesmal nicht passiert und der ökologische Ausgleich in Zukunft reibungsloser klappt, dafür sollen vor allem drei neue Instrumente sorgen: ein Biotop-Bewertungsverfahren mit „Ökopunkten“, ein „Ökokonto“ sowie ein „Flächenpool“. Alle Details darüber stehen noch nicht fest. Die Vorbereitung der Reform aber begann noch unter Schanks Vorgänger Lucien Lux (LSAP). Zum Kompensations-Thema lag schon vor den letzten Wahlen eine Machbarkeitsstudie vor. So dass die neue Regierung schon wusste, wovon sie schrieb, als sie im Koalitionsprogramm festhielt, der Naturschutz werde in Zukunft „effizienter“ und „einfacher“. Dass im Naturschutzgesetz-Reformtext an wichtigen Stellen steht, dazu „können“ noch Ausführungsbestimmungen erlassen werden, ist allerdings ein sicheres Anzeichen dafür, dass sich nach wie vor politisch ungelöste Fragen stellen – um Naturschutz und Landschaftsverbrauch, aber auch um Privatbesitz und eine Übertragung von Naturschutzmaßnahmen an den Markt.
Ökopunkte, Ökokonto und Flächenpool sind allesamt Ideenimporte aus dem dicht besiedelten Deutschland. Dort helfen sie, je nach Bundesland zum Teil schon seit vielen Jahren, Eingriffe in Biotope zu kompensieren, die wegen des hohen Drucks, Siedlungen anzulegen, Gewerbegebiete einzurichten und Verkehrswege zu bauen, immer wieder erfolgen müssen, aber auch immer schwieriger werden, weil die Flächenknappheit steigt. Dass Luxemburg schon wegen seiner Kleinheit etwas Ähnliches nötig haben könnte, scheint plausibel. Umso mehr, als zwischen 1990 und 2000 pro Jahr elf Quadratkilometer unbebauter Flächen in bebaute verwandelt wurden, und zwischen 2001 und 2006 jährlich 4,3 Quadratkilometer. Weil das ziemlich planlos geschah, ist Luxemburg laut einem Bericht der Europäischen Umweltagentur der landschaftlich am stärksten fragmentierte Mitgliedstaat der EU. Und vor allem deshalb sind mehr als die Hälfte der heimischen Säugetiere, über 40 Prozent der Vögel, ein Drittel aller Reptilien und über 60 Prozent aller Fische und aller Amphibien vom Aussterben bedroht. Wie auch an die 27 Prozent aller Gefäßpflanzen.
Vor diesem Hintergrund verlangen Naturschutzverbände seit zehn Jahren, ein einheitliches System zur Bewertung von Biotopen und zur Kompensation von Eingriffen einzuführen. Das Bewertungssystem gibt es mittlerweile. Es ist eine Abwandlung des Ökopunktemodells, das in Baden-Württemberg benutzt wird. Auf einer Skala von ein bis 64 Punkten gibt es den Ist-Wert pro Quadratmeter eines Biotops mit all seinen Bestandteilen vor dem Eingriff an. Je mehr geschützte Arten darin leben; je seltener das Biotop im Landesvergleich ist; je besser es sich ökologisch wiederherstellen lässt und je höher seine kulturhistorische Bedeutung ist, desto mehr Punkte pro Quadratmeter werden vergeben. 64 Punkte gibt es zum Beispiel für einen Quadratmeter besonders wertvoller Rasen oder Gebüsche, nur einen Punkt pro Quadratmeter eines geteerten Parkplatzes. Anschließend wird auf demselben Weg ermittelt, welchen Punktwert die Fläche nach dem Eingriff aufweisen wird. Die Differenz ist zu kompensieren.
Seit 2009 wendet die Naturschutzverwaltung dieses System schon an. Irgendeines muss sie ja nutzen. Zuvor griff sie auf verschiedene deutsche Modelle zurück. Dass das neue System nun explizit im Naturschutzgesetz verankert werden soll, ist aber ein vergleichsweise unwichtiger Punkt der Reform. Wichtiger ist, dass die Bewertung in Zukunft „flächendeckend“ erfolgen soll. Betrachtet werden dann nicht nur besonders schützenswerte Biotope, sondern das ganze Land. Damit das funktionieren kann, wurde in jahrelanger Kleinarbeit ein Kataster sämtlicher Biotope aufgestellt. Und: Mit seiner Hilfe soll künftig vor allem dort kompensiert werden, wo es „naturschutzfachlich“ am angebrachtesten wäre. Es sei gar nicht immer wünschenswert, dass zum Beispiel ein Promoteur in unmittelbarer Nähe einer Bebauung kompensiert, erklärte Minister Schank im September. Denn das müsse nicht „kohärent und ganzheitlich“ sein. Besser, man gliche dort aus, wo es dem Artenschutz am meisten dient und vielleicht sogar die Zerstückelung der Landschaft mildert.
Damit darüber nicht autokratisch entschieden wird und das neue System sogar zur Verwaltungsvereinfachung beitragen kann, sollen der Markt und Anreize helfen. Die besonders geeigneten Flächen sollen in „Pools“ gesammelt werden. Damit die rascher wachsen können, erhalten Staat und Gemeinden durch die Gesetzreform ein Vorkaufsrecht für Terrains in Grünzonen, die zum Verkauf gestellt werden. Das sei „weniger radikal“ als eine Enteignung, beruhigt die Regierung in ihrem Gesetzentwurf, und sie hat vorgesehen, dass für das Vorkaufsrecht dieselben Einschränkungen gelten sollen wie im Pacte logement-Gesetz. Wechselt zum Beispiel ein Stück Grünland innerhalb einer Familie den Besitzer, gilt das Vorkaufsrecht nicht.
Vor allem aber sollen die Flächenpools mit „Ökokonten“ verknüpft werden. Dort würden Ökopunkte, die bei einer Kompensation entstehen, „eingebucht“. Wer mehr kompensiert als er müsste, behielte ein Guthaben für spätere Bauvorhaben mit Kompensationspflicht. Es würde sogar jährlich verzinst. Das aber soll nicht allein dazu anreizen, mehr zu kompensieren als nötig, sondern auch in Kompensationsmaßnahmen schon zu investieren, ehe ein Eingriff in ein Biotop erfolgt. Ein Investor müsste den Grundstückspreis der Fläche bezahlen, die Kosten für die Kompensationsmaßnahme und ihren Unterhalt während voraussichtlich 25 Jahren. Dass sich in den Flächenpools dank Vorkaufsrecht hoffentlich günstige Grundstückspreise einstellen, soll Vorab-Kompensationen ebenfalls attraktiv machen. Nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Skaleneffekte und „Win-win-Situa-tionen“ seien möglich, schreibt die Regierung. In der Privatwirtschaft ist das schon angekommen. Die Handelskammer hat in ihrem Gutachten zum Reformentwurf die Regierung für das neue Denken im Naturschutz beglückwünscht.
Kompensationsmaßnahmen, die vorab realisiert werden, die Kosten verursachen und deren Effekt dann als Ökopunkte angespart wird, verleihen den Punkten natürlich einen Geldwert. Und da fragt sich beispielsweise, wer Ökokonto und Flächenpool betreiben soll. Kontobetreiber, da ist die Regierung sich schon sicher, soll der Staat werden. Als Flächenpoolbetreiber aber kommen laut Gesetzentwurf neben Staat und Gemeinden auch „autres organismes“ in Frage. Welche, hatte vor vier Jahren die Machbarkeitsstudie für den neuen Kompensationsmechanismus skizziert: etwa Stiftungen oder Behörden, die sich jeweils eine Privatgesellschaft geben müssten. Im Saarland zum Beispiel, jenem deutschen Bundesland, das 1998 als erstes einen Kompensationsmechanismus mit Punkten, Konto und Flächenpools einführte, managt eine gemeinnützige GmbH im Auftrag einer Naturschutzstiftung den Flächenpool – und sie entwirft Kompensa-tionsmaßnahmen und verkauft sie an Investoren als „Rundum-sorglos-Pakete“, die so und so viele Ökopunkte einbringen.
In Luxemburg würde der Flächenpoolbetreiber wohl dasselbe tun. Im Saarland aber hatte das vor ein paar Jahren für Wirbel gesorgt. Der Spiegel schrieb Ende 2004, die „professionellen Naturvermehrer“ würden oft „keinen adäquaten Ausgleich zum tatsächlichen Eingriff“ schaffen und die Kompensationsmaßnahmen würden zu einem „Ablasshandel mit der Natur“. Weil im Saarland damals mehr Ökopunkte zum Kauf angeboten wurden als Bauprojekte vorlagen, reizte das System auch gerade nicht zum sparsamen Umgang mit Land an (Der Spiegel, Ausgabe 52/2004).
In Luxemburg muss das nicht so eintreten. Denn während im Saarland der Siedlungsdruck sinkt, geht man hierzulande von Hochdruck für die nächsten Jahre und daher eher von Ökopunkte-Knappheit aus. Auch soll jede Kompensationsmaßnahme und die Auswahl der Fläche dafür einer ministeriellen Entscheidung unterliegen. Aber im Saarland kann ein Flächenpoolbetreiber ebenfalls nicht tun was er will, muss jede Kompensation vom Landesamt für Naturschutz genehmigt werden. Und dass in Luxemburg ein „Monitoring“ über die laufenden Ausgleichsmaßnahmen und deren Qualität eingeführt werden könnte, ist eine der vielen Kann-Klauseln über vielleicht noch zu beschließende Ausführungsbestimmungen zum neuen Gesetz.
Kritik an dem neuen Systementwurf kommt von Naturschützern und aus der Landwirtschaft. Die Naturschutzorganisationen im Dachverband Natur & Ëmwelt wünschen sich eine restriktive Handhabung, vor allem was die Vorabmaßnahmen betrifft. Und sie bestehen darauf, dass ein einziger Flächenpoolbetreiber zugelassen wird, damit keine Konkurrenz um die Flächen aufkommt und gut genug kompensiert wird. Die Landwirtschaftskammer argumentiert ähnlich. Sie verlangt, der Poolbetreiber müsse ein öffentlicher sein; die Ausgleichsmaßnahmen müssten sorgfältig geplant und überwacht werden. Sie fürchtet, das neue Modell werde den Druck auf Agrarflächen erhöhen, weil die sich erfahrungsgemäß besonders gut für Kompensationsmaßnahmen eignen. Dass im Gesetzentwurf steht, der Minister „wacht“ darüber, dass keine „hochwertigen“ Agrarflächen zur Kompensation genutzt werden, beruhigt die Kammer nicht.
Die Frage, wie man die Landwirtschaft ins neue System einbinden kann, könnte in der noch nicht ausgestandenen Diskussion noch ein Kapitel für sich darstellen. Ein Ende vergangenen Jahres im Auftrag des Observatoire de l’environnement naturel erstellter Expertenbericht schätzt den mittelfristigen Bedarf an Kompensationsflächen auf 200 bis 300 Hektar jährlich, wovon mindestens zwei Drittel Agrarflächen sein dürften. Das entspräche etwa drei Alzettetal-Auenwäldern und mag dennoch nicht nach viel aussehen angesichts von derzeit 60 000 Hektar Acker- und 69 000 Hektar Weideland. Doch da nicht nur zur Kompensation, sondern auch als Bauland immer mehr Agrarflächen aufgekauft werden, könnte der Druck auf sie in Wirklichkeit viel höher sein. Und die Landwirte mit der neuen Kompensationsregelung vor den Kopf zu stoßen, wäre für keinen Umweltminister politisch klug. Dass das Feuchtgebiet im Alzettetal noch nicht realisiert werden konnte, lag auch an Bauernprotesten, die sich vor 13 Jahren erhoben. Seitdem versucht der Staat noch immer, die dafür nötigen Grundstücke zu erwerben.