Nach über vier Monaten Funkstille hatte Premier Jean-Claude Juncker am Freitag unmittelbar vor dem LSAP-Parteitag die Presse zu sich bestellt und erzählt, dass CSV und LSAP bereits in vier Sitzungen über zusätzliche Sparmaßnahmen beraten hätten, mit denen rechtzeitig zur Fertigstellung des aktualisierten Stabilitätspakts das Staatsdefizit gesenkt werden soll. Ende des Monats, am Karfreitag, würden sich die Minister und Fraktionssprecher von CSV und LSAP dann im Kommunikationszentrum der Regierung in Senningen treffen, um sich auf Einsparungen und Steuererhöhungen zu einigen. Finanzminister Luc Frieden habe den Auftrag erhalten, die Gewerkschafts- und Unternehmervertreter zu informieren, bevor der Regierungschef dann in seiner Erklärung zur Lage der Nation am 10. April auch dem Land die neuen Sparmaßnahmen ankündigen werde, so Juncker.
Ungelegener hätte Junckers Pressebriefing nicht kommen können. Denn es erinnerte genau an das heikle Thema, über das man am Sonntag auf dem LSAP-Parteitag in Düdelingen am liebsten keine Worte verloren hätte.
Nach der jüngsten vom Tageblatt in Auftrag gegebenen Wählerbefragung hätten die Sozialisten Ende vergangenen Jahres in allen Bezirken zwei oder drei Prozentpunkte Stimmen verloren – wahrscheinlich als direkte Folge der zu jenem Zeitpunkt publik gewordenen Einsparungen und Steuererhöhungen. Dabei hatten sie bereits bei den Wahlen 2009 zwei Prozentpunkte und einen Sitz eingebüßt. So dass die LSAP nächstes Jahr insbesondere im industriellen Südbezirk die Zeche für die Sparpakete zahlen könnten, in ihrer Hochburg, wo längst nicht alle Wähler es sich leisten können, sich mit gesellschaftspolitischen Reformen zufrieden zu geben.
In dem Fall drohten der LSAP aber angesichts einer derzeit erstarkenden liberalen und grünen Opposition die Argumente auszugehen, weshalb sie noch einmal der Regierung angehören muss. Parteipräsident Alex Bodry ließ sich am Sonntag schon eine Hintertür für einen ehrenvollen Rückzug offen, als er idealistisch meinte, die LSAP wolle keine Regierungsbeteiligung der Regierungsbeteiligung wegen, sondern nur, wenn es möglich sei, die Ideen der Partei durchzusetzen. Andernfalls würde sie die Opposition vorziehen.
Zudem haben die LSAP-Mitglieder und wohl auch die LSAP-Wähler nicht allzu viel Vertrauen in die Haushaltskünste der Koalition. Dass die Regierung vergangenes Jahr Steuern bald gesenkt und dann wieder erhöht, drei Sparpakete innerhalb weniger Monate gutgeheißen hatte, rechtfertigte Außenminister Jean Asselborn damit, dass sie nach den Zeiten der regelmäßigen Mehreinnahmen und Überschüsse vor einem ganz und gar „ungewohnten Phänomen“ stand: Haushaltsdefiziten. Aber auch er kam nicht mehr auf die Idee, vor dem nächsten Sparpaket, das ein Jahr vor den Wahlen nicht mehr so heißen soll, eine Wiederbelebung der von der LSAP einst viel gelobten Tripartite zu verlangen.
Um aber bei den Wahlen 2014 nicht bloß für Steuererhöhungen und Kürzungen bei den Sozialausgaben abgestraft zu werden, wollen die Sozialisten selbstverständlich gesellschaftspolitische Reformen versprechen, um sich, genau wie die DP, die Grünen und die Linke auch, von der CSV zu unterscheiden. Damit die Forderung nach der schrittweisen Einführung des Ausländerwahlrechts bei den Kammerwahlen glaubwürdiger erscheint, gab Parteipräsident Alex Bodry am Sonntag die Losung aus, nächstes Jahr 40 Prozent Erstkandidaten und ein Drittel Kandidatinnen aufzustellen.
Die LSAP will sich aber vor allem noch einmal als die einzige Verteidigerin des Sozialstaats darstellen, der in Krisenzeiten mehr denn je „von konservativen und liberalen Kräften“, so Bodry, bedroht sei. Dass aber auch ihr Bild des Sozialstaats sich gewandelt hat, zeigten die 391 Kongressdelegierten gleich bei ihrer Ankunft am frühen Morgen: vom Preis für die Parteirose, die sie traditionsgemäß ins Knopfloch steckten, traten sie stolz einen Euro an die RTL-Krebswerbung Télévie ab.
Alex Bodry bemühte sich, für den bald beginnenden Wahlkampf die sozialistische Familie zu vereinen, um „mit den freien Gewerkschaften, mit dem Tageblatt zusammen, nicht gegeneinander“ zu kämpfen. Auch Außenminister Jean Asselborn versuchte, die besorgten OGBL- und FNCTTFEL-Mitglieder in der Partei zu beruhigen, und versprach, das Verhältnis zu den „freien Gewerkschaften neu zu definieren“.
Vor allem aber waren Asselborn und Parteipräsident Bodry besorgt, die Partei im Innern zu befrieden. Zu Beginn der Legislaturperiode war vorübergehend ein linker Flügel in der Partei erstarkt, der eine bessere Zusammenarbeit mit dem OGBL verlangte und auf dem Höhepunkt seines Einflusses den außerordentlichen Tripartite-Kongress im April 2011 durchsetzte. Dann reduzierte er sich wieder auf die Abgeordnete Vera Spautz und den Monnericher Bürgermeister Dan Kersch, und Spautz’ Rücktritt aus dem Parlament besiegelte das Ende dieser Bewegung – zumindest bis die LSAP in der Opposition ist.
Am Sonntag war es nur der ehemalige FNCTTFEL-Präsident Nico Wennmacher, der den Newspeak der Partei noch nicht beherrschte. Er beschwerte sich über die Indexmanipulationen und die Rentenreform, die nun als „soziale Wohltaten“ dargestellt würden. Der wenige Tage zuvor vom Parlament verabschiedete Fiskalpakt führe eine „automatische Austeritätspolitik“ ein, sei aber nie parteiintern diskutiert worden.
Fraktionssprecher Lucien Lux, selbst ehemaliger OGBL-Funktionär, widersprach Wennmacher entschieden: In Luxemburg sei keine Austerität geübt worden. Dank der Sozialisten würden der Mindestlohn und an jedem 1. Oktober die Einkommen an den Index angepasst, seien der Spitzensteuersatz erhöht und eine Mindestbesteuerung für Betriebe eingeführt worden.
Lob hatte Lux dagegen für Dan Kersch übrig, der sich „in Alex Bodrys programmatischer Rede wiederfinden konnte“ und einen Initiativantrag erfolgreich zur Abstammung brachte, mit dem der Kongress die für nach den Wahlen geplante Mehrwertsteuererhöhung guthieß. Voraussetzung sind dabei laut Resolution „eine wirkliche Minimalbesteuerung der Betriebe, eine gerechte Reform der direkten Besteuerung und eine stärkere Besteuerung der Kapitalerträge“. Alex Bodry hatte das schon in einen größeren Zusammenhang gestellt und angekündigt, dass die Sozialisten die Notwendigkeit einer grundlegenden Steuerreform zum Wahlkampfthema machen wollen.
Um die Diskussion in der Partei, in der Öffentlichkeit und am besten auch im Wahlkampf von den Sparpaketen auf die Verteidigung des Sozialstaats umzulenken, war die übliche Tagesresolution im letzten Augenblick in eine thematische unter dem Titel Bildung, Beschäftigung, Zukunft umgewandelt und fast zu spät an die Delegierten verschickt worden. Doch während Wirtschaftsminister Etienne Schneider, der in der Partei nicht ganz populäre Vorstellungen über die Lohngestaltung und das Arbeitsrecht hegt, stumm blieb, war es wieder die große Stunde von Arbeitsminister Nicolas Schmit, der auf dem Tripartite-Kongress im April 2011 mit erhobener Faust und kämpferischen Sprüchen die misstrauische Basis für die Politik der Parteiführung gewonnen und damit die Koalition gerettet hatte. „Drei Prozent“ maximales Staatsdefizit in Europa, „dazu stehen wir“, so Schmit, aber „12 Prozent“ Arbeitslose in Europa seien „eine Kernfrage“. Denn das soziale Europa sei in Vergessenheit geraten, so dass er zusammen mit seinem „guten Freund Mars“ Di Bartolomeo und anderen Arbeits- und Sozialministern von Ratspräsident Herman Van Rompuy eine der Eurogruppe vergleichbare Sozialgruppe verlangt habe.
Vor der an die Wand projizierten Losung „Für einen starken Sozialstaat und eine fortschrittliche Gesellschaft. Sozialstaat“ schwärmte der Minister für die Arbeiterstadt Düdelingen, das immer wieder für überholt erklärte „A“ im Parteinamen und stellte fest: „Die Arbeitswelt verdient all unsere Aufmerksamkeit!“ Dann zählte er all die aktuellen und geplanten Beschäftigungsmaßnahmen auf, mit denen er die Arbeitslosigkeit bekämpfe und die nach der von der CSV stets vereitelten Reform des Arbeitsamts nun in der „Jugendgarantie“ und der vorübergehenden Regularisierung von Schwarzarbeitern aus Drittstaaten einen Höhepunkt finden würden.
Die in Lehrerkreisen wenig populäre Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres und der anscheinend für Solidarwirtschaft zuständige Minister Romain Schneider hatten nichts zu den von einem Dutzend Delegierter diskutierten Resolutionsthemen Bildung und Beschäftigung beizutragen. Die bei einem halben Dutzend Enthaltungen angenommene Resolution, die ein zentrales Stück Wahlprogramm sein soll, ruft die Sozialpartner auf, einen „Zukunftspakt für Bildung, Beschäftigung und nachhaltiges Wachstum“ zu schließen. Von Unternehmen, die aus Wettbewerbsgründen unnötige Massenentlassungen vornähmen, müssten die staatlichem Zuschüsse zurückgefordert werden. Die Sekundarschulreform solle noch vor den Wahlen Gesetz werden.
Doch nach den Resolutionskapiteln „Für mehr Beschäftigung und bessere Bildungschancen“ sowie „Für wirtschaftliche Diversifizierung und nachhaltiges Wachstum“ blieben für das dritte Kapitel, „Für eine starken Sozialstaat und einen gerechteren Welthandel“, gerade einmal neun Zeilen übrig. Die Zeiten, da zu jeder Wahl der „soziale Fortschritt“ versprochen wurde, sind auch bei der LSAP vorbei.