Die 5/6-ADR-Partei war eine der erfolgreichsten Parteigründungen nach dem Zweiten Weltkrieg, nur mit den Grünen zu vergleichen und langlebiger als die SdP. Als Rentenpartei, die den Neid auf den öffentlichen Dienst zu schüren verstand, erlebte sie mit sieben Parlamentssitzen ihren historischen Höhepunkt 1999, zur Zeit der Pensionsreform und des Rententischs. Dann hatte die Partei ihren Zweck erfüllt und war überflüssig geworden. Aber die Organisationssoziologie lehrt, dass das weniger ein Grund ist, aufzuhören, als sich eine neue Daseinsberechtigung zu suchen. Seither änderte die Partei wiederholt ihren Namen, ihre Symbolik und ihr Programm.
Nach den Renten suchte man eine neue Marktnische und probierte abwechselnd mehrere Optionen aus. Eine Möglichkeit war, sich zur Fürsprecherin der bei Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung zu kurz gekommenen Arbeiter, Angestellten, Rentner, kleinen Geschäftsleuten und Landwirten zu machen, die selbst von verschiedenen linken Parteien und Gewerkschaften als „Modernisierungsverlierer“ übersehen wurden. Dabei hätte es der Partei nutzen können, dass ihr ursprünglicher Erfolg auch damit zu erklären ist, dass sie bei ihrer Gründung über eine eigene soziale Basis aus Mitgliedern der Neutral Gewerkschaft Lëtzebuerg und des Fräie Lëtzebuerger Bauereverband verfügte. Aber die neuen starken Männer in der Partei, wie Botschafter Fernand Kartheiser und, kurze Zeit, Anwalt Roy Reding, teilten vorwiegend die Sorgen ihrer eigenen Einkommensgruppe.
Eine andere Möglichkeit war es, jenen sehr konservativen Wählern ein neues politisches Zuhause anzubieten, die sich von einer den Anschluss an eine mehrheitlich säkularisierte und liberalisierte Gesellschaft suchenden CSV verraten fühlen. Diese Option ist am Dienstag mit dem Sturz von Präsident Fernand Kartheiser ebenfalls gescheitert. Der ehemalige Vorsitzende der Association des hommes du Luxembourg, die 2008 ein Kooperationsabkommen mit der ADR unterzeichnet hatte, stand für eine ADR, welche die schutzlos gelassene rechte Flanke der CSV-Wählerschaft mit den alten Werten von Ordnung, Familie und Tradition erobern sollte. Aber die Partei überschätzte wohl die Größe dieses Reservoirs: Bei der Verabschiedung der Abtreibungsreform vor einem Monat mussten die demonstrierenden Lebensschützer aus dem Ausland importiert werden, und die vom Tageblatt in Auftrag gegebene Wählerbefragung schätzte das politische Gewicht der ADR vor 14 Tagen auf gerade noch zwei Parlamentssitze.
Eine Partei, die immer auch eine populistische Protest- und Skandalpartei war und deshalb die Frustrierten und Querulanten anderer Partei anzog, muss jedoch ständig Erfolg haben, um diese zufließende destruktive Energie steuern zu können. Beginnen sich die Misserfolge und die Schulden zu häufen, richtet sich die destruktive Energie nach innen: Nach der Spaltung der Parteijugend haben der Abgeordnete Jacques-Yves Henckes und Vizepräsident Marc Gatti nun die Partei verlassen. Auch der Abgeordnete Jean Colombera will nächstes Jahr in die Fußstapfen der Josy Simon bis Aly Jaerling treten. Würde Colombera nicht im Rahmen eines Handels sein Parlamentsmandat aufgeben, blieben der ADR die zwei Mandate übrig, welche ihr die Wählerbefragung bescheinigte.
Fernand Kartheiser, der sich nicht einmal dafür interessierte, dass es die erste Aufgabe eines Parteipräsidenten sein muss, den Laden zusammenzuhalten, ist nach bloß neun Monaten gescheitert. Nun muss der bei den Wahlen 2009 untergegangene Ex-Präsident Roby Mehlen bis zum Parteitag im Frühjahr die Gemüter beruhigen. Vielleicht gelingt ihm das sogar. Aber das ist etwas Anderes, als im beginnenden Wahlkampf eine neue Daseinsberechtigung für eine ausgediente Rentenpartei zu finden.
Romain Hilgert
Kategorien: Politische Parteien
Ausgabe: 14.12.2012