Die Faszination für die italienische Kindergeschichte Pinocchio um die Holzpuppe, die zum Jungen werden will, scheint zeitlos: Ihr Schöpfer Carlo Collodi entwarf diese Erzählung zunächst 1881 als Fortsetzung in einer Wochenzeitung, die er dann als Buch anlegte. Pinocchio-Adaptionen gibt es seit der Stummfilmzeit und auch zukünftig wird die Popularität des Stoffes nicht nachlassen: Für 2021 ist Guillermo del Toros düsteres Pinocchio-Projekt für Netflix angekündigt und in Hollywood arbeitet man derzeit an einer live-action-Neuverfilmung des Zeichentrickklassikers von 1940. Unter anderem sind derzeit Tom Hanks und Robert Zemeckis an dem Projekt beteiligt. Ron Howard und Robert Downey Jr. bereiten ferner ihre ganz eigene Version vor.
Der italienische Regisseur Matteo Garrone, dessen Pinocchio im Rahmen der Berlinale gezeigt wurde, hat 2007 in Cannes anlässlich seines Films Gomorra behauptet, er habe sich mehr an den Filmen des italienischen Neorealismus orientiert als etwa an Martin Scorseses Mafiafilmen. Auch in Dogman schien diese entschieden sozialkritische und milieuorientierte Haltung durch. Mit Pinocchio nun verbindet er die bekannte Erzählung um den Jungen aus Holz mit diesem Moment: Der Film lässt sich in seiner Exposition besonders viel Zeit für die Schilderung der Armutsverhältnisse einer toskanischen Dorfgemeinschaft, in der der mittellose Tischler Gepetto (Roberto Benigni) lebt. Ein Stück Holz erwacht da plötzlich zum Leben und es ist dem jungen Darsteller Federico Ielapi zu verdanken, dass diese buchstäblich hölzerne CGI-Figur funktioniert und zum Sohn wird. Erst nach und nach entfernt sich Garrone vom Versuch einer Milieustudie, um der fantastischen Abenteuergeschichte dann ihren Lauf zu lassen. Offenkundig ist dabei die Nähe zur Originalvorlage, die werkgetreue Übertragung des Märchens, die kaum einen höheren Grad der Transformation anstrebt, als den direkten Medientransfer.
Von Garrones Gangster- und Mafiabildern, die wir noch in Gomorra und Dogman zu sehen bekamen, ist Pinocchio augenscheinlich weiter entfernt, und doch ist dieser Holzjunge von ähnlichen Motivationen angetrieben: Jemand will jemand werden. Davon handeln alle Filme von Matteo Garrone. Und wir verfolgen diesen Prozess der Wandlung auch bei diesem aufsässigen Pinocchio mit all der Freude, der Feinfühligkeit, aber auch dem Schmerz und der Gewalt, die er hervorbringt, und das mit einer sonderbaren Mischung aus Entsetzen und Verständnis.
Garrones Kameramann Nicolai Brüel findet dafür ganz unterschiedliche visuelle Ästhetiken: Farbenprächtige und in goldgelbes Licht getauchte Bilder wechseln sich ab mit der finsteren Düsternis, die die Geschichte bereithält. Ferner setzt Brüel auf eine oft untersichtige Kameraperspektive: Es sind Kinderaugen, die in die Welt hinausblicken. Die pädagogische Botschaft des absoluten Gehorsams, der der individuellen Entwicklung enge Grenzen setzt, ist heute freilich überholt, ebenso irritiert die harte Erziehungsmoral, die das Schulschwänzen mit Entführung und Verwandlung bestraft. Freiheitsdrang und Marterung liegen hier ganz nah beieinander. Deshalb ist diese Verfilmung auch so weit entfernt von dem weithin bekannten Disney-Zeichentrickfilm, den Garrone als Verrat am Original empfindet. Ein besonderes Bezugszentrum des Films ist sein Hauptdarsteller Roberto Benigni, der bereits 2002 an einer Pinocchio-Adaption beteiligt war, der Erfolg indes blieb aus. Roberto Benigni spielt den liebevollen Vater, den wir bereits aus La vita è bella (1997) kennen, verliert sich aber zuweilen in der Exaltiertheit seines Schauspiels.
All dies in Rechnung gestellt, fragt man sich allerdings, an wen sich dieser Film richten will: Für Kinder ist er mitunter sehr düster und der Erzählfluss stellenweise zäh. Für Erwachsene ist die Erzählweise zu einfach und durchtränkt vom italienisch-burlesken Moment der Komödie, die zwar eine ansprechende visuelle Ästhetik entwickelt, aber dem Stoff nichts Neues abgewinnt, keine Anpassung an den Zeitgeist macht und keine weiteren Lesarten anbietet.