Frost und Nebel bestimmen die Bilder des Marschlands im Nordosten der neuen Bundesrepublik Deutschland. Die Wende liegt nicht allzu weit zurück, aber von der neuen Freiheit und den von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ des Ostens ist nicht viel zu spüren. Vielmehr scheinen sogar die Menschen von der herrschenden Kälte befallen zu sein, in dieser entlegenen Stadt, in der zwei Mädchen verschwunden sind.
Die Bewohner wirken weitestgehend teilnahmslos und merkwürdig desillusioniert. In dieses „neue Land“ verschlägt es den Hamburger Polizisten Patrick Stein (Trystan Pütter); er soll den Fall schnellstmöglich aufklären. Das schäbige Hotel, in dem der Ermittler unterkommt, heißt ironischerweise „Fortschritt“. Sein Partner Markus Bach (Felix Kramer) kennt dieses „Freie Land“ schon etwas länger: Er war als Polizist bereits zu DDR-Zeiten tätig und ist mit Stasi-Vergangenheit beladen. An der Aufklärung der verschwundenen Mädchen, sie sind Schwestern, scheint in der Stadtgemeinschaft keiner so recht interessiert, da viele Menschen den Osten ohnehin aufzugeben versuchen, um im Westen ein neues, besseres Leben anzugehen.
Der Kriminalfall der verschwundenen Mädchen, die schreckliche Einblicke in menschliche Abgründe gewährt, dient seinem Regisseur Christian Alvart nur als Rahmenhandlung. Vielmehr noch geht es ihm darum, den Finger auf die Wunden der politischen Vergangenheit zu legen und den tiefen Graben zwischen Ost und West näher zu studieren.
Die beiden Ermittler könnten denn auch gegensätzlicher kaum sein, das ist mittlerweile ein gern genutztes dramaturgisches Muster, das spätestens seit David Finchers Seven (1995) für den düsteren Serienmörder-Thriller eine gewisse Konstanz gefunden hat. Dieser Patrick Stein ist der ruhige, geduldige und überlegte Ermittler, auf der anderen Seite ist Markus Bach der gewaltbereite Hitzkopf, der seine Stasi-Methoden noch nicht ganz abgelegt hat. Alvart legt darauf ein besonderes Augenmerk; er will die Zerrissenheit der deutschen Seele nach der Wende zeigen.
Gänzlich neu ist dieser Blick auf die politischen Umbrüche eines Lands in Europa nicht. Freies Land basiert auf dem spanischen Thriller La isla mínima (2014) von Alberto Rodríguez, der ebenso fatalistisch wie kühl die Zeit des Übergangs von der Franco-Diktatur in die Demokratie beschrieb. Da wie hier wird erzählt von einer Zeit der Diskrepanz zwischen Alt und Neu, der Ungewissheit und des Zweifels. Die Aufklärung des Falls scheint mithin weniger gefährlich als die Aufdeckung der politischen Vergangenheit, die über den Ermittlungsarbeiten schwebt.
Das politische System ist in Freies Land nämlich zu einer Krankheit geworden, es wuchert wie ein Krebsgeschwür – der unter der Dusche kollabierende Ermittler ist dafür eine etwas überdeutlich gezeichnete Metapher. Es ist dies ein Netz aus Täuschungen, Verdrängungen und der Gefahr der Enthüllung. Über den Journalisten Kalle Möller (gespielt von Marc Limpach) verhandelt der Film das Thema der Fotografie – die Vergangenheit und die damit verbundenen Erinnerungen lassen sich nicht löschen, auch wenn ganz plakativ mit Spray an einer Wand geschrieben steht, die DDR habe es nie gegeben.
Seiner fatalistischen Weltsicht entsprechend ist die Distanz, die Regisseur Christian Alvart zu den Figuren wahrt, beinahe allgegenwärtig. Keine Einfühlung strebt Alvart an, sondern wählt eher eine analytische Perspektive. Stilistisch orientiert er sich mithin ebenfalls stark an Alberto Rodríguez’ Originalvorlage und zitiert wiederkehrend die Vertikalaufsicht der mäandernden Wasserläufe, der Kläranlage, der Landstraßen. Der Soundtrack von Christoph Schauer schafft dazu passende Tonräume einer beinahe erdrückenden Schwere, die über dem Ganzen liegt. Mit Tschiller: Off Duty (2016) hat Alvart nur bewiesen, dass Tatort-Filme ins Fernsehen und nicht auf die Leinwand gehören. Freies Land wirkt da erheblich reifer, verdichtet Noir-Elemente zu einem angestrebten Gesellschaftspanorama eines „freien“ Landes, in dem nun tatäschlich niemand wirklich frei ist.