Madre heißt der neue Film des spanischen Regisseurs Rodrigo Sorogoyen, und der Titel ist Programm: Im Zentrum der Erzählung steht die Mutter Elena (Marta Nieto), die am Telefon hat miterleben müssen, wie ihr sechsjähriger Sohn ihr sagt, dass sein Vater ihn an einem leeren Strand allein gelassen hat. Elena lässt sich an der französischen Atlantikküste nördlich von Spanien nieder, möglicherweise an dem Ort, an dem der Junge sich zuletzt aufgehalten hat. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, und eines Tages trifft die Mutter auf den Jungen Jean (Jules Porier), der ihre mütterlichen Gefühle wiederaufkommen lässt. Beide kommen sich näher und erkennen, dass sie schicksalhaft miteinander verbunden scheinen…
So neu ist der Film des spanischen Regisseurs dann doch nicht, denn er enthält integral den Kurzfilm, den Sorogoyen bereits 2017 gedreht hatte. Man kann den Kurzfilm durchaus als eine Art Fingerübung werten, auf die nun die vollständige Fassung folgt: Die fünfzehnminütige Plansequenz eröffnet diesen Film gewissermaßen als Prolog und vermittelt die Intensität des Erfahrungsraumes einer Mutter unmittelbar und ungebrochen, als sie mitanhören muss, wie ihr Sohn verschwindet. Die Anfangssequenz ist exemplarisch für Rodrigo Sorogoyens markanten Stilwillen, der im Laufe des Films gerne auf lange Einstellungen und eindringliche Plansequenzen zurückgreift. Unter der Ausgangssituation des verschwundenen Kindes und den mysteriösen Umständen des Vorfalls erinnert Madre zum einen an Alfred Hitchcocks Erzählwelten, zum anderen aber auch an Pedro Almodóvars Julieta (2017), der ebenso einfühlsam wie drastisch von den Erlebnissen einer jungen Mutter um das Schicksal ihrer Tochter erzählte. Ähnlich wie bei Almodóvar ist in Madre die wichtigste Einheit die Zeit: Immer wieder zitiert Sorogoyen in kontemplativen Bildern das Meer und den Strand, eine gängige pathetische Formel für das Vergehen der Zeit. Es ist die Liebe der Mutter, die ähnlich einer Naturkraft, unvergänglich ist. Marta Nieto spielt das gefühlvoll und nuanciert, dann wieder aufbrausend und nahezu erratisch. Madre vermittelt in welchem Maße zeitlos und stark instinktive mütterliche Zuneigung sein muss, zeigt aber auch, wie viel Verlangen und Blendung in der Liebe stecken. Innerlich betrachtet, ist dieser Film in enger Verbindung zu Alfred Hitchcocks 1958 erschienenem Vertigo zu sehen. Wie Hitchcock nutzt Sorogoyen die anfängliche Handlung, um über Thriller-Elemente eine philosophische Ebene aufzumachen: Lieben wir einen Menschen für das, was er ist, oder für das, was wir in ihm sehen?
Leider schöpft Sorogoyen das Potenzial dieser hochspannenden Figurenkonstellation nicht weiter aus, belässt es bei Andeutungen und Verweisen. In einer undurchsichtigen Ambivalenz wird nie wirklich klar, was denn nun stimmt innerhalb dieses Gefühlskosmos und diesen interpersonellen Spannungen. In dem Thriller-Baustein von der verschwundenen Person steckt oftmals eine Abhandlung über Trauer und Verdrängung. Das verschwundene Kind führt zur Störung in der sozialen Ordnung, die, so will Sorogoyen uns sagen, zu unkontrollierbaren Gegenreaktionen führt. Es ist denn auch nicht so sehr das Aufbrechen einer inneren Leidenschaft, die den Wendepunkt der Erzählung markiert; vielmehr beginnt alles damit, dass diese Figur sich gewahr wird, dass ihre neue Beziehung, ihr neues Zuhause nicht wirklich funktionieren, dass der eigentliche Schrecken in dem längst vollzogenen Selbstbetrug schon geschehen ist. Entsprechend nimmt der Film in seinem letzten Erzählabschnitt dann auch an Tempo auf und setzt auf formale Intensität: Eine oftmals handgetragene Kamera und Reißschwenks begleiten diese Frau in ihrer Verzweiflung.
In dieser Hinsicht steht Madre Sorogoyens vorherigem Film El reino (2017) nahe, der ebenfalls in seinem letzten Akt in einen nahezu paranoiden Triller führte. In beiden Filmen beweist
Sorogoyen sich als einer der aufstrebenden
Filmemacher Spaniens.