„Die hier sind etwas weicher, die da sind etwas härter.“ Die Mittvierzigerin läuft zur Probe an der Ausstellungswand mit den bunten Laufschuhen ein paar Mal auf und ab. „Die geben aber alle noch etwas nach“, sagt der Berater, holt noch ein neues Paar zur Anprobe. Die Frau sucht sich noch ein paar spezielle Laufsocken aus, geht zur Kasse, wo sie für Schuhe und Strümpfe mindestens 140 Euro hinlegen wird. Rund 1 000 Kilometer hält ein Laufschuh, sagt der Händler. Wer also 20 Kilometer die Woche läuft, braucht jedes Jahr ein neues Paar. Wer für Wettbewerbe trainiert und um die 60 Kilometer die Woche absolviert, eher drei bis vier Paar im Jahr.
In den Regalen des Laufschuhhändlers, dem die Luxemburger vertrauen, gibt es auffallend wenig so genannte „Barfuß-Schuhe“. Diese „Hülsen“ verzichten auf Stützung und Dämpfung und sollen dem Läufer das Gefühl vermitteln, er laufe ohne Schuhe, dabei aber die Fußsohle vor Verletzungen schützen. Die seien für lange Strecken nicht geeignet, sagt der Verkäufer, nur zum Auslaufen oder um auf kurzen Strecken die Fußmuskulatur zu stärken. „Die bieten ja keine Stabilität und keine Dämpfung“, sagt er, „und es ist wichtig, dass die Dämpfung ans Körpergewicht angepasst ist.“ Weil die Bevölkerung insgesamt schwerer wird, gehe deswegen der Trend zur härteren Dämpfung, erklärt der Laufschuhhändler.
Dabei geht der Trend aktuell zum Minimal-Schuh, in fast jedem Hersteller-Sortiment gibt es eine Minimal- oder Barfuß-Alternative. Die Diskus-sion für oder wider die Dämpfung von Laufschuhen ist aber ohnehin noch ein wenig philosophisch. Denn, so sagen die Forscher vom CRP-Santé, es sei bislang nicht geklärt, welche Wirkung die unterschiedliche Dämpfung von Laufschuhen hat. „Welcher Schuh sich günstig auf Technik, Leistung oder Verletzungsvorbeugung auswirkt“, so Joakim Genin, Forscher am CRP-Santé am Mittwoch, „ist bisher nicht belegt.“ Auch von den Herstellern selbst nicht. Denn, führt Genin aus, dazu müssten viele Läufer über einen langen Zeitraum beobachtet werden, was bislang nicht gemacht worden sei.
Zwar investieren die Hersteller viel in Innovation, entwickeln neue Materialien, Formen, Sohlen, Schnürmethoden. Vor allem aber investieren sie ins Marketing. Nicht nur indem sie Hochleistungsathleten als Botschafter engagieren. Produktentwickler sprechen auf You-Tube in professionell gedrehten Videos à la Apple-Keynote-Speech über den Moment der Erleuchtung, in denen ihnen die zündende Idee zur neuen Passform kam. Sie geben dem Produkt damit die persönliche Note, steigern das „Wir-Gefühl“ der Lauf-Community um die Produkte, deren Namen gerne an die fremder Galaxien beziehungsweise an mathematische Formeln erinnern. Große Hersteller wie Nike oder Adidas entwickeln Trainingsprogramme, die sich in soziale Medien einbetten lassen – damit man den Lauferfolg live mit Freunden und Bekannten am Bildschirm teilen kann – und verkaufen das zur Umsetzung notwendige Zubehör gleich mit.
„So viel Energie rund ums Laufen wie jetzt, haben wir seit dem ersten Boom in den Siebzigern nicht mehr erlebt“, sagte Charlie Denson, Präsident von Nike Brand im November anlässlich der Vorstellung der Semesterzahlen des Sportartikelgiganten. Zigtausende quälen sich mehr oder weniger souverän bei Stadtläufen, Marathons oder Querfeldein-Rennen über die vom Hersteller gesponserte Ziellinie. Laufen ist Trend.
Aber nicht nur. Laufen ist auch Gesundheit. Zumindest bekräftigen das die Deckblätter der Wissenschaftsmagazine, die Genin und Daniel Theisen, Leiter des sportmedizininischen Labors des CRP-Santé, am Mittwoch vorzeigten, die körperliche Bewegung und Laufen insbesondere als vorbeugende Maßnahme gegen Herz- und Gefäßkrankheiten oder Diabetes empfehlen. Weil die Erkenntnis auch Nicht-Wissenschaftlern nicht ganz neu ist, konnte der japanische Hersteller Asics in seinem Jahresbericht 2011 feststellen, das Interesse an Sportartikeln bleibe hoch, weil die Leute im allgemeinen gesundheitsbewusster werden.
Das Problem dabei: Mit zunehmender Laufaktivität steigt auch das Verletzungsrisiko. Einer von zwei Läufern, das haben die CRP-Forscher in vergangenen Studien festgestellt, verletzt sich im Laufe einer Saison. In der Hauptsache an den Untergliedmaßen. In 30 Prozent der Verletzungen sind die Beine betroffen, in 23 Prozent der Fälle das Knie und in 19 Prozent der festgestellten Verletzungen ging es um den Fuß. Am häufigsten sind Muskelblessuren (37 Prozent), gefolgt von Sehnenproblemen (22 Prozent) und Knorpelverletzungen. Als Ursachen konnte das Team um Theisen und Genin bisher die Überlastung ausmachen, die mangelnde Erfahrung unter Laufanfängern und vorherige Verletzungen. Wie sich das Schuhwerk auswirkt, bleibt offen.
Diese Frage wollen die CRP-Forscher in einer neuen Studie untersuchen, die sie am Mittwoch vorstellten und für die sie noch Teilnehmer suchen1. 200 Läufer sollen ab März vier Monate lang Schuhe testen, mindestens einmal wöchentlich damit trainieren. Die eine Hälfte von ihnen wird Schuhe mit hoher Dämpfung erhalten, die andere Hälfte mit weniger gedämpften Schuhen laufen. Weder Läufer noch Wissenschaftler wissen, wer mit welchen Schuhen unterwegs ist. Über den Zeitraum der Studie müssen die Teilnehmer berichten, wie oft sie sportlich aktiv waren und wann welche Probleme aufgetreten sind. Im Juni, nach Abschluss der Testzeit, müssen die Läufer die Schuhe zwecks Untersuchung zurückgeben. Die Schuhe sind handelsübliche Modelle und im Laden zu haben, wurden aber zum Zweck der Studie abgeändert und mit neuen, unterschiedlich gedämpften, Sohlen ausgestattet, erklärt Jenin.
Dass die Studie von einem privatwirtschaftlichen Akteur, nämlich einem Laufschuhhersteller, in Auftrag gegeben wurde, ist für die öffentliche Forschungsanstalt ein Erfolg. Erstens, weil die Forschungsanstalten im Rahmen der Contrats de performance mit dem Staat 40 Prozent der Forschungsmittel über externe Akteure selbst beschaffen müssen und der ungenannte Sportartikelhersteller in diesem die Studie mitfinanziert. Und zweitens weil der Auftrag eine Bestätigung ihrer bisherigen Arbeit ist.
Seit 2007 forscht das Team um Professor Theisen im Auftrag des Sportministeriums im Bereich der Verletzungsvermeidung. Es hat dazu unter anderem die internetgestützte Plattform Tipps (Training and injury prevention platform for sports) aufgebaut, die in ihrer Art, wie Theisen sagt, relativ einzigartig ist. „Trainingkalender gibt es viele“, erklärt er. Und daneben die Krankenakten, die im Fall von Blessuren angelegt werden. Tipps ist eine Mischung aus beidem. Die Plattform kann als Trainingskalender benutzt werden, in den alle Sportaktivitäten und Wettbewerbe vermerkt werden, in den aber auch eingetragen wird, wann welche Verletzung auftritt. Dadurch erlaubt Tipps eine vollständigere „Buchführung“ als andere Instrumente. Das Programm wird augenblicklich hauptsächlich dazu eingesetzt, die Aktivität junger Kaderathleten zu überwachen und deren Überlastung zu verhindern. Das CRP-Santé arbeitet in diesem Sinne mit dem olympischen Komitee zusammen und sucht die Zusammenarbeit mit den Sportverbänden. „Oft ist es für die verschiedenen Trainer schwierig einzuschätzen, wie viel auf der Ebene der Clubs trainiert wird, wie viele Wettbewerbe am Wochenende absolviert werden und was zusätzlich auf Verbandsebene geschieht“, erklärt Theisen. Indem die Athleten über Tipps Buch führen, werde der Überblick verbessert.
Vergangenen September machte das CRP-Santé die Tipps-Plattform für die Öffentlichkeit zugänglich. Seither stieg die Zahl der Nutzer auf momentan 1 350 Nutzer insgesamt, wovon 470 „freie“ Nutzer sind. Dieses Instrument, die Tipps-Plattform, ist es, die das CRP-Santé für den Sportartikelhersteller interessant macht. Weil, wie Theisen erklärt, man damit die „Logistik“ bereithält, um eine solche Studie über die Wirkung der Schuhdämpfung unter wissenschaftlichen Bedingungen durchführen zu können. „Das ist unsere „Geschäftsgrundlage“, sagt Theisen, meint das auch im wissenschaftlichen Sinn. Zahlen will er keine nennen. Weder über die Projektkosten, noch über die Entwicklungs- und Unterhaltskosten der Plattform an sich. Doch der Aufwand ist erheblich. Seit einem Jahr arbeitet ein Programmierer in Vollzeit unter anderem an der Verbesserung der Benutzeroberfläche. Wöchentlich trifft sich das Team, um über neue Funktionen und den Ausbau zu beraten. Und tatsächlich werden im Monatsrhythmus neue Funktionen eingeführt. Die Forscher haben einen Algorithmus entwickelt, der die Qualität der eingegeben Daten überwacht, und sind eigener Aussage nach, im Vergleich zur Fachliteratur auf dem Stand der Dinge. „Für uns ist dies die Gelegenheit, zu zeigen, dass wir wissenschaftlich seriöse sind“, sagt Theisen. „Wir hoffen natürlich, dass die Partner zufrieden sein werden.“ Und in der Folge andere Privatunternehmen die Zusammenarbeit mit den Forschern vom CRP-Santé suchen.