Berkin Elvan war erst 16 Jahre alt. Am Dienstag starb er in einem Krankenhaus in Istanbul. Seine Eltern hatten ihn vor neun Monaten Brot kaufen geschickt. Er fand sich plötzlich vor wütenden Polizisten, die die regierungskritischen Demonstrationen mit maximaler Härte auseinanderzutreiben versuchte. Eine Tränengasgranate traf Berkin am Kopf.
Elvans Tod sorgte um Empörung im Land. Tausende Menschen demonstrierten spontan. Die Polizei ging wieder mit der gewohnten Härte vor. Nichts Neues für die Protestler. Denn sie wissen, dass die Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan immer nervöser wird und jede außerparlamentarische Opposition im Keim zu ersticken entschlossen ist.
Seit Dezember geht Premier Erdogan mit drastischeren Mitteln vor. Diesmal aber sind seine Gegner vor allem Staatsbedienstete. Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die es wagen, wegen schwerer Korruptionsverdacht gegen Mitglieder seiner Regierung und seiner Familie zu ermitteln, werden prompt aus ihren Ämtern gejagt und in die tiefen Anatoliens verbannt. Mittlerweile sind mehrere Tausend Beamte von diesen Strafaktionen betroffen. Erdogan glaubt, sie seien Mitglieder einer Bande, die sich im Staatsapparat ausgebreitet haben und seine Regierung mit ungesetzlichen Maßnahmen stürzen wollen.
Seine Gegner sind auch mächtig. Die Mittel, die sie gegen Erdogan benutzen, beweisen das. Denn es sind mitgeschnittene Gespräche, die im Internet veröffentlicht werden, die den machtbesessenen Regierungschef zur Weißglut treiben. Öffentlich lässt er erkennen, dass er es nicht fassen kann, denn viele dieser Gespräche habe er mit abhörsicheren Telefongeräten geführt. Deshalb will er nun auch gegen die Informationsfreiheit im Internet vorgehen. Bei einem Gespräch mit Journalisten behauptet er, Facebook und YouTube seien „eine Gefahr für die nationale Sicherheit“ geworden.
Was in diesem Mitschnitten aber zu hören ist, sind vor allem Erdogans eigene Stimme. Seine Gesprächspartner sind oft sein Sohn oder sein Schwiegersohn, aber manchmal auch Unternehmer und Berater. Die Inhalte der Gespräche sind höchst explosiv. Mal befiehlt der türkische Ministerpräsident seinem Sohn, das Geld in seiner Wohnung „wegzuschaffen“ und fährt ihn an, weil der „die letzten 30 Millionen Euro immer noch nicht loswerden“ konnte, mal beschimpft und droht er Medienunternehmern, weil in ihren Medien oppositionelle Politiker zur Wort kommen. Auch seine aktive Mitmischung in das Wirtschaftsleben des Landes, seine Versuche den Ausgang von Ausschreibungen zu beeinflussen, die in den Telefonaten offenkundig werden, werfen einen sehr dunklen Schatten auf ihn.
Die sonst lahme parlamentarische Opposition wacht plötzlich auf. Vier ehemalige Minister Erdogans droht die Aufhebung ihrer Immunität wegen den Korruptionsvorwürfen. Wird das wahr, droht Erdogan eine neue Kampffront. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass einer dieser ehemaligen Weggenossen Erdogan belasten wird, um sich selbst zu retten, ist hoch.
Zugleich führt der Premier einen Wahlkampf, alleine, fast ohne seine Partei, wie ein Kampf um Leben oder Tod. Denn die Kommunalwahlen, die Ende März stattfinden werden, drohen zu einer ernsthaften Machtprobe für ihn zu werden. Erdogan weiß, dass seine Parteifreunde zumindest die Bürgermeisterämter der Metropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara sichern müssen. Sonst droht ihm ein schneller Niedergang und womöglich in den kommenden Jahren Gerichtsprozesse wegen Korruption.
Damit wird Erdogan zu einer großen Last für sein Land. Doch er ist nicht die einzige Last. Seine fast unsichtbaren Gegner oder zumindest ihre Methoden sind ähnlich heikel. Denn die bekanntgewordenen Abhöraktionen scheinen allesamt illegal zu sein. Erdogan sagt wahrscheinlich auch die Wahrheit, wenn er sich über einen Parallelstaat beschwert, der den Staatsapparat unter seiner Kontrolle gebracht haben soll. Doch kaum einer hat Mitleid mit ihm. Denn diese feindliche Übernahme des Staates fand in seiner Amtszeit und mit seinem Wissen stattg. Erdogan fand so lange nichts Schlimmes an dieser Entwicklung, wie diese Parallelstruktur, die religiöse Gülen-Gemeinde, gegen die radikal-säkularen Offiziere der Armee oder die Oppositionspolitiker vorging.
Der erbarmungslose Machtkampf zwischen zwei Fraktionen der islamisch-konservativen Bewegung des Landes wird nun an sich eine große Gefahr für die türkische Demokratie. Während die Politik seit Monaten sich nur mit sich selbst und dem Justizapparat beschäftigt, macht der Beitrittskandidat der EU im Schnelltempo mehrere Rückwärtssaltos in Sachen Demokratie.
Nach jahrelanger mühevoller Arbeit entlarvte Putschisten und ihre zivilen Handlanger wurden in den letzten Tagen einer nach dem anderen auf freien Fuß gesetzt, weil die Gerichtsprozesse schlicht zu lange dauerten. Aus demselben Grund werden auch die Mörder eines armenischen Journalisten und eines Richters freigelassen, sowie die Schlächter von drei christlichen Missionaren, unter anderem des Deutschen Tilman Geske, obwohl die Letzteren sogar auf frischer Tat erwischt wurden, als sie ihren Opfer die Gurgel durchgeschnitten haben.
Oppositionelle, die nicht zum Mainstream gehören, werden von faschistisch anmutenden Mobs angegriffen. In den vergangenen Tagen kam es zu einem Dutzend Überfällen und Lynchversuchen gegen die Aktivisten einer Partei, die kurdische und sozialistische Politiker zusammenbringt.
Doch die Opposition ist immer noch zu schwach, um Erdogan entmachten zu können. Der Hoffnungsschimmer mancher Liberalen und Demokraten, der Staatspräsident Abdullah Gül, kritisiert die Internetzensurpläne, zeigt sich empört über die Freilassung von Mördern und lässt anmerken, dass die jüngsten Wutattacken Erdogans nicht gut findet. Sonst hält er sich aber zurück.
So sinkt die Türkei immer tiefer in die Krise. Die Hoffnung, sie könnte nach den Kommunalwahlen beendet werden, ist längst gestorben. Denn die ernsten Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan treiben ihn immer weiter in die Ecke und er verhält sich wie ein zweiter Berlusconi. Ihm sind alle Mittel recht, um seine Haut zu retten, und das kann er nur, wenn er die ganze Macht in seiner Hand behält.