DP-Grundsatzprogramm

Die Wiederentdeckung der sozialen Marktwirtschaft

d'Lëtzebuerger Land vom 20.11.2003

Nicht mehr ganz junge Männer warten breit in den Klappstuhlrängen des mit unterkühltem Luxus renovierten Theaterstudios, die Arme selbstzufrieden über dem Bauch verschränkt. Frauen in Hosenanzügen wuseln mit bunten Hermes-Schalen aus dem Taxfree-Shop über den Schultern durch die Reihen. Umrahmt von Palmen, niedlichen Farnen und artigen Begonien ist die Parteispitze an einem Vorstandstisch unter der obligaten Videoleinwand aufgereiht. Die restlichen Minister und Abgeordneten bringen sich ihnen gegenüber in der ersten Reihe für die Fernsehkamera in Position, der Held des Rententischs, die Bildungsoffensive, der CGFP-Staatssekretär... Nur der Minister und ehemalige Parteipräsident Charles Goerens sitzt stumm inmitten der anonymen Mitglieder und blauen Dorfschulzen. "Eng Equipe, een Engagement", steht am Vorstandstisch.

Sie alle sind zur, laut Einladung, "außerordentlicher Kongress" genannten Vorstellung des neuen Grundsatzprogramms ihrer Partei gekommen. Bei anderen Parteien stimmen die Delegierten am Ende zeitraubender, öffentlicher Kongresse über das Grundsatzprogramm ab, nachdem die letzten Richtungskämpfe um Änderungsanträge entschieden sind. Bei der DP resümiert sich die Prozedur nach der Entscheidung des Nationalrats auf eine Art Verkaufsvorführung, wo die Mitglieder bereits beim Betreten des Neuen Theaters das von einer Werbeagentur aufbereitete, druckfrische Programm ausgeteilt bekommen, drei Reden über sich ergehen lassen und dann diskussionslos zum Ehrenwein schreiten.

Die Partei heißt zwar demokratisch, aber offensichtlich funktioniert sie noch immer "im engen Kreis" wie die liberale Notabelnpartei des 19. Jahrhunderts. Als Parteipräsidentin Lydie Polfer und Fraktionssekretär Dan Theisen das neue Grundsatzprogramm vorstellen, beschreiben sie die Identität der Demokratischen Partei durchweg nicht als demokratisch, sondern als liberal. Das Grundsatzprogramm Fräiheet liewen, Verantwortung droen definiert als liberale Werte "Freiheit, Toleranz, Verantwortung, Solidarität und Fortschritt" (S. 5), Demokratie ist kein eigenständiger Wert für die Demokraten.

Nach der LSAP (starker Staat + Laizität, d'Land 04.10.02) und der CSV (Rerum novarum + gleichgeschlechtliche Partnerschaften, d'Land, 25.10.02) hat auch die DP ihr Grundsatzprogramm überarbeitet. Denn seit 1986 hat sich vieles geändert: der Kalte Krieg ist gewonnen, das Staatsziel heißt nationale Wettbewerbsfähigkeit, der Durchmarsch des Neoliberalismus beraubt die liberalen Parteien überall ihres Geschäftsfundus, und die DP ist wieder in der Regierung.

Nachdem sich die Partei in den Siebzigerjahren modisch als "linksliberal" dargestellt hatte, schwamm ihr in den Achtzigerjahren verabschiedetes Grundsatzprogramm ganz auf der Welle des rechten Reaganismus und Thatcherismus, mit deren Hilfe sie 1994 die Wahlen verlor. Das wird nun korrigiert.

Um Wahlen zu gewinnen, reicht das mittelständische Wählerreservoir der DP eben nicht aus. Will sie nicht wie ihre deutschen oder gar österreichischen Kollegen enden, muss sie also alle fünf Jahre zusätzliche Wechselwähler an sich ziehen. Irgendjemand muss ihr aber inzwischen geflüstert haben, dass neun Zehntel der Leute in Luxemburg und damit auch dieser Wechselwähler  lohnabhängig arbeiten und somit auf den Sozialstaat angewiesen sind, der im bisherigen Grundsatzprogramm vor allem als "Versorgungsstaat" madig gemacht wurde. Tauchte die Vokabel "sozial" im bisherigen Grundsatzprogramm gerade neunmal auf, so kommt sie im neuen gleich 42 Mal vor. Denn Leistungsprinzip ist schön und gut, aber "sozialer Ausgleich ist notwendig" (S. 14). Und so kehrt das neue Programm nach dem Wahlprogramm von 1999 vom Neo- zum Ordo-Liberalismus zurück und entdeckt überraschend die "um ein ökologisches Moment" ergänzte "soziale Marktwirtschaft" wieder (S. 46), einen Begriff, der nach der Niederlage des deutschen Faschismus von dem ehemaligen Nazi-Ökonomen und späteren CDU-Staatssekretär Alfred Müller-Armack geprägt worden war und im bisherigen DP-Programm tunlichst vermieden wurde.

Das bisherige Grundsatzprogramm betonte dagegen die traditionelle Staatsfeindlichkeit der Liberalen: "Auch hier also: Weniger Staat und mehr Freiheit, weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung." (S. 9) Davon ist aber kaum noch etwas zu lesen im neuen Grundsatzprogramm der Partei, die 1999 mit Unterstützung der Staatsbeamtengewerkschaft CGFP die Wahlen gewann. Nun braucht der Staat "gut ausgebildete und motivierte Mitarbeiter, eine klare Kompetenzaufteilung, effiziente Prozeduren sowie den Einsatz moderner Informationstechnologie" (S. 26).

Daneben tauchen im neuen DP-Grundsatzprogramm zwar noch das überraschende anthropologische Paradigma von "Der Mensch als Konsument" (S. 43) auf und das Bekenntnis zur bisher von Fraktionssprecher Jean-Paul Rippinger abgelehnten doppelten Staatsbürgerschaft (S. 20), zur Gentechnologie (S. 34), zu einem völkischen Kulturbegriff von "Sprach- und Brauchtumspflege" (S. 42), sowie zum Recht auf Sterbehilfe (S. 43).

Aber ein Grundsatzprogramm ist für die DP eine weit schwierigere Aufgabe als für die anderen Parteien. Denn wie soll eine Partei, die sich entschieden ideologiefeindlich gibt, ihre Ideologie zu Papier bringen? Wie soll sich eine Partei, die sich pragmatisch nennt, auf andere Prinzipien als eine durchsichtig kaschierte Prinzipienlosigkeit einigen? 

Die zwangsläufige Folge ist, dass die blaue Broschüre mit liberalen Grundsätzen in noch höherem Maße als die Konkurrenzprogramme aus Allgemeinplätzen, Zirkelschlüssen und sonstigem Wortmüll besteht. Etwa wenn sie feierlich erklärt: "Der Liberalismus der demokratischen Partei ist Innovation im Respekt vor dem Bestehenden. Es gilt[,] Zusammenhänge erkennen und ausgewogene Lösungen vorschlagen."

 

 

 

Romain Hilgert
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