Interview mit Philippe Turk, Direktor der Zitha-Klinik

"Das System braucht Luft"

d'Lëtzebuerger Land vom 25.10.2006

d’Land: Auf der Herbstsitzung der Krankenkassen-Quadripartite letzte Woche haben Sie einen Vortrag über „künftige Antriebe eines effizienten Spitalsystems in Luxemburg“ gehalten. Kann ein Krankenhaus denn effizient arbeiten??

Philippe Turk: Weshalb nicht? Kranke zu behandeln, ist eine Serviceleistung wie jede andere. Gerade weil wir kranke Menschen behandeln, sind wir zu Effizienz verpflichtet. Dass wichtige Therapien immer teurer werden, verstärkt den Druck noch. Die Krankenhäuser müssen patientenorientierter werden.

Sind sie das nicht schon?

In letzter Konsequenz noch nicht. Denn die hieße, dass es nur eine Prämisse geben kann: zufriedene Patienten. Noch aber sind die Häuser zu stark mit sich selbst beschäftigt. Vor zehn Jahren, ehe die Budgetierung der Kliniken eingeführt wurde, war das noch weit ausgeprägter. Damals trugen die Krankenkassen alle Kosten des Klinikbetriebs, und die Kliniken entwickelten sich nach zum Teil sehr unterschiedlichen Modellen, die die jeweiligen Direktionen und Träger der Häuser entwickelt hatten. Die Budgetierung führte dann ab 1995 wenigstens zu finanzieller Transparenz und Gleichbehandlung. Das war wichtig.

Das klingt, als wollten Sie die Budgetierung nun abschaffen.

Verbessern. Es geht mir auch nicht nur um die Budgetierung, sondern um etwas Systemisches. Zur Budgetierung stelle ich fest, dass die Art und Weise, wie sie angewandt wird, den Kliniken nicht erlaubt, vernünftig zu funktionieren. Beispielsweise müssen die Budgetplanungen für das folgende Jahr bis zum 1. Juni des laufenden Jahres bei der Krankenkassenunion eingereicht werden. Wir, die Zitha-Klinik, haben unser Budget für 2006 Anfang Juni 2005 abgegeben, aber bis jetzt noch nicht mit der UCM abschließend verhandelt. Dabei beginnt in ein paar Tagen der November 2006 und wir müssten eigentlich über das 2007-er Budget verhandeln. Solche Verzögerungen sind häufig und betreffen andere Kliniken genauso wie uns. Das muss sich unbedingt ändern. Aber das ist nur ein Detail. Prinzipiell stelle ich in Frage, dass die Budgetierung nicht berücksichtigt, wie die Mittel eingesetzt werden. Also wie, wenn man so will, die Produktionsergebnisse aussehen – die an den Patienten erbrachten Leistungen.

Sie verstehen ein Krankenhaus als Unternehmen?

Ja.

Das tun womöglich nicht alle Klinikdirektoren.

Mag sein, aber darauf kommt es mir gar nicht an. Ich wollte einen Denkanstoß geben. Und zu meinem Vortrag vor einer Woche war es immerhin gekommen, weil die EHL (die Entente des hôpitaux, Dachverband der Krankenhäuser, d. Red.) auf dem Frühjahrstreffen der Quadripartite beklagt hatte, das aktuelle System beinhalte für die Kliniken keinen Anreiz, gut geführt zu werden. Weil ich mich da verbal ein wenig exponiert hatte, bat der Gesundheitsminister mich, Verbesserungsvorschläge
zu machen. Sie sehen aber, die Sensibilität für diese Frage ist auch innerhalb der EHL insgesamt vorhanden.

Inwiefern enthält das System keinen Anreiz zur guten Führung der Spitäler?

Ein Problem besteht in der momentan geltenden budgetären Logik. Sie führt dazu, dass nicht Mittel sinnvoll eingesetzt werden, sondern Geld verwaltet wird, das man einmal zugeteilt bekam. Den Kliniken ist es bisher so gut wie unmöglich, Gewinne
zu machen. Der einzige Gewinn, den sie behalten dürfen, ist die Qualitätsprämie der Krankenkassenunion, sofern die Spitäler sie erhalten. Alle anderen Boni müssen zurückfließen an die UCM.

Die Klinikkosten sind ja auch der größte Ausgabenposten in der Sachleistungsbilanz der Kassen und steigen schnell.

Ja. Aber die Kliniken haben keinen Anreiz zum Sparen. Das hat auch der Minister erkannt und zugestimmt, dass in gewissen Grenzen Rationalisierungsgewinne erlaubt sein sollen.

Wenn Sie eine Klinik als Betrieb auffassen und dort rationalisieren möchten, müssten Sie auch die Produktionskosten kennen. Scheitert das aber nicht zum einen daran, dass die Häuser noch unzureichend mit Informatik versehen sind, zum anderen daran, dass die liberale Medizin dem Arzt Verschreibungsfreiheit garantiert?

Das Informationsmanagement ist meiner Ansicht nach eine der Baustellen, vielleicht die Baustelle im Klinikwesen der nächsten Jahre. Ich habe in meinem Vortrag einen Zeithorizont vorgeschlagen. Ich denke, im kommenden Jahr könnten wir die budgetären Regeln verbessern. Wir benötigen aber bestimmt drei, eher noch fünf Jahre, um sämtliche Kliniken auf einen einheitlichen Informatikstand zu bringen. Es geht um das elektronische Patientendossier. Aber dessen Einführung bedingt, dass Daten zu schlichtweg allen Aktivitäten um den Patienten – also um das Kerngeschäft einer Klinik – in das Patientendossier fließen. Die organisatorischen Implikationen für die Häuser sind riesig: Es gliche einem „Großreinemachen“. Denn wenn man gezwungen ist, alle Abläufe zu erfassen, muss man sie zwangsläufig überdenken. Es geht ja um Produktionskostentransparenz. Dass die liberalen Mediziner in den Kliniken Rationalisierungen entgegenstünden, meine ich nicht. Es stimmt schon: Die Kliniken wissen, was sie für eine Hüftprothesenoperation von den Kassen einnehmen, aber nicht, was sie alles dafür ausgeben. Die Leistung des liberalen Mediziners wird pro Akt bezahlt; das geschieht unabhängig vom Klinikbudget.

Was der Arzt aber verschreibt, hat einen Einfluss: Kosten für Medikamente, Implantate, Hilfsmittel und so weiter sind variable Kosten einer Klinik. Auf diesem Themenfeld kann man mit den Ärzten arbeiten. Letzten Endes haben sie genauso wie die Klinikdirektion ein natürliches Interesse daran, dass es dem Haus, für das sie arbeiten, gut geht. Gegebenenfalls muss die Klinikdirektion helfen, diese Interessenübereinstimmung herzustellen.

Wie kann sie das?

Über die Betriebskultur. Ich persönlich arbeite damit lieber als mit Verordnungen. Denn das fundamentale Problem ist ja folgendes: Einerseits ist die Tätigkeit der Kliniken stark reguliert, sei es staatlicherseits, sei es von den Kassen her. Andererseits gelten die liberale Medizin und Therapiefreiheit für den Arzt sowie die freie Arztwahl und Freiheit der Nutzung für den Patienten. All das soll sich in den Kliniken realisieren, und wenn deren Betrieb zu teuer wird, haben sie den Schwarzen Peter. Ich möchte da raus; ich möchte, dass Krankenhäuser nicht nur als Kostenauslöser, sondern als Wert schaffende Unternehmen verstanden werden. Um dieses Konzept muss man die Ärzte versammeln und positives Verhalten unterstützen.

Kontrollieren müssten Sie es aber auch.

Ja, durch die Messung der Resultate an den Patienten. Es muss eine systemische Erfassung von Qualität geben, sonst ist der Arzt als Akteur tatsächlich kaum zu kontrollieren. Für die Erfassung der Resultate allerdings benötigen wir wiederum die Informatisierung aller Klinikaktivitäten.

Und es gibt noch eine Schnittmenge zwischen Klinik und Arzt, aber auch dem Patienten: den Umgang mit Risiken. Das ist ein Zusammenhang, der bei der Führung der Spitäler immer wichtiger werden wird. Jeder medizinische Akt stellt für den Patienten ein Risiko dar. Das Risiko geht aber nicht nur vom behandelnden Arzt aus; es ist systembedingt, das System muss gemeinsam mit dem Arzt das Risiko für den Patienten möglichst klein halten. Bei jedem Gerichtsprozess über Klinikbehandlungen wird stets nach der geteilten Verantwortung geforscht – wo liegt die des Arztes, wo liegt die des Systems, also der Klinik. Das ergibt einen guten organisatorischen Hebel: Der Arzt will sich nicht einem Prozess aussetzen, der Patient fürchtet das Risiko, die Klinik hat eine systemische Verantwortung. Daraus folgt für mich, dass – wie in den USA oder in Nordeuropa – in die Verwaltungsräte
der Spitäler Vertreter der Ärzteschaft, aber auch Patientenvertreter aufgenommen werden sollten, um gegebenenfalls Audits in Auftrag zu geben und Qualitäts-Steuerinstrumente einzuleiten.

Sollten die Krankenhäuser gehalten werden, die Resultate ihrer Arbeit am Patienten zu veröffentlichen?

Ja. Genau das will der Patient ja wissen, ehe er sich einem Spital anvertraut. Einfach ist das natürlich nicht. Es stellt sich die Frage, wie man was misst, und die ist zum Beispiel bei komplexen Krankheitsbildern nicht leicht zu beantworten. Es stellt sich auch die Frage, wie man die Ergebnisse aufbereitet. Bis dahin haben wir noch einen Weg zurückzulegen, und die Informatisierung muss vorher abgeschlossen sein. Bei all dieser systemischen Komplexität geht es jedoch zu einem guten Teil um die Wahrnehmung der Kliniken durch den Patienten: Wurde ich dort gut gepflegt? Hatte ich den Eindruck, dass dort alles gut lief? Würde ich dieses Krankenhaus weiterempfehlen?, und so weiter. Solche Zufriedenheitsstudien könnte man jederzeit machen. Ich meine, schon jetzt wäre alle zwei Jahre eine derartige Vergleichsstudie über alle Krankenhäuser im Lande angebracht.

Welche Rolle kommt der Spitalplanung in Ihrem Konzept zu? Zurzeit ist ein neuer Spitalplan in Ausarbeitung, der die Dienste in den Kliniken begrenzen und ungesunde Konkurrenz abbauen soll.

Qualität ist auch eine Frage der Spitalplanung. Bisher wurden die Dienste der Häuser nach ausschließlich quantitativen Kriterien verteilt: Wie viele Patienten wurden da versorgt, wie viele Ärzte sind da, ist die Kontinuität der Pflege garantiert, usw. Man könnte einen anderen Ansatz wählen und fragen: Wo gibt es die guten Aktivitäten? Lasst uns die unterstützen und sichtbar machen. Es gibt in der Medizin ein paar große Themen, rund acht Krankheitskomplexe. Sie reichen von Herz-Kreislauferkrankungen über Krebs und über Erkrankungen des Bewegungsapparats bis hin zur psychischen Gesundheit. Es wäre sinnvoll, eine Aufteilung der Kompetenzen in diesen Clustern auch für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Es gibt diese Kompetenzaufteilung auch bei uns im Land. Den Professionellen ist sie bekannt, der Öffentlichkeit nicht. Sie aber brauchte Orientierung. Um diese Kompetenzzentren würde sich jeweils eine ganze Reihe medizinischer Spezialitäten gruppieren. Das liegt in der Natur der Sache, denn in den Zentren geht es um Interdisziplinarität und multiprofessionelle Intervision. Wir kommen
damit zu einem ganz anderen Begriff von „Dienst“ im Krankenhaus, und die Frage, ob die eine Klinik künftig zum Beispiel Urologie betreiben sollte und die andere nicht, stellt sich nicht mehr in derselben Optik.

Sind Sie sicher, dass man damit Doppelungen von Aktivitäten beseitigt, die in einem Markt von nur 450 000 potenziellen
Kunden einfach unsinnig sind?

Ich denke schon, dass es zu einer Reduktion in der Breite des Angebots kommen müsste, aber diese Spezialisierung sollte man als Prozess ansehen, der unter Konkurrenzbedingungen abläuft, und den Kliniken überlassen. Die Herausbildung der Kompetenzzentren wird Zeit beanspruchen, ihre Sichtbarmachung hängt wiederum von der Publikation patientenbezogener Resultate ab. Welche Aktivitäten unsinnig sind, ist für mich eine schwierige Frage.

Der Gesundheitsminister muss sie demnächst beantworten.

Letzten Endes geht es auch um Möglichkeiten zur Ausübung der liberalen Medizin. Es ist kein Zufall, dass heute noch in kleinen Kliniken Spezialdienste angesiedelt sind, die nach Geist und Buchstaben des Spitalplans 2001 da eigentlich nicht mehr hingehören. Aber mit welchen Argumenten hätte man sie schließen sollen? Mit welcher Begründung hätte man Ärzten, die über eine Approbation verfügen, die obligatorisch mit der UCM konventioniert sind und ein Agrément an diesen Häusern haben,
die Möglichkeit zur Ausübung ihres Berufes nehmen wollen?

Damit stellt sich eigentlich die Frage, liberale Medizin oder Salariatsmedizin in den Kliniken.

Allgemeiner diese Frage: Welche Möglichkeiten haben wir – abgesehen davon, das immer teurer werdende System zu finanzieren? Entweder wir machen es von oben her immer weiter zu und das legislative Korsett enger. Damit beenden wir nicht nur die liberale Medizin, sondern auch die freie Nutzung medizinischer Leistungen. Das, denke ich, würde unsere Bevölkerung nicht akzeptieren.

Oder wir machen das System unten weiter auf, nehmen die Kliniken in die Verantwortung für Qualität, lassen sie da Ärzte rekrutieren, wo sie ihre besonderen Kompetenzen haben, und die Kompetenzen öffentlich machen. Das bringt, meine ich, ebenfalls Kosteneffizienz.

Passt Ihr Klinikmodell zum Solidarsystem der Krankenversicherung?

Wir brauchen in Zukunft mehr Zusatzversicherungen als heute. Diese Notwendigkeit entsteht jedoch nicht durch das Modell, das ich vorschlage. Das System braucht Luft, nicht strengere Regulierung. Einsparungen bei den Medikamentenkosten durch die Kliniken sind ein großes Thema. Zu Recht, aber Einsparungen werden aufgefressen durch den permanenten medizinischen Fortschritt. 2004 und 2005 zum Beispiel kamen zwei oder drei neue Molekülen für die Chemotherapie zur Krebsbehandlung auf den Markt. Obwohl sie nur bei einer kleinen Zahl von Patienten eingesetzt wurden, reichte das, um alle auf anderen Substanzen gemachten Ersparnisse zu kompensieren. Auf der Quadripartite haben wir letzte Woche erneut gesehen: 50 Prozent aller Medikamentenkosten in Höhe von 35 Millionen Euro betreffen nur 46 Medikamente. Das sind die geschützten, hinter denen patentierte Biotechnologie steckt. Von diesen 46 sind 16 Krebspräparate. Von ihnen machen drei allein fast 16 Prozent der Chemotherapiekosten aus, 1,7 Millionen Euro. Diese Entwicklung wird so weitergehen, wahrscheinlich beschleunigt sie sich sogar.

Wenn wir aber allen Patienten einen gleichberechtigten Zugang zu solchen Therapien garantieren wollen, dann müssen wir uns fragen, ob die Zuständigkeit für kleinere Risiken nicht den Versicherten übertragen werden könnte, beziehungsweise einer Zusatzversicherung. Dass dieser Gedanke eine politische Provokation darstellt, weiß ich. Ich meine allerdings, dass wir nicht daran vorbei kommen, uns damit auseinanderzusetzen.

Peter Feist
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