Wenn Antoine Deltour der Mann ist, der die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht hat, dass multinationale Unternehmen via Luxemburg Steuern sparen, dann ist Raphaël Halet vielleicht der Mann, der die Luxemburger Öffentlichkeit mehr als jeder andere vor ihm darauf hinweist, dass sukzessive Regierungen in ihrem Bemühen, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Souveränitätsnischen auszubauen, die Souveränität des Staats verspielt und die Führung der Staatsgeschäfte an Anwaltskanzleien und Beratungsunternehmen abgegeben haben.
Raphaël Halet, 1976 geboren, hat eine Licence in Kulturprojekten und erledigte in der Steuerabteilung von PWC erst Sekretariats-, dann andere Verwaltungsarbeiten. Als Leiter der Tax-Access-Support-Gruppe hantierte er täglich mit vertraulichen Steuerunterlagen der Kunden des Beratungsunternehmens. Beispielsweise mit ihren Steuererklärungen, die er den Unternehmen zustellte.
Während seiner Aussage im Luxleaks-Prozess erklärte Halet, wie, von seinem Aussichtsposten in der „Logistik“ der Steuerabteilung aus beobachtet, die Rulings zustande kamen. Termine habe der ehemalige Steuerbeamte Marius Kohl wie in einer Arztpraxis vergeben, so Halet am vergangenen Freitag. Regelmäßig seien die PWC-Mitarbeiter jeweils mittwochnachmittags zu Kohl gegangen. Mittwochmorgens seien deshalb bei PWC die Steuervorbescheide gelayoutet worden. Um Zeit und Arbeit für den Steuerbeamten Marius Kohl zu sparen, habe PWC dabei gleich selbst das Briefpapier der Steuerverwaltung benutzt, um die Bescheide zur Unterschrift vorzubereiten. Am frühen Nachmittag seien die Partner dann damit zu Marius Kohl gegangen. Am späten Nachmittag sei ein Großteil davon, „vielleicht die Hälfte“, „vielleicht zwei Drittel“ unterzeichnet zurückgekommen. Bis zu 30 Rulings hätten PWC und Kohl so an einem Nachmittag abwickeln können. Einmal, so Halet, habe er errechnet, dass Kohl für ein Ruling drei Minuten brauchte. „Sie wurden nicht verhandelt.“
Um Marius Kohl weiter entgegen zu kommen, habe PWC darüber nachgedacht, einen gesicherten Server einzurichten, auf den er aus der Distanz hätte zugreifen können. Dies, um zu verhindern, dass Kohl die USB-Sticks verliere, auf denen PWC die eingescannten Rulings übermittelte, erzählte der frühere PWC-Mitarbeiter. Ein Projekt, das nicht umgesetzt wurde.
Den Kunden selbst habe die Support-Gruppe ihre Rulings nicht zuschicken dürfen, so Halet. Was weder er noch die Kunden verstanden hätten: „Die sagten, ich habe so viel dafür bezahlt, ich will mein Ruling.“ Herausgeben durften es die Mitarbeiter nicht. Das Ausstrahlen der Sendung Cash Investigation im Frühjahr 2012 hatte Halets Aussagen zufolge nicht nur negative Folgen für PWC. „Das war wie eine Werbung. Firmen riefen an, um zu sagen, dass sie nicht wussten, dass wir solche Strukturierungen machen könnten.“
So trat das worst case scenario doch noch ein – mehr peinliche Geschichten über die fließbandartige Anfertigung von Rulings, erzählt vor einem Saal voll internationaler Journalisten. Das obwohl der krankgeschriebene Marius Kohl nicht als Zeuge vor Gericht erschien und sein ehemaliger Vorgesetzter, der Direktor der Steuerverwaltung, Guy Heintz, der am Freitag vor Halet als Zeuge aufgerufen war, das Steuergeheimnis, das Beamtenstatut und die Strafgesetzordnung ins Feld führte, um Erklärungen über den Betrieb der Steuerverwaltung insgesamt und das Steuerbüro Sociétés 6 im Besonderen zu verweigern.
Fragt sich, was von Halets Aussagen zu halten ist. Denn anders als Antoine Deltour, der bisher in seinen Aussagen und Stellungnahmen sehr kohärent ist, der beim Untersuchungsrichter, vor Gericht, bei öffentlichen Auftritten und in Interviews immer den gleichen Ablauf der Ereignisse geschildert hat, ist Halet eher ein Wackelkandidat. Und überhaupt eine ganz andere Persönlichkeit. Neben dem schmächtigen, schüchternen Deltour, der sich sehr überlegt und gewählt ausdrückt, kommt Halet ein wenig wie ein Hallodri daher, der die Stimmung in der Steuerabteilung bei PWC nach den Medienenthüllungen mit „c’était le bordelle“ beschreibt. Sein G-Mail-Konto nannte er centmilledollarsausoleil@gmail.com, nach einem Film aus dem Jahre 1964, in dem Jean-Paul Belmondo als Rocco einem zwielichtigen Transportunternehmer einen Lastwagen samt 100 000-Dollar-Ladung klaut und sich dann mit seinen Verfolgern ein Rennen durch die Wüste liefert. Das Passwort zum E-Mail-Konto, auf dem er dem Journalisten Edouard Perrin die 16 Steuererklärungen abspeicherte, lautete „Louis de Funes“.
Das Passwort hatte er dem französischen Gerichtsvollzieher gegeben, den PWC kurz nach Luxleaks bei ihm vorbeigeschickt hatte und dessen Protokoll an die Schweigevereinbarung angeheftet ist, die Halet Anfang Dezember 2014 mit PWC unterzeichnete. Dem Gerichtsvollzieher hatte Halet, der sich jetzt als Whistleblower darstellt, der durch die Sendung Cash Investigation einen „Elektroschock“ erhalten habe, gesagt, er habe kein politisches Motiv gehabt, habe vielmehr mit dem Journalisten Edouard Perrin Kontakt aufgenommen, um herzauszufinden, wer der erste Maulwurf gewesen sei. Dass er dem Internationalen Journalistenkonsortium ICIJ nach Luxleaks in einer E-Mail mit den Worten „good job“ gratulierte, stellte er da als „Witz“ dar. Doch da stand Halet unter großem Druck: PWC drohte ihm mit Schadensersatzforderung in Höhe von zehn Millionen Euro, einer Hypothek auf seinem Haus und ließ ihn ein Affidavit, eine eidesstattliche Erklärung für die amerikanischen Anwälte von PWC unterzeichnen, und stellte somit Klagen in den USA in Aussicht.
Während seiner Aussage am Freitag nahm Halet einen Großteil der Erklärungen zurück, die er beim Untersuchungsrichter gemacht hatte, wo er zu Protokoll gegeben hatte, Edouard Perrin habe ihn nach bestimmten Unterlagen gefragt. Hätte er das nicht getan, säße Perrin jetzt wahrscheinlich nicht als Mittäter auf der Anklagebank.
Dennoch – die Anwälte von PWC standen am Freitag nicht auf, um die Aussagen von Halet in Bezug auf die Vorgänge in der Steuerabteilung in Zweifel zu ziehen. Während ihres Plädoyers am Mittwoch relativierten sie seine Darstellung, jeden Mittwoch seien Dutzende neue Rulings erstellt und ohne vorherige Verhandlungen abgezeichnet worden. Was die Fragen offen lässt, wieso PWC über das Briefpapier der Steuerverwaltung verfügte, wieso PWC für den Beamten der Steuerverwaltung Marius Kohl Unterlagen scannte und wieso die Kunden ihre eigenen Rulings nicht erhalten durften?
Kalt gelassen haben Halets Aussagen die Steuerberatungsbranche nicht. Es gibt darin solche Akteure, die stinksauer sind und vom Land befragt motzen: „Ja, ja, den Stempel und die Unterschrift haben wir auch noch selber drauf gemacht.“ Es gibt solche, die schockiert sind, und meinen, das habe es bei ihnen nicht gegeben, dass die Rulings gescannt und auch elektronisch zur Archivierung zur Verfügung gestellt wurden, und bestreiten, das Briefpapier zwecks schnellem Layout gehabt zu haben. Und es gibt solche, die gegenüber dem Land meinen, „alle Big 4 hatten es“. Die Beratungsunternehmen hätten sozusagen die Sekretariatsarbeiten für Marius Kohl übernommen, die Briefe aufgesetzt, da er selbst keine Sekretärin hatte. Mit dem Inhalt habe dies nichts zu tun gehabt. „Es war nicht so, dass wir selbst die Rulings ausstellten.“ Zwar habe es durchaus, wie von Raphaël Halet beschrieben, fixe Termine gegeben. Doch zur Unterschrift vorgelegt habe man nur Vorbescheide, die, je nach Komplexität, in den Wochen oder Monaten vorher diskutiert worden seien, um alle „issues“ zu beseitigen. War das der Fall, konnte Marius Kohl recht schnell seine Unterschrift und seinen Stempel auf den vorbereiteten Brief setzen. Halet habe in seiner Funktion nur einen Ausschnitt des gesamten Prozesses gesehen, geben PWC-Wettbewerber zu bedenken. Das mache seine Aussagen nicht unwahr. Sie lieferten aber ein unvollständiges Bild. An einer Sitzung mit Marius Kohl habe er nie teilgenommen, bestätigte Raphaël Halet vor Gericht.
Immerhin fielen logistische Arbeiten wie Briefe aufsetzen und scannen durchaus in seinen Zuständigkeitsbereich – da dürfte Halet durchaus einschätzen können, ob er nicht nur der Steuerabteilung von PWC, sondern auch der Steuerverwaltung selbst „Support“ gegeben hat. Dass der Steuerbeamte Marius Kohl diese Unterstützung dringend brauchte, wird in der Branche nicht bestritten.
Durch die vielen Neugründungen von Soparfis habe sich die Arbeitsbelastung im Steuerbüro Sociétés 6 während Kohls Zeit verdoppelt, erklärt ein Berater. Der Personalbestand sei nicht entsprechend aufgestockt worden, obwohl Marius Kohl nach Unterstützung verlangt habe.
Seit 2014 macht auch die Steuerverwaltung selbst auf der ersten Seite ihres Jahresberichts auf die personelle Schieflage aufmerksam. Was die Zustände in der Unternehmensbesteuerung betrifft, schreibt die ACD im Jahresbericht 2015, dass die Zahl der steuerpflichtigen Unternehmen binnen fünf Jahren um 15 Prozent auf 96 708 anstieg. 2002, also zehn Jahre vor der Sendung Cash Investigation, hatten Marius Kohl und seine Kollegen 44 083 Firmen zu besteuern, im Schnitt eine Arbeitslast von über 410 Dossiers pro Beamten. Vergangenes Jahr musste jeder Beamte durchschnittlich über 1 200 Firmen besteuern. Eigentlich hat sich die Arbeitsbelastung für die Beamten also nicht verdoppelt, sondern verdreifacht.
Auf vier bis fünf Besteuerungen täglich rechnet das ein Berater runter. Nicht zu schaffen, wenn der betreffende Beamte selbst die Briefe aufsetzen müsse und kein elektronisches Archivsystem zur Verfügung habe. Zwar sind die Originale jeweils auf Papier im jeweiligen Steuerdossier, doch elektronisch könne die Steuerverwaltung zwischen 20 und 25 Prozent der Rulings nie mehr wiederfinden, schätzt ein Berater. Weil im USB-Stick-Liefer-System doch manches verloren gegangen sei.
Zu gerne hätten ausländische Journalisten dem Steuerbeamten Marius Kohl Korruption nachgewiesen. Obwohl ihnen unverständlich ist, dass Kohl die Situation nicht ausgenutzt hat, um sich selbst zu bereichern, ist es bisher niemandem gelungen, einen Anhaltspunkt dafür zu finden. Doch wenn stimmt, was Halet vergangenen Freitag vor Gericht beschrieb und was auch andere Steuerberater – eigentlich entgegen ihrer eigenen Interessen – einräumen, geriet Kohl in eine Situation, in der er darauf angewiesen war, die Dienste Dritter unentgeltlich in Anspruch zu nehmen, um den Betrieb der Steuerverwaltung zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass Steuern erhoben wurden.
Deshalb fragt auch der eine oder andere kritische Steuerberater nach der politischen Verantwortung dafür, dass die Steuerbeamten und insbesondere Marius Kohl mit einer wachsenden Zahl an Akten allein gelassen wurden. Auf seinem Mobilanschluss auf einer Schweizer Autobahn unterwegs erreicht, erklärt dazu der ehemalige Finanzminister Luc Frieden (CSV), dass „die Steuerverwaltung in den Jahren, in denen ich Finanzminister war, im Rahmen einer ganz restriktiven Haushaltspolitik neues Personal bekommen hat“. Die Zahl der Steuerpflichtigen sei schnell gewachsen. Aber alle Verwaltungen, auch die Polizei und die Justiz hätten mehr Personal gebraucht. „Das ist nichts Neues und kein spezifisches Problem des Steuerbüros Sociétés 6.“ Doch während die Zahl der Mitarbeiter der Steuerverwaltung zwischen 2002 und 2015 von 559 auf 663 beziehungsweise 589,5 Vollzeitarbeitskräften anstieg, stieg die Zahl der für die Besteuerung von Firmen zuständigen Mitarbeiter im gleichen Zeitraum von 107 auf 109,5. Luc Frieden, sagen Beobachter, sei bei seinen Sparanstrengungen darauf bedacht gewesen, mit gutem Beispiel voranzugehen habe in seinen eigenen Ministerien und Verwaltungen nicht gerne viel neues Personal eingestellt.
Den laufenden Prozess will der ehemalige Finanzminister nicht kommentieren und er wisse nicht, ob die während des Prozesses geäußerten Angaben stimmten. Doch: „Ich meine nicht, dass jemand anderes als eine Verwaltung deren Briefpapier haben kann.“ Gewusst habe er davon auf jeden Fall nichts.
Inwiefern die von Raphaël Halet beschriebenen vermeintlichen Zustände in der Steuerverwaltung bewusst hingenommen wurden, weil der fleißige Steuerbeamte Marius Kohl im internationalen Wettbewerb um Investitionen einen diskreten, aber effizienten Standortvorteil darstellte, darüber debattieren internationale Medien und das Europaparlament seit Luxleaks. Diese Zustände sind aber auch, worauf Luc Frieden richtig verweist, Symptom des schnellen Wachstums Luxemburgs in den vergangenen Jahren. Des schnellen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums. Und der Ausbeutung der Souveränitätsnischen. Und davon, dass es dem Staat mitunter etwas zu schnell geht, um noch die Kontrolle zu behalten. Vor genau diesem Kontrollverlust hatte schon der ehemalige Wirtschaftsminister und LSAP-Abgeordnete Jeannot Krecké auf der berühmten fehlenden Seite seines Berichts aus dem Jahr 1997 gewarnt. Ist Luxemburg also ein „Unrechtsstaat“, wie manche ausländische Politiker meinen? Oder ein gescheiterer Staat? Oder eine Mischung von beidem?
Dass die Behörden auch an anderer Stelle Mühe haben, mit dem Wachstum Schritt zu halten, lässt sich auch bei der CSSF Stelle beobachten. In seiner knapp siebenjährigen Amtszeit bei der CSSF hat der ehemalige Direktor Jean Guill den Personalbestand der Aufsichtsbehörde für den Finanzsektor verdoppelt. Kurz vor seinem Amtsantritt hatte Finanzminister Luc Frieden noch mit der Geschäftsfreundlichkeit der CSSF geworben – „business friendly“ nannte er die Finanzaufsichtsbehörde wenige Monate vor dem Kollaps europäischer Bankkonzerne wie Fortis und Dexia und dem Madoff-Skandal. Vor seinem Eintritt in den Ruhestand erklärte Jean Guill Anfang dieses Jahres, zur Überwachung der Investmentfondsbranche mit ihren abertausenden Fondskompartimenten und Billionen an Anlagevermögen würde weiteres Personal gebraucht.
Guills Nachfolger Claude Marx schickt den Banken in der Folge der Panama Papers Fragebögen zu, droht mit Kontrollen und Sanktionen, falls sie ihrer Pflicht, Kunden und wirtschaftliche Nutznießer von Firmen richtig zu identifizieren, vernachlässigt haben sollten. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die EZB, die seit Inkrafttreten des Gemeinsamen Aufsichtsmechanismus oberste Bankenaufseherin in der Eurozone ist, sich aber darauf beschränkt, die größten Banken selbst zu überwachen und die Kontrolle der kleinen Finanzinstitute den nationalen Aufsichtsbehörden überlässt, den nationalen Behörden genau diese Kompetenz jederzeit entziehen kann, wenn die Kontrolle nicht sorgfältig durchgeführt wird. Das wäre ein einschneidender Souveränitätsverlust, der viel sichtbarer wäre, als die schleichende Übergabe der Staatsgeschäfte an Geschäftsanwälte und Firmenberater, die Gesetzentwürfe redigieren, Expertisen und Audits aufstellen, im Rahmen von spending reviews die Haushaltspolitik beeinflussen, empfehlen, wo der Staat den Rotstift ansetzt, und wie sich im Luxleaks-Prozess offenbart, kriminalpolizeiliche Ermittlungen durchführen beziehungsweise Sekretariatsarbeiten für die Verwaltungen leisten.