Zahlreich waren sie erschienen: Politiker, Journalisten, Beamte, Bürger, um für die Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Einige waren sprachlos, manch einer weinte. Alle waren sich einig: Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das es zu schützen gilt. Das war am 8. Januar, einen Tag zuvor hatten islamistische Terroristen die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris angegriffen und zwölf Menschen ermordet. Kurz darauf hatte ein anderer Terrorist einen jüdischen Supermarkt überfallen und dort weitere vier Menschen getötet.
Heute, fast drei Monate später, ist von der proklamierten Unterstützung für die Meinungsfreiheit nicht mehr viel zu sehen, sie scheint in der politischen Auseinandersetzung zunehmend unter die Räder zu geraten. Wie sonst ist zu erklären, dass ein Minister seinen Beamten Redeverbot erteilt, zu einem Dokument Stellung zu beziehen, das bereits veröffentlicht ist? Es geht um den Rahmenplan zum geplanten neuen Werteunterricht, der, kaum dass er veröffentlicht wurde, für hitzige Kontroversen sorgte. Vier Ethiklehrer meldeten sich nach dem Leak am schnellsten und sprachen von einem Etikettenschwindel. Die Regierung sei insbesondere dem Bistum entgegengekommen, die Forderungen und Warnungen der Ethiklehrer und der laizistischen Organisationen seien dagegen weitgehend ignoriert worden, so ihr Vorwurf. Bildungsminister Claude Meisch (DP) verbat ihnen daraufhin künftig jegliche öffentliche Stellungnahme und verwies, unter Androhung disziplinarischer Konsequenzen, auf das Amtsgeheimnis, das nicht gebrochen werden dürfe.
Dass die Befürchtungen der Ethiklehrer berechtigt waren, zeigte sich daran, dass das Ministerium den Text nach der heftigen öffentlichen Kritik zu Gunsten von mehr Philosophie abänderte – und die Kirche den Rahmenplan danach immer noch akzeptierte. Was die Frage aufwirft, warum der Minister nicht von vornherein einen ausgewogeneren Text vorgelegt hat. Glaubt man Meischs Erklärungen, kann es der Einfluss der Kirche nicht gewesen sein; der Rahmenplan – sowie eventuelle Vorentwürfe – waren nicht Gegenstand des Abkommens mit der Kirche, beteuert der Minister.
Dem Redeverbot für die Beamten folgte kaum ein öffentlicher Aufschrei. Es wurde weitgehend achselzuckend zur Kenntnis genommen, lediglich der Kreis der laizistischen Organisationen wagte Kritik. Dabei ist es, als generelles Verbot gesprochen, bemerkenswert. Lehrer sind Beamte und unterstehen als solche dem Amtsgeheimnis. Als Mitglieder einer Arbeitsgruppe kann der Minister nach aktuellem Recht von ihnen verlangen, dass interne Dokumente nicht weitergegeben werden. CGFP-Generalsekretär Romain Wolff unterstreicht die Pflicht des Beamten, Internes nicht auszuplaudern oder zu kommentieren.
Eine gewisse Loyalität gegenüber seiner Politik als Dienstherrn darf ein Minister verlangen. Manipulation oder Sabotage eines politischen Vorhabens durch das gezielte Zuspielen von Informationen an die Medien kann disziplinarisch belangt werden. Doch kann ein Minister seinen Beamten versagen, persönlich Position zu einem Papier zu beziehen, das bereits bekannt ist, das sein Ministerium selbst veröffentlicht hat? Beamte müssen zwar ein gewisses Maß an Zurückhaltung üben, aber sie sind auch Bürger und genießen als solche grundsätzlich das Recht, sich frei zu äußern, solange sie dies nicht diffamierend tun. Wäre es nicht sogar im Interesse der Öffentlichkeit, in einer gesellschaftlich so wichtigen Frage wie dem Stellenwert von Religionen in der öffentlichen Schule die Position von Experten zu kennen?
Unabhängig von der juristischen Bewertung ist interessant, dass gerade eine Regierung, die von sich behauptet, für einen neuen transparenten und partizipatorischen Stil zu stehen, Kritikern ihrer Politik lieber den Mund verbietet, als unbequeme Widerworte auszuhalten und ihnen mit Sachargumenten zu begegnen. Das gelingt freilich dann am ehesten, wenn man nicht unter massivem Druck steht und dem Gegner bestenfalls nachweisen kann, dass er falsch liegt. Aber dafür müsste der Streitgegenstand offen liegen und bekannt sein.
Die Meinungsfreiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, den berühmten Satz schrieb Rosa Luxemburg – allerdings ist diese Freiheit zu gewähren keine leichte Übung. Der Wechsel von der Oppositionsbank, die naturgemäß ganz im Zeichen der (mitunter schonungslosen) Regierungskritik steht, in souveränes Regierungshandeln will gelernt sein. Zum Glück für die DP kämpft auch die größte Oppositionspartei CSV noch immer damit, ihren Platz im veränderten Machtgefüge zu finden und bekleckert sich dabei nicht eben mit Ruhm: In der Affäre um die vorzeitig veröffentlichten Prüfungsfragen zur Orientierung in die Sekundarstufe erwägen die christlich-sozialen Abgeordneten Martine Hansen und Félix Eischen rechtliche Schritte gegen den Schulminister, weil dieser laut über ihre mögliche Komplizenschaft bei School-Leaks nachdenkt. Wörtlich sagte Claude Meisch gegenüber Le Quotidien: „J’ai dit, vendredi, que soit le CSV avait été piégé par les auteurs de ces fuites, soit les deux députés étaient complices de la mise en scène de ces fuites.“ Die Abgeordneten der Opposition sahen sich durch den Vorwurf der Komplizenschaft mit Lehrern, die Testfragen unbefugt weitergegeben haben sollen, in ihrer Ehre getroffen, luden flugs zur Pressekonferenz, zu der sie mit ihrem Anwalt erschienen. Dort forderten sie eine Entschuldigung und behielten sich juristische Schritte vor.
Man kann das Räsonnement des DP-Ministers hinterfragen, der erstaunlich schnell die Opposition attackierte, anstatt sich mit ihr inhaltlich auseinanderzusetzen. Inzwischen geht es weder um die Verantwortung der Lehrer und Eltern (Wer hatte Zugang zu den Fragen? Gab es ähnliche Fälle in den Vorjahren? Wie groß sind die Sicherheitslücken?), noch geht es darum, ob es die Vertraulichkeit wirklich fördert, wenn geheime Testfragen vor dem eigentlichen Prüfungstag an 200 Personen geschickt werden, obwohl diese sie frühestens im April brauchen. Seitdem RTL Hansens und Eischens Frage, wie der Bildungsminister gedenke zu verhindern, dass die Testfragen nicht vorzeitig publiziert werden, als „scheinheilig“ bezeichnete, gilt das allgemeine Interesse dem oder der anonymen Hinweisgeber/in der CSV und einer vermeintlichen Mitwisser- oder Mittäterschaft. Die Frage, ob seitens der Organisatoren der Prüfungen alles getan wurde und wird, damit sich solche Leaks nicht wiederholen, interessiert offenbar außer déi Lénk, die angefragt haben, den Schulminister im zuständigen Parlamentsausschuss anzuhören, niemand mehr. Die CSV hat spätestens mit ihrem überzogenen Presseauftritt ihre Rolle in dem Polit-Theater angenommen.
Doch sollten Hansen und Eischen mit ihrer Drohung Ernst machen und den Minister verklagen, dürften sie mit ihrem Anliegen nicht weit kommen. Ehrenrührig waren die Aussagen Meischs vielleicht, um ihn aber wegen Beleidigung, Verleumdung oder übler Nachrede zu belangen, muss ein reeller Schaden entstanden sein – und der dürfte unter den gegebenen Umständen kaum nachzuweisen sein. Dass im politischen Geschäft der Ton rauer ist, dass scharfe und polemische Äußerungen fallen und Dinge zugespitzt werden, müssen Politiker wohl oder übel hinnehmen. Das hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg bereits in früheren Urteilen zur Meinungsfreiheit gegenüber Politikern so gesehen. Dass Minister und Staatspräsidenten sich nicht zwangsläufig neutral und fair verhalten müssen, unterstrich das Bundesverfassungsgericht, als es die Äußerung von Bundespräsident Joachim Gauck, NPD-Anhänger seien Spinner, durch die Meinungsfreiheit gedeckt sah. In einem ähnlichen Fall hatte die rechtsextreme Partei vergeblich dagegen geklagt, dass die SPD-Familienministerin Manuela Schwesig im Thüringer Wahlkampf dazu aufgerufen hatte, Ziel Nummer 1 müsse sein, dass die NPD nicht in den Landtag komme. Beide Urteile zeigen, dass für die Einschränkung der Meinungsfreiheit gewichtige Gründe vorliegen müssen.
Doch es sind nicht nur politische Parteien, die sich mit der Meinungsfreiheit schwer tun. Am 13. März fällte ein Luxemburger Gericht ein Urteil in der Srel-Affäre. Der hochrangige Ex-Geheimdienstmitarbeiter Frank Schneider hatte den grünen Abgeordneten und damaligen Präsidenten des Geheimdienstkontrollausschusses in der Abgeordnetenkammer, François Bausch, wegen übler Nachrede und Ehrverletzung auf Schadensersatz in Höhe von 500 000 Euro verklagt. Bausch habe in seinem Blog vertrauliche Informationen zu Schneider aus dem Srel-Untersuchungsausschuss weitergegeben und somit gegen seine Verpflichtung zur Geheimhaltung und zur Neutralität verstoßen.
Der Urteilsspruch erfuhr ein großes mediales Echo, aber kritisch analysiert wurde es kaum. Erstmals wurde ein Politiker für angeblich ehrabschneidende Äußerungen verurteilt, weil er sich auf seinem Blog zu dubiosen Aktivitäten eines Ex-Srel-Beamten geäußert hatte. Doch die meisten Informationen, die Bausch in seinem Eintrag politisch eingeordnet und kommentiert hatte, waren bereits zuvor in zwei Artikeln – dem Forum und dem Lëtzebuerger Land – publiziert worden. Bausch schrieb nicht über irgendeinen, sondern über eine viel mediatisierte Schlüsselfigur der Srel-Affäre. Schneider soll sein geheimdienstliches Insiderwissen später für den Auf- und Ausbau der Sicherheitsfirma Sandstone benutzt haben, gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren. Bausch schrieb seine Analyse auch nicht im luftleeren Raum, sondern es ging bei der Srel-Affäre um eine der größten Staatsaffären, die Luxemburg in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte – und über die schlussendlich die schwarz-rote Regierung fallen sollte.
Doch dieser brisante politische Kontext scheint die Richter bei ihrer Würdigung des Falls nicht sonderlich interessiert zu haben. Jedenfalls gingen sie in ihrem Urteil nur am Rande darauf ein. Stattdessen beharrten sie darauf, dass Bausch unbefugt Interna aus dem Untersuchungsausschuss veröffentlicht und somit gegen die Geheimhaltungspflicht verstoßen habe. Laut Chamber-Reglement werden Verstöße gegen die Geheimhaltungspflicht disziplinarisch verfolgt. Doch gegen Bausch wurde nie ein disziplinarisches Verfahren eröffnet. Macht nichts, so die Richter, das verhindere nicht, dass sich der Politiker zivilrechtlich verantworten müsse. Sie verdonnerten Bausch zu einer Strafe von einem symbolischen Euro für den entstandenen immateriellen Schaden und zur Übernahme von 750 Euro Prozesskosten. Mit der Folge, dass das Urteil, sollte es Bestand haben, eine Signalwirkung für andere Politiker haben könnte und für ihre Freiheit, sich zu politischen Sachverhalten und Affären zu äußern. Wohlgemerkt, es handelt sich um ein Grundrecht in einem demokratischen Rechtsstaat, das unter anderem dort seine Grenzen findet, wo die Privatsphäre eines Einzelnen grundlos verletzt, wo einer Person Unwahres nachgesagt wird und sie zu Schaden kommt. Aber über die Wahrhaftigkeit von Bauschs Eintrag haben die Richter gar nicht befunden, sie stören sich grundsätzlich an den Äußerungen.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg setzt hohe Hürden, wenn es darum geht, die Meinungsfreiheit in der politischen Debatte einzuschränken. Etwa in ihrem Urteil von 2007 in der Affäre um das Buch Les Oreilles du président zweier französischer Journalisten. Sie waren vom französischen Staat verklagt worden, weil sie vertrauliche Informationen verwendet und so die „Élysée-Lauschaktionen“ aufgedeckt hatten, ein weitverzweigtes illegales System des Abhörens von Telefongesprächen, das vom höchsten Amt des französischen Staats in die Wege geleitet wurde und sich gegen zahlreiche Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, darunter Journalisten und Rechtsanwälte, richtete. Die hohen Richter stellten fest, das Thema des 1996 veröffentlichten Buchs betreffe eine Diskussion von beträchtlichem allgemeinem Interesse. Daher habe die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse gehabt, informiert zu werden und sich zu informieren. Ihr Recht auf Information wog schwerer als die Verletzung des Untersuchungsgeheimnisses durch die Journalisten.
Bauschs Anwalt Pierre Hurt hatte ähnlich argumentiert und in seinem Plädoyer die Tragweite der Srel-Affäre unterstrichen, bei der es um illegale Abhöraktionen durch den Staat, das tausendfache Bespitzeln von politisch als verdächtig eingestuften unbescholtenen Bürgern und nicht zuletzt um die Bespitzelung des Premierministers ging. Bauschs Stellungnahme habe sich auf „une question d’intérêt public et politique de la plus haute importance“ bezogen. Zumal es um Informationen gegangen sei, die nicht das Privatleben Frank Schneiders betrafen, sondern seine berufliche Funktion. Hurts Einwurf blieb ohne Erfolg.
Umso erstaunlicher, dass das Urteil bisher kaum Reaktionen ausgelöst hat, sondern von der Politik stillschweigend hingenommen wird. Dabei geht es um ihr Recht und um die Freiheit von Politikern allgemein, sich zu politischen Sachverhalten und Skandalen zu Wort zu melden, ebenso wie um das Recht der Öffentlichkeit, sich zu informieren. Vielleicht zeigen das betretene Schweigen in der Bausch-Schneider-Streitsache einerseits und der übermäßige Lärm des Meisch-CSV-Schlagabtauschs andererseits, wie schwer es Politik und Gesellschaft fällt, mit Kontroversen, Fundamentalkritik und peinlichen Enthüllungen umzugehen, kurz: wie schwach entwickelt das Bewusstsein für die Bedeutung der Meinungsfreiheit und dem Zugang zu Informationen trotz anders lautender Beteuerungen und publikumswirksamer Solidaritätsbekundungen noch immer ist.