Drei Monate nach der Flucht eines Gefangenen aus der neuro-psychiatrischen Klinik in Ettelbrück (CHNP) ist noch immer keine Lösung in Sicht, was mit psychisch kranken Rechtsbrechern in Luxemburg künftig geschehen soll. Daran änderte auch das vom CHNP organisierte Expertengespräch Kriminalität und/versus Psychiatrie am Mittwoch nichts.
Die Fakten sind bekannt: Ein Großteil der rund 650 Gefangenen in der Schrassiger Haftanstalt ist drogensüchtig, nicht wenige von ihnen weisen gefährliche Persönlichkeitsstörungen auf und sind dringend behandlungsbedürftig. Doch auch zehn Jahre nach dem so genannten Bernheim-Bericht lässt die psychologisch-psychiatrische Versorgung dort noch immer zu wünschen übrig. Nachdem die Zahl der Selbstmorde rapide angestiegen war, hatte der damalige Justizminister Marc Fischbach ein Gutachten über die Haftbedingungen und psychosoziale Betreuung in Auftrag gegeben.
Zwischen damals und heute „liegen Welten“, betont Marc Mathekowitsch aus dem Justizministerium. Seitdem sei viel in die Verbesserung investiert worden. Weil der Bernheim-Bericht aber nie veröffentlicht wurde und eine systematische Evaluation fehlt, ist unklar, inwieweit die Therapie- und Resozialisierungsangebote tatsächlich besser geworden sind. Das Personal im Schrassiger Gefängnis wurde aufgestockt, aber noch im April kritisierte Fischbach, nun Om,budsmann und vom Justizministerium mit der Kontrolle der Haftbedingungen beauftragt, die psychosoziale Versorgung im Gefängnis als unzureichend. Im psychosozialen Dienst kommt auf 75 Gefangene ein Mitarbeiter internationale Normen sehen einen Personalschlüssel von 1:25 vor. Nicht viel besser steht es um die psychiatrische Versorgung: Drei Psychiater aus dem CHNP kümmern sich um das Wohl der Inhaftierten, davon einer auf Ganztagsbasis, einer halbtags und ein dritter einige Stunden wöchentlich.
Doch die Grundsatzfrage, ob das Gefängnis überhaupt ein geeigneter Ort ist für Psychotherapie und psychisch Kranke, ist nach wie vor unbeantwortet. Außer der profanen Erkenntnis, dass dieselbe Frage auch in den Nachbarländern für hitzige Auseinandersetzungen zwischen Richtern, Psychiatern und Politikern sorgt, sowie der Zusicherung von CHNP-Direktor Jo Joosten, man sei „weiterhin bemüht, diese Art von Fragen zu beantworten“ und man bleibe „Partner einer Lösung“, brachte die mit namhaften Psychiatrie-Experten aus Belgien, Frankreich und Deutschland hochklassig besetzte Konferenz nichts Neues. „Wir diskutieren das Problem seit über 30 Jahren, aber es passiert nichts“, ärgerte sich ein enttäuschter Zuhörer.
So wird es wohl noch weitergehen, denn die verschiedenen Akteure spielen sich den Ball munter weiter zu. Nach der Flucht eines weiteren psychisch kranken Rechtsbrechers aus dem CHNP schlug Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo (LSAP) Anfang Juni zwei alternative Lösungen vor: Gefährliche psychisch kranke Rechtsbrecher könnten in einer Sonderstruktur in Schrassig untergebracht werden, vorausgesetzt, die bestehenden Therapiemöglichkeiten würden „um einiges“ intensiviert, sagte der Minister dem Wort. Zumindest die Expertise in Sicherheitsfragen ist dort vorhanden, im CHNP müsste sie erst mit viel Geld aufgebaut werden. Denkbar wäre, so Gefängnisleiter Theis gegenüber dem Land, „ein Modus wie bei der Gefängniswäscherei“. Dort ist das Gefängnis für die Sicherheit zuständig, nicht aber für die Inhalt und Konzepte.
Psychiater warnen jedoch davor, psychisch kranke Rechtsbrecher mit anderen Häftlingen unterzubringen. Auch sie haben ein Recht auf bestmögliche Versorgung und Resozialisierung, so Wolfgang Werner, langjähriger ärztlicher Direktor des saarländischen psychiatrischen Landeskrankenhauses, der sich dafür aussprach, die Betroffenen möglichst nah der Allgemeinpsychiatrie unterzubringen und vor einer Politik des „in dubio pro securitate“ warnte. „Man lernt kein soziales Verhalten im Gefängnis“, pflichtet ihm der Luxemburger Psychiater Marc Graas bei. Dass ein Gefängnisaufenthalt psychische Krankheiten verstärken, sogar verursachen kann, haben zahlreiche Studien beweisen. Bleibt das CHNP, das laut Gesetz von 2000 für nicht zurechnungsfähige Straffällige zuständig ist, aber dessen Sicherheitsstandards für gefährliche Mehrfachtäter erwiesenermaßen nicht genügen.
Die Alternativen sind also klar, trotzdem ist außer ein paar Briefen zwischen dem Justiz- und dem Gesundheitsministerium nichts geschehen. Die Gespräche seien im Gange, man warte auf Vorschläge vom CHNP, so Roger Consbruck aus dem Gesundheitsministerium. Man könne der Klinik nicht vorschreiben, wie sie die Betreuung zu organisieren hätte. Die CHNP-Psychiater wehren sich gegen den Vorwurf: Das Ministerium müsse zunächst die Mittel bereitstellen, sagten sie am Rande der Konferenz. Allerdings sind auch sie nicht einig, welche psychisch kranken Rechtsbrecher das CHNP aufnehmen kann. Die Furcht vor einer erneuten Stigmatisierung durch Negativschlagzeilen ist offenbar groß.
Dabei wächst der Handlungsdruck: Spätestens wenn die geplante Sicherungsverwahrung von Sexualstraftätern und anderen besonders gefährlichen Gewalttätern kommt, muss ein sorgfältig durchdachtes Unterbringungs- und Betreuungskonzept her. Dass sie kommt, ist so gut wie sicher, entsprechende Pläne des Justizministerium wurden erst kürzlich publik. In Deutschland gibt es die Sicherungsverwahrung, das französische Parlament verabschiedete ein ähnliches Gesetz Anfang 2008. Psychiater hatten die Neuregelung kritisiert und fehlende Therapiemöglichkeiten für Sexualstraftäter beklagt. Ein erstes Behandlungszentrum ist für den Herbst geplant.
Im Luxemburg dreht sich die Diskussion derweil im Kreis. „Weil es keine gute Lösung gibt, sondern nur viele schlechte, überlegen wir weiter“, fasst Theis den Unmut vieler über den Dauerstillstand in Worte.