Berufsausbildung

Bildung und Ausbildung

d'Lëtzebuerger Land vom 27.03.2015

Aly Schroeder war ein freundlicher, bescheidener Mann. Wie alle, die statt einer Krawatte eine Fliege tragen, wollte er ein winziges Zeichen setzen, dass er zwar dazugehört, aber doch ein wenig anders ist. Denn Aly Schroeder war das älteste von sechs Kindern einer Schreinermeisterfamilie aus Niederdonven bei Flaxweiler. Er kam einen Monat nach der Befreiung von der deutschen Besatzung zur Welt, und in den Jahren danach war es noch nicht selbstverständlich, dass ein Schreinersohn vom Dorf das Knabenlyzeum auf dem Limpertsberg besuchte, das damals noch Industrie­schoul genannt wurde. Oder gar, dass er, als erster Akademiker in der Familie, in Nancy und Bonn Französisch und Deutsch studierte. Dafür blieb er ein Leben lang der öffentlichen Schule dankbar und verteidigte sie. Ein Jahr vor dem großen Jahr 1968, nach dem nichts mehr sein sollte wie zuvor, wurde er Lehrer an der École des arts et métiers.

Aly Schroeder war auch Sozialist. Einer von jenen, die seit jeher eine der Stärken der LSAP bildeten, die zurecht glaubten, dass der soziale Aufstieg über die Bildung führe, und zu unrecht glaubten, dass Bildung für alle somit die gesellschaftlichen Unterschiede beseitige. Als emsiger Militant, dem man auch bei den heute unter den Technokraten an der Parteispitze als unwürdige Ochsentour verpönten Grillfesten begegnete, war er nicht nur Kommunalpolitiker, sondern sogar eine Legislaturperiode lang Ostabgeordneter.

Doch Aly Schroeders große Stunde, auf die er und andere Bildungsreformer in der LSAP so lange gewartet hatten, war 1974 gekommen, als die Nachwehen von 1968 die sozialliberale Reformkoalition an die Macht gebracht hatten. Nun wollten sie endlich ernst mit dem machen, was sie Chancegläichheet nannten, ein Bildungssystem aufbrechen, das Bürgerkinder ins Kolléisch und Arbeiterkinder in die Léierbud schickte. Ihr verwegenster Angriff auf das Bildungsprivileg sollte die Einführung einer Gesamtschule, des Tronc commun sein, den eine heilige Allianz konservativer Politiker, Lehrer, Eltern und Unternehmerverbände zurückschlagen konnte und dann auch von der in die Regierung zurückgekehrten LSAP aufgegeben wurde.

Der Schreinermeistersohn mit der Fliege war 1974 unter LSAP-Erziehungsminister Robert Krieps ins Erziehungsministerium gewechselt und sollte sich drei Jahrzehnte lang um die Berufsausbildung kümmern, ein von Bildungsexperten und Bildungsreformern mit Krawatte oft vernachlässigter Bereich. Er war maßgeblich an der von der Handwerkskammer heftig bekämpften Reform der Berufsausbildung beteiligt, die wenige Tage vor der Abwahl der DP/LSAP-Koalition verabschiedet wurde. Sie fasste die disparate Berufsausbildung unter der Aufsicht des Erziehungsministeriums zusammen und überführte die Mittelschulen in den Sekundarunterricht, um dem Recht der Betriebe auf ausgebildete Arbeitskräfte das Recht der Lehrlinge auf Bildung zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit gegenüberzustellen. Denn was als duale Ausbildung in Schule und Betrieb gelobt wird, war stets auch ein Machtkampf zwischen dem Staat, den Privatbetrieben und den Berufskammern um die Fragen: Wer entscheidet über die theoretische Ausbildung in der Schule? Wer entscheidet über die praktische Ausbildung im Betrieb? Wer entscheidet über die abschließende Prüfung der Ausgebildeten? Einig war man sich nur, dass die Auszubildenden nichts zu entscheiden hatten.

Weil sie die Reform für schwerfällig und ungeschickt hielten und fürchteten, nicht mehr Herr im eigenen Betrieb zu sein, hörten viele Betriebe auf, Lehrlinge auszubilden. Der sehr konservative CSV-Erziehungsminister Fernand Boden versuchte 1989, die Reform von 1979 zurückzudrehen. Aly Schroeder hatte zu dem Zeitpunkt das Ministerium verlassen, um sein Abgeordnetenmandat wahrzunehmen.

Bei dem Wahldebakel von 1989 verlor Aly Schroe­der seinen Abgeordnetensitz und kehrte als beigeordneter und später Direktor für Berufsausbildung ins Erziehungsministerium zurück. Fernand Bodens Nachfolger Marc Fischbach, der mit einer kleinen grau-grünen Broschüre Demain l’école seine Reformfreudigkeit demonstrierte, brachte schließlich mit Unterstützung der LSAP und wohl auch von Aly Schroeders die Reform von 1990 zustande, die an einige Ziele der Siebzigerjahre anknüpfte: Sie führte eine zweistufige Ausbildung ein, um mit einer modularen Eingangsstufe die Aussicht auch der Komplementarschüler auf eine Mindestqualifikation zu verbessern. Gleichzeitig feuerte sie eine gewaltige Salve auf das Bildungsprivileg des Kolléisch: Das Abschlussdiplom des technischen Sekundarunterrichts erlaubt nun ebenfalls, eine Universität zu besuchen.

Zwei Wochen nachdem die bislang letzte große Reform der Berufsausbildung vom Parlament verabschiedet worden war, veröffentlichte Aly Schroeder freudig einen Artikel unter dem Titel „Enfin l’entrée dans le XXIe siècle“ im Lëtzebuerger Land (5.12.2008). Im Trend der Zeit legte die Reform weniger Gewicht auf Wissen, denn auf Kompetenzen, das heißt auf die Produktivität flexibler Techniker, und verrechtlichte die Beziehungen zwischen den an der Ausbildung Beteiligten durch Verträge, als ob sie alle gleich starke Marktteilnehmer wären. 2007 trat Aly Schroeder schließlich in den Ruhestand. Den verbrachte er unter anderem mit der Arbeit an einer Geschichte der Berufsausbildung in Luxemburg von den mittelalterlichen Zünften bis heute. Das Werk war unvollendet, als er 2013 an einem Krebsleiden starb. Seine Familie und Freunde haben es nun fertiggestellt und veröffentlicht. Vor zwei Monaten brachte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) einen Gesetzentwurf ein, um die praktische Umsetzung der Reform von 2008 zu reformieren.

Aly Schroeder, Développement de la formation professionnelle au Grand-duché de Luxembourg, Eigenverlag, 264 Seiten
Romain Hilgert
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