Seit Montag ist es öffentlich: das Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept für Luxemburg. Im Internet kann man es lesen unter www.ivl.public.lu. Der für Landesplanung zuständige Innenminister Michel Wolter (CSV) wünschte sich am Montag im Namen der Regierung eine "breite Debatte" über das IVL.
Tatsächlich wurden die voraussichtliche ökonomische und demografische Entwicklung des Landes über 20 kommende Jahre hinweg bislang noch nie so konsequent mit der Raum- und der Verkehrsplanung "zusammengedacht". Projiziert man die Trends von Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung ab den 1980-er Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts auf den Zeitraum bis 2020, dürfte etwa die Zahl der Arbeitsplätze von 289 000 im Jahr 2002 auf 395 000 im Jahr 2020 steigen. Das ist jene Zahl, die auch das Genfer Bureau International de Travail in seiner "BIT-Studie" zum Rententisch angab als "optimistisches" Szenario für die längefristige Finanzierbarkeit des gegenwärtigen Pensionssystems. Das IVL stellt die Frage, wo die zusätzlichen über 100 000 Arbeitskräfte am besten arbeiten und wohnen sollten, weil im kleinen Land der Platz für Wohn- und Gewerbeflächen immer knapper werden dürfte. Es schätzt außerdem die Potenziale der Verkehrsinfrastruktur ab, da die Zahl der Fahrten innerhalb Luxemburgs allein zwischen 1997 und 2002 von 1,26 Millionen auf über 1,4 Millionen täglich wuchs, von denen 78 Prozent im Auto zurückgelegt wurden. 2020 könnten es zwischen 1,6 und 1,75 Millionen Fahrten sein. Hoffentlich wird ein Viertel dann von öffentlichen Verkehrsmitteln erbracht, wie es das von Transportminister Henri Grethen (DP) Anfang 2002 vorgestellte Konzept mobilitéit.lu mit seinem Finanzierungsvolumen von einer Milliarde Euro zum Ziel hat.
Wenngleich das IVL nur ein Handlungsleitfaden sein will, an dem man sich orientieren kann, falls die - schon rentenpolitisch - gewünschte Entwicklung tatsächlich eintritt, enthält es dennoch einigen politischen Zündstoff bezogen auf die derzeitige Siedlungs- und Verkehrsplanung, aber auch die Art und Weise, wie der Staat gewohnt ist, seine Kasse zu füllen. Glaubt man den Analysen der drei am IVL beteiligten Studienbüros und dem internationalen Expertenteam, dann hat Luxemburg eigentlich schon heute keine Wahl: mobilitéit.lu und der "Modal split" von 25 Prozent aller Fahrten in öffentlichen Transportmitteln werden Illusion bleiben, wenn weiterhin das Gros der neu geschaffenen Arbeitsplätze von Grenzgängern besetzt werden. Nur, falls diese sich dazu anhalten lassen, dauerhaft im Großherzogtum ansässig zu werden, könnte der Modal split mit 22,4 Prozent in die Nähe der von Grethen gewünschten 25 Prozent gelangen - die IVL-Experten bringen den bislang in der Diskussion um mobilitéit.lu wenig thematisierten Begriff "kritische Masse" ins Spiel: Die Menschen werden sich im Binnenverkehr zum Umstieg auf den öffentlichen Transport nur bewegen lassen, wenn dessen Angebot massiv erhöht, Taktzeiten deutlich verkürzt und über Grethens Schienenwegeplanungen hinaus neue Train-Tram-Strecken im Süden des Landes und südwestlich der Hauptstadt angelegt werden. Dieses Angebot aber könne nur rentabel sein, wenn es eine ausreichende Dichte von Nutzern der Transportmittel gibt. Wegen der fortgeschrittenen Zersiedelung des Landes setzt dies eine politische Entscheidung voraus für das, was im IVL "Einwohnerszenario" genannt wird. Landesweit, doch vor allem im Süden und um die Hauptstadt und deren südwestliches Einzugsgebiet, müssten neue urbane Zentren geplant, neues Bauland ausgewiesen, verdichteter gebaut - und der Staat stärker regulierend tätig werden, als er es heute tut, und massiv die Gemeinden begleiten bei einer Regionalisierung. Denn in Zeiten knapper öffentlicher Finanzen sind Einwohner und lokale Gewerbe umso wertvoller für jede Kommune zur Erzielung hohen Gewerbesteueraufkommens.
Das dürfte denn auch der Grund dafür sein, dass Michel Wolter am Montag vor der Presse zwar durchblicken ließ: "Wir brauchen eine kritische Masse" und "müssen anders planen", aber erst "breit debattieren" lassen will. Auch, weil das von den IVL-Experten empfohlene "Einwohnerszenario" von 561 000 Einwohnern anno 2020 ausgeht und zumindest tendenziell den mit Angst besetzten "700 000-Einwohnerstaat" vorweg nimmt. Verständlich in Wahlkampfzeiten ist auch, dass der ebenfalls anwesende Transportminister Henri Grethen nichts wissen wollte von einer weiteren politischen Empfehlung der IVL-Experten an die Regierung: Selbst wenn Grenzpendler entschieden, sich hier niederzulassen, werde der grenzüberschreitende Autoverkehr nur unwesentlich abnehmen, denn rund die Hälfte aller Fahrten ins Großherzogtum dienen dem Zweck "Freizeit", und darunter sind vor allem Einkäufe an grenznahen Tankstellen zu verstehen. Einen Modal split von 25 Prozent zu wollen, hieße auch, die Treibstoffpreise im Lande sofort auf das Niveau der Nachbarländer zu heben und ein "road pricing" einzuführen.
anne heniqui
Catégories: Aménagement du territoire, Architecture et urbanisme, Logement
Édition: 23.10.2003