Als am Freitag vergangener Woche die Semaine nationale du logement eröffnet wurde, gab es vom Wohnungsbauministerals Dreingabe die lang erwartete Wohnungsbaubedarfsprognose bis zum Jahr 2021 in Broschürenform. Was ein Raumplanungsbüroaus Wien da zusammengestellt hat, zerstört ein paar Illusionen über die Wohnungsbaukapazitäten: Angenommen, Luxemburg zählt um das Jahr 2021 zwischen 505 000 und 565 000 Einwohner. Angenommen ebenfalls, dass dann ein Durchschnittshaushaltnicht mehr von 2,5 Personen bewohnt sein wird, wie bei der letztenVolkszählung im Jahr 2001 ermittelt, sondern von 2,3 Personen. Unterstellt sei noch, dass weiterhin Jahr für Jahr 0,2 Prozent des gesamten Wohnungsbestands verloren gehen und zu ersetzen wären. Dann müssten in den kommenden 14 Jahren 52 000 bis 78 000 neue Wohnungen entstehen, oder zwischen 2 600 und 3 900 jährlich. Das könnte zu schaffen sein: Schreibt man den Trend an Fertigstellungender letzten drei Jahrzehnte fort, könne man mit 2 800 zusätzlichenWohnungen pro Jahr rechnen.
2 800? – So gut sieht diese Zahl doch nicht aus, weil sie eher dem unteren Bereich des Bedarfs entspräche. Die Experten aus Wien tun sich jedoch offensichtlich schwer, optimistischer zu schätzen. Die Zahl der Baugenehmigungen stieg zwar von 3 364 im Jahr 2003 auf 4 692 im Jahr 2005 stark an. Doch ob das einher ging mit einem starken Wachstumder fertig gestellten Wohnungen oder vorallem zu tun hatte mit Ausbauten, weiß man bislang noch nicht, weildie Daten fehlen. 2006 waren die Baugenehmigungen wieder „leichtrückläufig“, steht in dem Bericht, und es würden 3 000 Fertigstellungen „möglich scheinen“. Aber nur wenn ein Zuwachs um diese 3 000 Wohnungen pro Jahr „auf lange Sicht aufrecht erhalten“ würde, „ließe sich vergleichsweise etwa die demIVL-Pendlerszenario zu Grunde gelegte Bevölkerungszahl mit Wohnraumversorgen“.
Pendlerszenario?–Damit ist dieÜberlegung des IVL-Konzepts gemeint, dass bis 2020 die Einwohnerzahl auf 511 000 steigen könnte, weil der Großteil der bis dahin neu zu schaffendenArbeitsplätze wie bisher von Grenzpendlern besetzt würde. Dennum die Rentenversprechen des Rententischs von 2001 zu finanzieren, ist ein stetes Wachstum des BIP und – vor allem – der Beitragszahler nötig. Das IVL-Konzept sollte die Basis zurplanungspolitischen Einhegung des 700 000-Einwohnerstaats sein, vor dem Premier Jean-Claude Juncker gewarnt hatte, ehe die CSV auf das IVL verweisen und ankündigen konnte, „wirtschaftliches Wachstum und Lebensqualität in Einklang“ zu bringen, wie Parteipräsident François Biltgen im Vorwort zum Wahlprogramm2004 schrieb.
Dass nun die Trends in einem landesplanerisch so relevanten Bereich wie dem Wohnungsbau das „Pendlerszenario“ realistisch erscheinen lassen, könnte man auf Politikversagen drei Jahre nach Vorlage des IVL zurückführen. Hatte die letzte Regierung nicht eine „Präferenz“ für das „Einwohnerszenario“ des IVL geäußert, in dem 30 000 Grenzpendler sich in Luxemburg niederlassen würden, und hatte Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf (CSV) nicht imvergangenen Jahr bei mehreren Gelegenheiten besorgt festgestellt, „wir stecken mitten im Pendlerszenario“? Nun aber deuten die vomWohnungsbauminister beauftragten Experten Probleme mit diesem Einwohnerszenario an, das selbst dann mehr Boden verbraucht, wenn verdichteter gebaut würde: Es seien bei der derzeitigen Bodenknappheit „weitere, ggf. deutliche Bodenpreissteigerungen zu erwarten“.
Darüber, wie sich das neue Wohnungsbau-Gesetzespaket auswirken könnte, wird nichts gesagt, nur dass „im Verbund allerPolitikfelder massive Anstrengungen zur Mobilisierung von Bauland“ nötig würden. Zwar soll die Studie, von der bisher nur eine 15 Seiten lange Kurzfassung vorliegt, ein erstes Modul für den Plan sectoriel logement sein, der gegenwärtig unter Fernand BodensFederführung entsteht. Doch die im Rahmen der Pactes logementmit den Gemeinden abzuschließenden Konventionen sind derart detailliert, dass sich die Frage stellt, welche Regeln ein sektorieller Plan noch erlassen soll.
Also geht die Reise weiter im Pendlerszenario? – Wieso nicht, denn in ihrer ganzen Tragweite ausdiskutiert wurden die beiden Szenarien nie. Auchdie Abgeordnetenkammer störte es nicht, dass ihr das IVL lediglich vorgestellt wurde. Vorzuziehen, so lautete die abschließende Empfehlung der IVL-Expertengruppe imFrühjahr 2004, sei das Einwohnerszenario nicht zuletzt, weil es erlaube, dem öffentlichen Transport zu mehr Rentabilität zu verhelfen – zu kritischen Massen von Nutzern, die an zentralen Orten in neueWohnungen einziehen würden. Nie aber wurdediskutiert, wie sich etwa ein stärkerer Zuzug frankophoner Pendler mit dem Schulsystem und seinen Sprachenregelungen vertrüge, oder ob es für die Krankenkassen hinzunehmen wäre, dass weniger bei ihnen versicherte Grenzpendler im Ausland zum Arzt gehen, wo die Tarife niedriger sind als hier, und stattdessen in Luxemburg der ohnehin schon hohe Konsum medizinischer Leistungen noch weiter stiege.
Absehbar ist allerdings, dass ohne verstärkt urbanes Wohnen, ohne die bevorzugte Erschließung regionaler Zentren und mit einer nicht abnehmenden Grenzpendlerzahl die Verkehrsbelastung weiter steigen wird. Ein koordinierter Ansatz bleibt also gefragt. Seitdem der damalige liberaleTransportminister Henri Grethen Ende Januar 2002 sein Schienenverkehrskonzept mobilitéit.lu vorgestellthatte, steht das Ziel, bis zum Jahr 2020 den Anteil des öffentlichen Verkehrs auf 25 Prozent zu heben, im Raum. Ein Ziel, das laut IVL-Konzept nur im Einwohnerszenario annähernd erreichbar sein soll, und nur, falls zwischen den dann stärker besiedeltenregionalen Zentren zusätzlicheSchienenverkehrsverbindungengeschaffen würden.
Als Grethens Nachfolger Lucien Lux Anfang dieser Woche eine Broschüre mit dem Titel mobil 2020, Mobilitéit déi beweegt präsentierte, berief er sich zwar nicht auf das IVL, doch das Ziel,bis 2020 einen 25-prozentigen Anteil des öffentlichen Verkehrs zu erreichen, findet sich in der Broschüre, die dieser Tage an alle Haushalte verteilt werden soll, ebenfalls wieder. Das ist recht erstaunlich, denn nur auf den ersten Blick scheint mobil 2020 Grethens Konzept zu resümieren und um die geplante Straßenbahnin Luxemburg-Stadt und den Verweis, ein Einsatz von Trams werdeauch imSüden des Landes und in der Nordstad geprüft, zu ergänzen. Tatsächlich jedoch hat Lux und hat sich der von einem Beamten des Transportministeriums geleitete Planungsstab von einem wesentlichen Element verabschiedet, das nicht nur mobilitéit.lu prägte, sondern auch dem IVL zugrunde liegt und sogar in das – rechtsverbindliche – nationale Programme directeur zur Landesplanung einfloss: Train-Tram-Züge.
Das von Lux vertretene Konzept geht von klassischen Zügen als Rückgrat im öffentlichen Transport aus, zu welchem Busse, die Hauptstadt-Tram, Autos, die Park-and-Ride-Plätze ansteuern,sowie der Langsamverkehr per Rad und zu Fuß die Zubringersind.Die Vorläuferkonzepte BTB und mobilitéit.ludagegen verstandenTrain-Trams als Ergänzung zu den klassischenZügen und als Möglichkeit, auf Strecken zu verkehren, wo große„Transportgefäße“ schlechter ausgelastet und wenig rentabel sind: vielleicht zwischen Differdingen und Düdelingen, der französisch-luxemburgischen Grenze und Münsbach via Luxemburg-Stadt. Oder auf dem Territorium der Hauptstadt zwischen Howald und Dommeldingen – und darüber hinaus auch noch, als BTB seinerzeit, eine umsteigefreie Fahrt hinein in die Nei Avenue versprechend.
Dass nun der Eindruck erweckt wird, klassische Züge plus Tramléger sei nichts anderes als Zug plus Train-Tram, ist deshalb problematisch, weil damit ein S-Bahn-ähnlicher Ansatz aufgegeben wird – beim Streckenneubau nur halb so teuer wie klassische Schienenwege und dadurch erheblich flexibler, und angepasstan die „polyzentrische“ Besiedelung des Landes, die im Lauf der Zeit immer mehr kleinere „Zentren“ entstehen ließ.
Kann sein, die Abwendung von Train- Trams sollte ein zeitweiliges Signal setzen, um Hauptstadtbürgermeister Paul Helminger zu gestatten, der Stater Geschäftswelt einen „ganz liichtenZuch duerch d’Nei Avenue“ zu empfehlen. In dem Fall stünde die derzeitige Politik zur Förderung des öffentlichen Transports womöglich doch nicht so stark imWiderspruch zu landesplanerischenHandlungsempfehlungen. Zumal Verkehrsplanungen so lange dauern, dass in der nächsten Legislatur Raumbliebe, umüber dieRolle flexibler Train-Trams erneut nachzudenken, und die am Montag verteilte Broschüre in erster Linie auf den Einsatz des Transportministers für die Speisung des Schienenbaufondsaufmerksam machen soll. Allerdings bedurfte es massiven Einsatzesder Transportgewerkschaften, um Lucien Lux auf Distanz zu dervon den Nordstad-Gemeinden und dem Landesplanungsministerium gemeinsam angestrebten Abkopplung Diekirchs vom Bahnnetz zu bringen. Eine gewisse Logik enthielte diese Idee allenfalls, wenn man die Strecke als Nebenbahn Ettelbrück-Diekirch betrachten würde, aber nicht als Linie, auf der Züge zwischen Diekirchund der Hauptstadt verkehren könnten – wofür Train-Trams allerdings geeigneter wären als klassische Züge.
Doch wenn sogar das für die Koordination der Landesplanung zuständige Ministerium die Abschaffung von Eisenbahnstrecken betreibt, muss man sich vor allem Sorgen um die Rolle des HausesHalsdorf machen. Auch wegen der wenig entschiedenen Haltung des Hausherrn zu Projekten wie dem Shopping-Zentrum Wickrange. Aber ebenfalls, weil kürzlich ein Projekt stärker publik wurde, das ebenso wie die Nordstad die Unterstüzung des Landesplanungsministeriums genießt: die Neunutzung des Cepal-Agrocenters hinter dem Merscher Bahnhof. 7 000 neue Bewohner sollen hier ein Zuhause finden, berichtete das Tageblatt ausführlich. 7 000, die die Bevölkerung der Gemeinde mit 17 000 etwa so zahlreich machen werden, wie die der gesamten Nordstad derzeit. 7 000 Einwohner, die der Nordstad wahrscheinlich fehlen werden bei ihrem Versuch, zu wachsen. Besser als mit der Förderung dieses Projekts kann man die Bildung des „dritten Entwicklungspols“ im Lande kaum torpedieren. Zeit, das IVL neu zu schreiben.