Der Entwurf zur Bolkestein-Direktive soll „überarbeitet“ werden, beschlossen am 23. März die Staats- und Regierungschefs beim EU-Frühjahrsgipfel in Brüssel. In welcher Hinsicht überarbeitet, ist noch ungewiss. Zurückgezogen werde das Vorhaben, eine Rahmenrichtlinie für den europäischen Dienstleistungssektor aufzustellen, auf keinen Fall, ließ Kommissionspräsident José Manuel Barroso nach dem Gipfel wissen, und Wettbewerbskommissar Günter Verheugen meinte, „allzu groß“ würden die Abmilderungen am Ende wohl nicht ausfallen.
Die Rede ist allerdings davon, das Gesundheitswesen aus dem Geltungsbereich von „Bolkestein II“ auszunehmen, und der Luxemburger Gesundheits- und Sozialminister Mars di Bartolomeo bestand am 8. April auf einem von der Luxemburger Präsidentschaft organisierten Seminar über L’accès aux soins de santé dans un marché unique darauf, „que dans le domaine de la santé et de la sécurité sociale, les services fournis ne sont pas à considerer comme marchands, mais que ce sont des services différents, en ce sens qu’ils doivent répondre à d’autres exigences, telles que le libre accès, qualité et solidarité“.
Das Problem ist nur, dass den Gesundheits- und Sozialdienstleistungen ein Abonnement auf „Andersartigkeit“ keineswegs garantiert ist, falls eine neue Dienstleistungsrichtlinie auf sie nicht zuträfe. Mehr noch: Der unter dem früheren EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein ausgearbeitete Richtlinienentwurf hätte für mehr Rechtssicherheit im Gesundheits- und Sozialwesen gesorgt. Denn er kodifizierte die in letzter Zeit vom Europäischen Gerichtshof gefällten Urteile in der Frage, inwiefern nationalstaatlich organisierter Gesundheits- und Sozialschutz und die in dessen Rahmen angebotenen Leistungen sich mit der Dienstleistungsfreiheit im gemeinsamen europäischen Markt vertragen. Angewandt werden müssen diese Urteile bereits, und die sozialpolitischen Auswirkungen sind erheblich.
So dass sich die Frage stellt: Wenn nicht „Bolkestein“ Rahmenregeln für grenzüberschreitende Arztbesuche und Krankenhausaufenhalte oder für das Aktivwerden von Medizinern oder Sozialdiensten aus dem Mitgliedstaat A in einem Mitgliedstaat B festlegen soll – welche gesetzgeberische Initiative auf EU-Niveau sollte es dann tun? Im Moment gibt es keine. So lange es dabei bleibt, werden allein die Europa-Richter fundamentale Weichenstellungen in der europäischen Sozialpolitik vornehmen. Der 28. April 1998 war in diesem Zusammenhang ein historisches Datum gewesen: Damals entschied der Europäische Gerichtshof in den Streitsachen „Kohll“ und „Decker“, impliziert war über die Affäre „Decker“ auch die Luxemburger Krankenkassenunion UCM. Über ihre Rückerstattungsregeln hält der Code des assurances sociales in Artikel 20 des Buches über die Krankenversicherung fest, dass Behandlungen im Ausland von den heimischen Krankenkassen nur rückerstattet werden, falls eine Dringlichkeitsbehandlung aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls während eines Auslandsaufenthalts nötig würde, oder „après autorisation préalable donnée par le contrôle médical de la sécurité sociale (...), toutefois l’autorisation ne peut être réfusée si le traitement n’est pas possible au Grand-Duché de Luxembourg“. Kläger Decker hatte sich im Ausland eine Brille anfertigen lassen, ohne vorab eine Genehmigung des Contrôle médical eingeholt zu haben, verlangte dennoch eine Rückerstattung durch seine Krankenkasse.
Der EuGH urteilte, eine Vorabgenehmigung für Auslandsbehandlungen zu verlangen, sei eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs, und stellte damit Gesundheitsleistungen auf eine Stufe mit Dienstleistungen von Postunternehmen oder Banken. Andererseits erkannten die Europa-Richter an, dass Gesundheitspolitik ein Bestandteil einer Wohlfahrts-Staatspolitik ist, die nationalstaatlich organisiert und auch so gewachsen ist: Ohne eine Vorabgenehmigung könne ein Patient für eine Auslandsbehandlung nur jenen Kostensatz von seiner Krankenkasse erstattet erhalten, den diese für eine Behandlung im Inland gezahlt hätte.
War es in der Kohll-Decker-Affäre um die Genehmigungs- und Rückerstattungsfrage für ambulante Behandlungen im Ausland gegangen, musste der EuGH drei Jahre später über nicht vorab genehmigte Krankenhausbehandlungen im Ausland entscheiden. Prinzipiell läge auch hier eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs vor, wenn eine Krankenkasse Vorabgenehmigungen verlangte, urteilten die Richter, doch um dem kostenträchtigen Klinikwesen der EU-Mitgliedstaaten nicht die Planungssicherheit zu entziehen, erklärten sie Vorabgenehmigungen für stationäre Behandlungen im Ausland für zulässig.
Diese Jurisprudenzen hatte der Entwurf zur „Bolkestein-Richtlinie“ in Artikel 23 übernommen. Träte er in Kraft, müsste auch in Luxemburg die Sozialgesetzgebung geändert werden, denn nach wie vor suggeriert diese, dass es auch für ambulante Behandlungen nur einen Weg zum Auslandsdoktor gebe – den über eine Vorabgenehmigung. Doch das liegt daran, dass diese Bestimmung buchstabengetreu eine europäische Verordnung aus dem Jahr 1971 über den Sozialschutz von Wanderarbeitnehmern umsetzt. Sie gilt nach wie vor, sollte laut EuGH auch weiterhin gelten, und selbst „Bolkestein“ rührte an sie nicht. Zwar befindet sich seit dem letzten Jahr eine Neufassung der Wanderarbeitnehmer-Verordnung auf dem europäischen Instanzenweg, doch an den Prinzipien ihrer 33 Jahre alten Vorgängerin soll sie wenig ändern.
So merkwürdig das ist, es erklärt sich daraus, dass das Grundproblem im EG-Vertrag liegt. Er schreibt in seinen Artikeln 49 und 50 die Freizügigkeit von Personen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen innerhalb der EG fest. Andererseits aber heißt es in Artikel 152: „Bei der Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung wird die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt.“ Mag sein, dass die zunehmende Mobilität der EU-Bewohner als Touristen, Grenzpendler oder Auswanderer von einem Staat in den anderen eine normative Kraft des Faktischen geschaffen hatte, die sich immer öfter auch in Arztbesuchen im Ausland niederschlug. Sozialpolitisch bahnbrechend war das Kohll-Decker-Urteil des EuGH, weil es die Dienstleistungsfreiheit über die nationalstaatliche Zuständigkeit für das Gesundheitswesen stellte. An diesem Grundsatz änderte auch die abgemilderte Gültigkeit für Krankenhausbehandlungen drei Jahre später nichts.
Der Entwurf zur „Bolkestein-Richtlinie“ hätte die sich daraus ergebende Problematik durch die Festlegung des besonders umstrittenen „Herkunftslandprinzips“ verschärft. Angewandt auf das Gesundheits- und Sozialwesen bedeutete es, dass jeder Dienstleister gemäß den Regeln des Landes, in dem er niedergelassen ist, seine Dienstleistungen auch im EU-Ausland anbieten dürfte. In Luxemburg, wo beispielsweise jeder Arzt, der praktizieren will, der Konvention mit der Krankenkassenunion beitreten muss, und Privatbehandlungen nicht vorgesehen sind, könnte diese Konventionierungspflicht in Frage gestellt werden. Zwar ist das Szenario, dass ein ausländischer Arzt hier praktizieren wollte, ziemlich hypothetisch und laut UCM in den letzten 20 Jahren noch nie eingetreten. Auch Sozialrechtler kritisieren am „Herkunftslandprinzip“ der „Bolkestein-Direktive“, dass es voraussetze, es gebe eine Äquivalenz der Gesundheitsversorgung in allen Mitgliedstaaten. Das aber sei nicht der Fall, und „Bolkestein“ leiste keinen Beitrag zur Herstellung dieser Äquivalenz1. Angriffsfläche bieten die konventionierten Systeme der Mitgliedstaaten allerdings schon seit dem Kohll-Decker-Urteil der Europa-Richter.
Noch immer finden EU-weit 90 Prozent aller Behandlungen im Rahmen von Konventionen zwischen Krankenkassen und Ärzteverbänden statt. Der politische Druck auf diese Abmachungen, die fundamental sind für ein Gesundheitssystem, das „solidarisch“ und „mit hoher Qualität für alle“ zugänglich sein soll, könnte sich jedoch erhöhen. Luxemburg mit seiner obligatorischen Konventionierung der Ärzte war ein gutes Beispiel dafür, als nach dem Kohll-Decker-Urteil der Ärzteverband AMMD die Abschaffung der Konventionierung oder zumindest die Einführung einer „Teilkonventionierung“ mit der Begründung forderte: Das Land ist klein, Patienten könnten rasch die Grenzen passieren und Sprachbarrieren zu den Nachbarländern gebe es nicht. Könnten, nachdem der EU-Gerichtshof die Dienstleistungsfreiheit nunmehr derart hoch hält, Luxemburger Versicherte auch ohne Vorabgenehmigungen ausländische Mediziner zur ambulanten Behandlung aufsuchen, würden sie von diesen wie Privatpatienten betrachtet. Luxemburger Ärzten, denen Privatbehandlungen nicht möglich seien, entstünde daraus ein klarer Einkommensnachteil.
Zwar bog die CSV-DP-Regierung die Dekonventionierungsdebatte ab, indem sie Mitte 2003 die Entwicklung der Arzthonorare an den Index band und wichtigen Medizinersparten Honorarerhöhungen genehmigte. Aus der Welt ist die Gefahr für das konventionierte System damit allerdings nicht. Nirgendwo in Europa – wer es sichern wollte, müsste keine Dienstleistungsrichtlinien erlassen, sondern den EG-Vertrag abändern.
Dass dies geschehen und etwa eine Ausnahme für Gesundheitsleistungen vom Prinzip der „libre circulation des services“ festgeschrieben werden könnte, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Nicht nur wird in immer mehr Mitgliedstaaten die Finanzierung der Krankenversorgung zunehmend individualisiert, auch die EU-Kommission versteht Gesundheits- und Sozialschutz seit 2001 als Bestandteil der Lissabon-Strategie. Da diese nach neuester Kommissionslesart in erster Linie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen stärken soll, wäre eher die Schwächung der traditionellen Wohlfahrtsstaaten zielführend. Und es kann zu guter Letzt auch nicht behauptet werden, dass der Weg für eine eventuelle Liberalisierung des Gesundheitswesens allein durch ein „historisches“ Urteil des Europäischen Gerichtshofs bereitet worden wäre: In den Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO über ein General Agreement on Trade in Services (Gats) hatte gerade die EU eine umfangreiche Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte weltweit nachgefragt. Zwar stockten die Gats-Verhandlungen vor zwei Jahren, doch im Angebotsportefeuille des damaligen EU-Außenhandelskommissars Pascal Lamy zur Deregulierung der Dienstleistungsmärkte hatte sich auch das Gesundheitswesen befunden. Verhandelt hatte Lamy nicht etwa nach einer Absprache mit Kommissionskollegen Bolkestein, sondern mit dem Mandat sämtlicher Mitgliedstaaten der EU-15.