Man nennt sie die Eilige, die Rasante, die Boomende. Zweifelsohne ist sie die Schöne. Die Nordische. Die Baltische. Und ein wenig auch die Unbekannte. Gemeint ist Tallinn, Hauptstadt Estlands und in diesem Jahr – gemeinsam mit dem finnischen Turku – Kulturhauptstadt Europas. Etwas mehr als 400 000 Menschen leben in der alten Hansestadt, die nach zwanzig Jahren Unabhängigkeit ihre kulturelle Vielfalt belebt und vor allen Dingen ihre Verbindung zum Meer wiederentdeckt. In den Jahren der Sowjetunion war die Ostseeküste Sperrgebiet, da hier die sowjetische Armee Militärhäfen unterhielt. Mit einem ehrgeizigen Stadterneuerungsprogramm erschließt sich nun das alte Reval, wie die Stadt zur Deutschordenzeit hieß, wieder den Zugang zum Meer und damit die eigene Geschichte als Hafen- und Hansestadt.
Im 13. Jahrhundert von Dänen gegründet, war die Stadt seit Mitte des 14. Jahrhunderts im Besitz des Deutschen Ordens. Als Mitglied der Hanse erlebte sie im Ostsee-Handel eine wechselhafte Zeit zwischen Handelsblüte und Pest – mit einer europäischen Geschichte: Die Stadt hatte Schweden zur Schutzmacht, den russischen Zaren als Landesherrn, wurde vom deutschen Adel regiert. Im Februar 1918 erlangte Estland erstmals seine Unabhängigkeit. Reval wurde Hauptstadt und am 24. Februar 1918 der Name offiziell in Tallinn geändert. Im Juni 1940 besetzten die Sowjets das Land, im Jahr darauf Nazi-Deutschland, bis Ende 1944 die Sowjets wieder die Deutschen aus Stadt und Land vertrieben. Estland wurde eine sowjetische Teilrepublik. Im August 1991 gelang die Singende Revolution und Estland wurde wieder unabhängig.
Das Land unternahm fortan große Schritte in Richtung Europa. Im September 2003 stimmten Zweidrittel der Esten für einen Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union. Das war zwar die niedrigste Zustimmungsrate aller zentral- und osteuropäischen EU-Neumitglieder, konnte jedoch die Mustergültigkeit nicht bremsen. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist Estland Euro-Land. Und gleichzeitig gab es das Prädikat Europäische Kulturhauptstadt – mit viel Programm und mit hohen Erwartungen verbunden.
Etwa an einem heißen Sommertag: Kinder tanzen einen bunten Reigen, anschließend kommt eine Schauspieltruppe in barocken Kostümen und dicker Schminke, die dem warmen Temperaturen trotzen müssen und auf dem Kopfsteinpflaster sich in historischen Tänzen bemüht. Es gibt eine kleine Bühne auf der alsbald gesungen wird, am Abend ein Jazzkonzert, im alten Theater lockt eine Fotoausstellung und eine Jugendmodewoche wird groß angekündigt – die Programmhöhepunkte im estnischen Kulturhauptstadtjahr. Übertroffen wird dies alles von einer Weltpremiere: einer Meisterschaft der Feuerskulpturen. Die Esten sind stolz auf ihr Programm und die Auszeichnung. Sie bevölkern den zentralen Platz in ihrer Hauptstadt. Es soll sogar eine Theatergruppe aus Sankt Petersburg auftreten – man hat also auch die Hand dem ehemaligen Besatzer gereicht. Mehr Europa, mehr Kultur, mehr Hauptstadt geht nicht.
Dennoch sind die Esten enttäuscht. Zutiefst. „Wo bleiben die Touristen?“, fragen sie jeden Reisenden, der durch die Stadt schlendert, um die Schönheit der Ostseemetropole zu bewundern, aber nur wenige Augenblicke dem Gehopse auf dem Marktplatz widmet. Das Wetter ist zu schön, das Bier zu günstig, das Programm zu profan. Überhaupt scheint man sich in Tallinn bei der Programmgestaltung ein wenig zu sehr in der Beliebigkeit verlaufen zu haben. Die Esten haben Europa überstrapaziert und sind nach dem Motto „Viel hilft viel“ verfahren. Es geht nicht um die eigene Kultur und deren Verortung in Europa, sondern um Mischmasch aus Europa, in dem irgendwie an irgendeiner Stelle Tallinn oder Estland vorkommen.
Etwa bei Estnisches Klavier und Europa. Ausgestaltung: ein Klaviermusikfestival. Inhalt: Es wird die Rolle des estnischen Klavierbaus im allgemeinen Kulturbild veranschaulichen und zur Geltung bringen. Es folgt die Internationale Schmuckkunstausstellung UltraMarine und die Möbelschau Von Militärtechnik zum Designobjekt, in der Mati Karmin seine Minenmöbelstücke zeigt. Mit ein wenig Naivität hofften die Esten mit dem Prädikat „Europäische Kulturhauptstadt“ den Tourismus nachhaltig ankurbeln zu können. Nun ankern große Kreuzfahrtschiffe im Hafen und Seefahrende strömen für wenige Stunden durch die Stadt auf der Suche nach Geschichte, dem Ausblick vom Domberg und verwunschenen Gassen, weniger denn Kunst.
Was ist also dran am Titel der Europäischen Kulturhauptstadt? Ist der Name Programm oder nicht zu hoch gegriffen – für letztendlich ein regionales, wenn nicht lokales Ereignis? Als Essen im vergangenen Jahr für das Ruhrgebiet das Prädikat bekam, machte man sich ideenreich, aber illusionslos an die Umsetzung: Es wurde ein Kulturjahr von der Ruhr für die Ruhr. Ziel war es, durch das Kulturjahr hindurch zu versuchen, der Metropolregion eine eigene Identität zu geben, eine Klammer zu schaffen, unter der sich der arme Norden der Region mit dem reichen Süden, der ländliche Westen mit dem hügeligen Osten zusammenfinden sollten. Das Geld und den Zeitpunkt des Hauptstadtjahres nutzte man als Fördermittel und vor allem als Anlass, endlich an eine Umsetzung zu gehen. Man schielte wenig auf eine apostrophierte europäische Magnetwirkung – schließlich musste man den Titel ohnehin mit dem ungarischen Pécs und dem türkischen Istanbul teilen.
Ein Alleinstellungsmerkmal war nicht gegeben. Dass man in Essen und im Ruhrgebiet schließlich auf halben Weg scheiterte, geschah mit der Katastrophe bei der Loveparade von Duisburg. Die Feierstimmung, die ein halbes Jahr das Festival getragen hatte, wich an einem Sams-tagnachmittag Entsetzen und Bestürzung. Luxemburg machte mit seiner Großregion 2007 die Erfahrung, wie unterschiedlich die Rezeption ausfallen kann. Viel Tamtam – im positiven Sinne – im Großherzogtum, eine gähnend langweilige Ausstellung jenseits der Mosel in Trier.
Dem Titel der Europäischen Kulturhauptstadt ist die Schärfe abhanden gekommen, die der Titel noch Ende der Achtzigerjahre hatte als Athen, Florenz und Amsterdam den Auftakt machten. Seit dem Jahr 2000 wird die Auszeichnung ohnehin inflationär gebraucht. Jede Stadt interpretiert den Titel jedes Jahr aufs Neue – mit höchst unterschiedlichen Illusionen, die vom hehren städtebaulichen Aufbruch bis zur bloßen Ankurbelung des Tourismus reichen. Die Kultur bleibt derart auf der Strecke, wie am Silvesterabend die Schilder weggeräumt werden. So gibt es viel Deutungsfreiheit darüber, was es bedeutet Europäische Kulturhauptstadt zu sein.
Während Schauen großer europäischer Museen und epochenmachender Kunst dorthin gehen, wo Zuschauer ohnehin schon Schlange stehen, bleibt etwa Tallinn ein Versuchsjahr mit dem Etikett „Kultur ist alles“. Hier sind die Verantwortlichen bei der EU gefordert, wenigstens ein Mindestmaß an Vorgaben zu machen, was eine Kulturhauptstadt können, leisten und vorweisen muss und auch darüber, wie bereits vorhandene Ansätze in den einzelnen Städten entwickelt werden können. Schließlich auch darüber, welchen künstlerischen Beitrag die EU zu leisten bereit und gewillt ist. Die Verleihung des Titels und ein paar nette Grußworte können es allein nicht sein. Der Titel sollte die Strahlkraft haben, die es braucht, um eine lokal-regionale Veranstaltung glänzen zu lassen.
Im nächsten Jahr teilen sich das portugiesische Guimarães und das slowenische Maribor den Titel. Irgendwann wird auch wieder Luxemburg dran sein. Hoffentlich dann mit einem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“, der lange lebt und heftig bebt – im künstlerischen und kulturellen Sinne.