Am 7. Oktober 1835 wendet sich der russische Autor Nikolai Wassiljewitsch Gogol an seinen Kollegen Alexander Puschkin mit der Bitte um „ein Sujet, irgendeine komische oder nichtkomische, aber rein russische Anekdote“. Puschkin verweist seinen Freund auf ein Erlebnis, das ihm selbst widerfahren ist: In Nishnij-Nowgorod hat man ihn fälschlicherweise für einen Revisor gehalten. Bemerkenswert an diesem Stoff, den Gogol alsbald zu seinem Drama Der Revisor verarbeitete, scheint aus heutiger Sicht der Umstand, dass sich diese Anekdote sowohl komisch als auch abgründig, sowohl russisch als auch allgemeingültig erweist.
Ein Provinznest im tiefen Russland. Es wird die Nachricht verbreitet, ein Revisor sei inkognito im Ort abgestiegen. Schnell glaubt man, in dem kleinen Beamten aus Sankt Petersburg den Buchprüfer erkannt zu haben. Die Reaktion der Beamtenriege lässt nicht auf sich warten: Der im Kern von Korruption durchsetzte Behördenapparat kehrt seine Verfehlungen unter den Teppich. Dem Neuankömmling Chlestakow wird derselbe in Rot ausgelegt. Fortan wird er angehimmelt, um politische Gefälligkeiten gebeten und mit Bestechungsgeldern gefällig gemacht. Revisor und Bestechungsgelder sollen nicht zusammenpassen? In der verkehrten Welt dieser Komödie hat der kleine Beamte Chlestakow die Gunst der Stunde erkannt: Der korrupte Richter, der misanthropische Kurator sowie der das Briefgeheimnis notorisch brechende Postmeister fressen ihm aus der Hand. Niemand würde ihn, den vermeintlich Allmächtigen, verraten.
In dieser sich Schritt für Schritt ins völlig Groteske steigernden Posse erleben sich die Figuren wie in einem rabenschwarzen Spiegelbild. In ihrer Angst, ins schlechte Licht gerückt zu werden, lässt sich jeder zur Karikatur seiner eigenen Fehlbarkeit verführen. Die Dorfbewohner spielen sich gegeneinander aus, heucheln dem vermeintlich Allmächtigen eine tüchtige Welt vor und machen sich selbst zum Affen. Doch auch der Verwechselte wittert Morgenluft. Im Anschluss an die große Auflösung des Trugs wird die Ankunft des eigentlichen Revisors angekündigt: Wird er nur Bücher prüfen? Die zurückliegende Posse juristisch richten? Oder wird der echte Revisor zu einer Art Gottesgericht stilisiert? „Wie fing das alles an?“, fragen die Dorfbeamten konsterniert: „Man kann ihm nicht das Wasser reichen und man weiß nicht mal, warum.“
Auf der Ebene der Regie nimmt diese aberwitzige Kluft zwischen grotesker Fassade und tiefschwarzem Innenleben treffliche Gestalt an: Zum einen nutzt Hoffmann die Bühne von Christophe Rasche zur Andeutung potemkinscher Dörfer (herabfallende gelbe Dekortapete, die ein klappriges Gerüst verbirgt, im Hintergrund eine trostlose Ödnis) und lässt den Bühnenboden mit Hindernissen versehen, insbesondere einer breiten Stufe sowie umherstehender Stühle. Wer dem Revisor substanzlose Worthülsen vorschwindelt, stolpert über seine eigene Heuchelei. Zum anderen wiederholt sich die Choreografie – manchen wohl etwas zu aufgetragen – zwischen Revisor und dem jeweilig Angehörten im Duett. Im krankhaften Wahn, dem Kontrolleur wie Wetterfahnen nachzueifern, kopieren sie durch die Bank jede noch so minimale Geste Chlestakows: Hier wird der Zuschauer Zeuge feinster gestischer Schauspielkunst.
Diese Beobachtung führt uns schließlich zu einem weiteren Standbein der Koproduktion von Ruhrfestspielen, TNL und Theater Bonn: Wie in so mancher Kritik der Auslandspresse bereits festgehalten, greift Hoffmann auf ein weitestgehend überzeugendes, teils geniales Ensemble zurück. Auf der luxemburgischen Seite sticht vor allem Steve Karier als Postmeister hervor, der aufgrund seiner schrillen Kostümierung mit Brille und Perücke schwer wiederzuerkennen ist. Lediglich Jean-Paul Maes lässt Subtilität vermissen, auch wenn seine Figur besonders skurril angelegt ist. Als ausländische Darsteller überzeugen der schrullige Rolf Mautz, der raue Georg Marin als zynischer Kurator und Bernd Michael Lade als Stadthauptmann Skwoznik-Dmuchanowskij. Eine Meisterleistung gelingt Jewgenij Sitochin, der das Vorurteil, Trunkenbolde seien dankbare Rollen, in aller Schärfe in die Nische des Volkstheaters verbannt: Stimmkontrolle, Gestik und die Feinabstimmung zwischen beiden Elementen sind Gründe genug, dem Hauptdarsteller am Ende einen tosenden Applaus zu spenden.
Der Revisor von Frank Hoffmann ist ein voller Erfolg: Wer eine Komödie haben will, der bekommt sie. Wer gesellschaftskritische Töne nicht missen möchte, wird auch damit versorgt. Wer auf einen Schlag in die Fresse einer durch und durch abgründigen und ausgehölten Gesellschaftsstruktur aus ist, dem wird selbst dies geboten. Der Regisseur lässt viele Stränge ineinander flechten. Dabei entsteht kein Knirschen, sondern Ausdruck und Emotion.