Shared space in Bartringen

Trautes Miteinander?

d'Lëtzebuerger Land vom 31.01.2014

Bagger und Lastwagen sind im Einsatz, die Umrisse der neuen Straßenführung sind schon zu erkennen. Es wird fleißig gearbeitet auf der Baustelle im Dorfkern von Bartringen. Von seinem Büro im Obergeschoss des Gemeindehauses auf der Kreuzung zwischen Luxemburger und Leudelinger Straße hat Bürgermeister Frank Colabianchi eine gute Sicht auf das Geschehen. Unter ihm entsteht derzeit einer der ersten größeren Shared spaces in Luxemburg.

Shared space ist ein Verkehrskonzept, das sich der Niederländer Hans Monderman ausgedacht hat. Es läuft darauf hinaus, dass sich verschiedene Arten von Verkehrsteilnehmern den öffentlichen Raum gemeinschaftlich teilen. Deshalb gibt es im Shared space keinen „reservierten“ Raum für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer, also keine Fahrbahn, keinen Geh- und keinen Fahrradweg. Straßenschilder gibt es ebenfalls nicht. Für Westeuropäer, von Kindesbeinen an darauf trainiert, sich als Fußgänger motorisierten Fahrzeugen möglichst fern zu halten und die Fahrbahn in einer geraden Linien am besten an der Ampel oder am Zebrastreifen zu überqueren, ergibt es erst einmal wenig Sinn, den Gehweg, wo man vor Autos sicher ist, abzuschaffen. Verwirrung ist allerdings genau das, was die Befürworter von Shared space schaffen wollen. Und zwar bei allen Verkehrsteilnehmern.

Die Logik dahinter? Steigt das Risikoempfinden der Verkehrsteilnehmer, sind sie aufmerksamer und vorsichtiger. Durch ihre Verunsicherung, so die Theorie, wird die Verkehrssituation sicherer, weil die Beteiligten genötigt sind, Blickkontakt zu suchen und deshalb der Umgang miteinander rücksichtsvoller wird. Im Umkehrschluss sagt Paul Hammelmann von der Sécurité routière: „Sieht die Straße aus wie eine Autobahn, fahren die Leute auch wie auf einer Autobahn.“ Er war es, der das Konzept Shared space vor Jahren über einen Korrespondentenbeitrag im Lëtzebuerger Land entdeckte und daraufhin zur Studienreise ins niederländische Drachten aufbrach. Außer Journalisten waren auch die Bartringer Gemeindeverantwortlichen mit dabei. Nach der Visite, so Colabianchi, waren sie überzeugt, dass Shared space das richtige Mittel sei, um den Verkehr im Bartringer Dorfkern in den Griff zu bekommen. Die Kreuzung der Bartringer mit der Leudelinger Straße passieren täglich 9 000 PKW und LKW, wie eine Zählung vor zwei Jahren ergab. Immer noch recht viel, trotz der schon unter Colabianchis Amtsvorgänger Nikki Bettendorf geplanten Umgehungsstraßen.

So werden nun in vier Umsetzungsphasen insgesamt 8 000 Quadratmeter um Kirche, Gemeindehaus und Schule in Shared space umgewandelt. Trotz anfänglichen Widerstands aus der Bevölkerung. Überwunden hat ihn die Gemeinde, indem sie allen Interessenten die Möglichkeit gab, die Planung mitzugestalten. In der Arbeitsgruppe waren nicht nur die örtliche Polizei, Lehrkörper und Elternvertretung vertreten, sondern schließlich auch die Vereinigung Adapth, die sich selbst als Kompetenzzentrum für die Zugänglichkeit von Gebäuden und Infrastrukturen für alle Mitglieder der Gesellschaft bezeichnet. Denn einen Aspekt hatten die Bartringer Gemeindeverantwortlichen unterschätzt, wie Colabianchi einräumt: Wie bewegen sich Leute mit reduzierter Mobilität und vor allem Sehbehinderte im Shared space? Besonders für Letztere ist der Aufenthalt im Shared space schwierig, weil ohne Gehsteige, Geländer, Ampeln und Zebrastreifen die Orientierungsmöglichkeiten fehlen. Mit der Adapth, die auch andere Gemeinden zu Shared space berät, wurde eine Lösung gefunden: In die uniforme Pflasterfläche werden Routen aus rillenförmigen Steinen gelegt, die als Tasthilfe dienen und Sehbehinderten auch an anderen öffentlichen Plätzen und Verkehrsampeln eine Orientierungshilfe sind.

Auf zwischen 2,5 und drei Millionen Euro schätzt Colabianchi die Zusatzkosten für das Shared space-Projekt; wegen der Instandsetzung der Abwasser- infrastruktur, erklärt der Bürgermeister, waren Straßenbauarbeiten in der betroffenen Zone ohnehin notwendig, Kostenpunkt insgesamt: rund 8,6 Millionen Euro.

Konkret verändern wird sich einiges im Dorfkern. Die Führung der Luxemburger Straße entlang des Bureck und der Kirche wird künftig eckiger verlaufen, ein neuer Springbrunnen wird am Bureck entstehen. Der Park im Zentrum wird erweitert und gegenüber vom Rathaus auf der Leudelinger Straße ein Pavillon mit Restaurant und Terrasse entstehen, der in den öffentlichen Raum hineinreicht und so die „Straße“ einengt. Die gesamte Fläche wird geebnet, die Gehwege, Verkehrsinseln und Bussteige verschwinden. Stattdessen entstehen neben dem Rathaus Petanquefelder. In der neuen Zone gilt ein Tempolimit von 20 Stundenkilometern.

Beraten lassen hat sich die Gemeinde vom Ingenieurbüro Schroeder & Associés und dem Landschaftsplanungsbüro Ernst & Partner. Besondere Shared Space-Experten waren nicht dabei. Für Colabianchi ist das kein Problem: „Es gibt zwei, drei Grundideen, die man verstehen muss:“ Der Rest ergebe sich dann von selbst, ist er überzeugt.

Shared space-Konzepte haben vor allem in Großbritannien großen Anklang gefunden, wo das Transportministerium Untersuchungen über die Wirkung der Shared Space-Anordnung von Kreuzungen und Straßenzügen in Auftrag gab und 2011 Richtlinien erließ, in denen den lokalen Verwaltungen empfohlen wurde, mehr Shared space zu wagen. Bei den Studien ergab sich beispielsweise, dass die Unfallquote an einer in Shared space umgewandelten Kreuzung in Ashford in der Grafschaft Kent um 41 Prozent zurückging. Auch andere Gemeinden meldeten positive Ergebnisse bei den Unfallstatistiken.

Doch ein Bericht der University of the West of England in Bristol von 2012 warnt vor falschen Schlussfolgerungen zu Ursachen und Wirkungen im Shared space. Weil das Konzept nicht genau definiert sei und nicht einheitlich umgesetzt werde, sei es schwer zu analysieren, worauf genau sinkende Unfallraten zurückzuführen sind: das niedrige Tempolimit oder die gemeinschaftliche Nutzung des Raumes? Ohnehin sei nicht eindeutig festzustellen, ob die Unfallraten in allen Shared space-Gebieten tatsächlich rückläufig sind – vor allem in Zonen mit hohem Verkehrsaufkommen, das hatten die von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Studien gezeigt, war das Gegenteil festgestellt worden. Viele Fußgänger fühlten sich im Shared Space unsicher, fand das Team um Steve Melia heraus. Und: „Our study of Ashford suggests that weekday flows of 9 000 to 10 000 vehicles per day at average speeds of around 20 miles per hour create a poor environment for a ‚pure’ shared space“, so Melia in einem Artikel in der Zeitschrift Highways. Er hält es für fraglich, ob Fußgänger sich den „geteilten“ Raum tatsächlich mehr aneignen, also die Autos ihnen eher ausweichen als die Fußgänger den Autos.

In Bartringen glaubt man indes fest an das Konzept. Auch rechtlich hält man sich für abgesichert, seit 2009 die „Zone de rencontre“ in die Straßenverkehrsordnung aufgenommen wurde – keine unwichtige Frage, weil es innerhalb des Shared space keine Straßenschilder gibt. Offiziell gilt dort Tempo 20 und das Recht der Fußgänger, die „Fahrbahn“ überall zu überqueren. Bis 2015 sollen die Bauarbeiten in Bartringen abgeschlossen sein, dann wird sich das Shared space im Alltag bewähren müssen.

Michèle Sinner
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