„Das Thema liegt mir am Herzen“, hatte Justizminister Luc Frieden (CSV) gemeint, als er vor Mitte Juli trotz vollem Terminkalender d’Land traf, um über Luxemburgs Position bei der europäische Sicherheitspolitik zu diskutieren. Das war kaum übertrieben, immerhin ernete er gar Lob vom deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), in der Vergangenheit ob seiner exzessiven Sicherheitsvorstellungen massiv kritisiert. So angetan war Schäuble von Friedens Faible für Sicherheit, dass er den Luxemburger vergangenes Jahr in die so genannte Zukunftsgruppe einlud. Die unter portugiesischer Präsidentschaft ins Leben gerufene informelle Gruppe, zu deren Mitgliedern der Vizepräsident der Europäischen Kommission und die Innenminister der damaligen und folgenden Trio-Präsidentschaften zählen, sollte als exklusiver Thinktank abseits der üblichen Ratsroutine künftige Prioritäten in der europäischen Sicherheitspolitik diskutieren.
Die liegen nun vor; auf 53 Seiten mit dem wohlklingenden Titel Freiheit, Sicherheit, Privatheit – Europäische Sicherheitspolitik in einer offenen Welt hat die Gruppe festgehalten, wie sie sich die Anti-Terror-, die Strafverfolgungs- und die Grenz- und Immigrationspolitik der EU der nächsten fünf Jahre vorstellt. Der Bericht soll als Vorlage dienen, wenn 2009 eine neue Europäische Kommission über einen Nachfolgeplan für das auslaufende Haager Sicherheitsprogramm beraten wird. Auch Friedens Überlegungen sind darin eingeflossen.
Alles überragender Leitgedanke ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die weiter forciert werden soll. Seit den New Yorker Attentaten hat sich der sicherheitspolitische Diskurs in Europa grundlegend gewandelt, von der Verhinderung konkreter Anschläge hin zu mehr präventiver Sicherheit (d’Land, 25. Juli 2008). Der verstärkte Informationsaustausch gilt im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität als unabdingbar. Waren im Rahmen des Prümer Vertrags zunächst acht EU-Länder im Alleingang vorgeprescht, hat das Vorhaben, die polizeiliche Zusammenarbeit auf sämtliche 27 EU-Staaten auszudehnen, mit dem Ratsbeschluss vom Juni 2007 eine rechtliche Grundlage bekommen. Zu den vehemenstesten Antreibern einer Europäisierung zählt auch Prüm-Erstunterzeichnerland Luxemburg. Daran, wie er und sein deutscher Kollege, Ex-Innenminister Otto Schily, von zögerlichen Fortschritten frustriert, im Edelrestaurant Clairefontaine gemeinsam grübelten, wie die polizeiliche Zusammenarbeit und besonders der Informationsaustausch in Europa verbessert werden könnte, erinnert sich Frieden noch heute gerne.
Fünf Jahre später sind die Verfechter einer europäischen Sicherheitsarchitektur entscheidende Schritte weiter. Auf dem Treffen der europäischen Justiz- und Innenminister vor zwei Wochen in Brüssel wurden die Vorschläge der Zukunftsgruppe zwar nur „zur Kenntnis“ genommen. Aber Ratspräsident Nicolas Sarkozy und seine Parteikollegin, Verteidigungsministerin Michèle Aillot-Marie, haben sich eine beschleunigte Europäisierung der Sicherheitspolitik ebenfalls auf die Fahnen geschrieben. Von den Franzosen stammt die Idee, das unter luxemburgischer Präsidentschaft entwickelte Verfügbarkeitsprinzip künftig durch das Konvergenzprinzip zu ergänzen.
Es sieht vor, die technischen, organisatorischen und juristischen Rahmenbedingungen der 27 EU-Länder einander so anzupassen, dass Polizei und Gerichte europaweit Zugriff auf wichtige nationale Datenbanken bekommen. Zunächst sollen sich die 27 auf eine Hitliste der zehn wichtigsten Datenbanken einigen. Bislang verwendet nahezu jedes Land seine eigene Hard- und Software, die unterschiedlichen Kommunikationstechnologien Rechtsnormen erschweren die grenzüberschreitende Ermittlungsarbeit. Darüber hinaus meint Harmonisierung, dass bisherige juristische Normen auf den Prüfstein kommen sollen. Justizminister Frieden machte im Land-Gespräch kein Hehl daraus, er habe mit den luxemburgischen Bestimmungen zur nationalen DNA-Datenbank „ein ernsthaftes Problem“ und sähe sie am liebsten gelockert. Anders als bei den Prüm-Partnerländern Deutschland oder Österreich ist die Herausgabe konkreter genetischer Profile ans Ausland hierzulande nur über ein Rechtshilfeverfahren möglich. Das dauert oft Monate. Zu lange, findet Frieden.
Die Vielzahl technischer und juristischer Normen war auch ein Grund, warum ein weiterer Wunsch von Europas obersten Fahndern, das zweite Schengener Informationssystem (SIS II), nicht wie geplant 2007 starten konnte. Der Verbund nationaler Datenbanken, den die EU-Kommission seit 2002 energisch vorantreibt, wird, anders als sein Vorgänger, keine reine Fahndungsdatei mehr sein, sondern wird zur Ermittlungsdatenbank umgebaut. Neben Terrorverdächtigen sollen Familienangehörige sowie angebliche „gewalttätige Unruhestifter“, das können Demonstranten sein, dort gespeichert werden. Auch Anfragen nach biometrischen Daten und Lichtbildern, wie sie zum Teil in einigen EU-Pässen enthalten respektive für Personalausweise in Planung sind, sollen möglich werden. Über elf Millionen Einträge verzeichnet die Datei heute. Mit dem Konvergenzprinzip würden alle Staaten auf gleiche Standards verpflichtet.
Zugriff zu den Daten erhalten aber nicht nur die nationalen Strafverfolgungsbehörden, sondern auch Eurojust und Europol. Mit der Anerkennung Europols als EU-Agentur im Dezember 2007 gehen weiter gehende Befugnisse einher. Zuvor war die Arbeit aufs Datensammeln und Auswerten beschränkt, Europol-Beamte durften keine Festnahmen oder Hausdurchsuchungen durchführen. Nunmehr soll das „Einholen, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen von Daten“ und das Koordinieren grenzüberschreitender Ermittlungen zur Kernaufgabe werden; die nationalen Polizeidienste sind zur Zusammenarbeit verpflichtet. Die Liste der Straftaten, bei denen Europol aktiv werden darf, wurde von organisierter Kriminalität zudem auf andere Arten schwerer Straftaten erweitert. Das Netz der Strafverfolger wird immer engmaschiger.
Für den Luxemburger Polizei- und Justizminister, der „zu 100 Prozent“ hinter dem Abschlussbericht der Zukunftsgruppe steht, eigentlich ein Erfolg – und trotzdem ist er nicht völlig zufrieden: „Wir müssen noch europäischer denken.“ Frieden gehört zu jenen Ministern im Rat, die darauf drängen, mehr nationale Befugnisse auf die Brüsseler Ebene zu übertragen: bei der Strafverfolgung, den Grenzkontrollen, den militärischen und polizeilichen Auslandsoperationen in so genannten Drittstaaten. Mittelfristig kann sich der Minister eine zentrale europäische Datenbank vorstellen: „Das hätte den Vorteil, dass es gemeinsame Regeln geben würde, was in eine Datenbank kommt, wer Zugang hat und was für einen Datenschutz wir haben wollen.“
Mit Deutschlands und Frankreich, wo ebenfalls rechtskonservative Regierungschefs an der Spitze stehen, ist sich Frieden weitgehend einig, doch im Rat überwiegen die Skeptiker. Bei sicherheitspolitischen Fragen gilt das Einstimmigkeitsprinzip, weshalb Kommissionspräsident José Barroso vorgeschlagen hat, die Passerelle-Klausel im Nizza-Vertrag zu nutzen, um in bestimmten Justizfragen zur qualifizierten Mehrheit überzugehen, eine Idee, die Luxemburg unterstützt. Weil durch das irische Nein die Kritiker Aufwind bekommen haben, bleibt Frieden und Co. nichts anderes, als abzuwarten – und die Dinge im stillen Kämmerlein voranzutreiben.
Was zunehmend schwieriger wird, denn angesichts immer größerer Datenberge mehren sich sorgenvolle Stimmen. Datenschützer und Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit langem die intransparente Vorgehensweise der EU-Regierungen im Bereich der Sicherheitspolitik. Mit Blick auf den Schengener Datenbankenverbund SIS II warnte Statewatch vor einem „powerful apparatus for surveillance and control with very serious implications for the poeple that will be registered“. Obwohl elementare Bürgerrechte, wie das auf Privatsphäre, betroffen sind, wurden das Europäische Parlament (EP) und der Europäische Datenschutzbeauftragte zu den Plänen nicht gehört.
Wie zweifelhaft das Argument ist, eine wachsende Terrorgefahr und die organisierte Kriminalität machten den forcierten Informationsaustausch nötig, entlarvt ausgerechnet eine Studie der EU-Kommission vom Januar 2008, in der sie selbst zugibt, dass „none of the policy options contribute markedly to reducing terrorism or serious crime (...). In view of the latest terrorists acts in the area of the EU, it can be noted that the perpetartors have mainly been EU citizens or foreigners residing and living in the members states. Usually there has been no information about these people or about their terrorist connections in the registers, for example in the SIS or national databases“. Trotzdem wird fleißig am präventiven Sicherheitsapparat gebastelt, der Datenschutz bleibt auf der Strecke.Dazu passt, dass die Vorarbeiten zum Datenschutz für die dritte Säule nicht vom Fleck kommen. Der EP-Innenausschuss stellt in seinem Gutachten zur Ratsvorlage vom 15. Juli fest, der Rat habe „den ursprünglichen Kompromissvorschlag seines Inhaltes beraubt“. Die Richtlinie ist für den polizeilichen Bereich „nicht anwendbar“; ein System von neu zu schaffenden Datenschutz-Kontrollgruppen haben die EU-Minister aus dem Entwurf gestrichen. Auch mit dem Lissabon-Vertrag würden die demokratischen Kontrollmöglichkeiten nicht besser: Das EP würde in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik nur informiert und angehört; Entscheidungen träfe weiterhin ausschließlich der Rat.
Wohl auch deshalb wächst der Widerstand auf nationaler Ebene. In Frankreich liegt ein Einspruch beim Conseil d’état gegen die Datenbank Edvige vor. Französische Staatsbehörden sollen Daten sammeln dürfen von „personnes physiques ou morales ayant sollicité, exercé ou exerçant un mandat politique, syndical ou économique ou qui jouent un rôle institutionnel, économique, social ou réligieux significatif“. In Schweden schickten sechs Millionen schwedische Bürger Protestmails an ihre Regierung, nachdem diese ein Gesetz beschlossen hatte, wonach von Januar 2009 der gesamte Internet-Datenverkehr von und nach Schweden überwacht werden soll. In Deutschland ist eine Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Der Gegenwind, der Frieden und seinen Freunden entgegen bläst, wird stärker.