Auch Volkswirtschaften gehen mit der Mode. Prozesse, die gestern erstrebenswert schienen, verursachen heute Panik – und umgekehrt. So ist bald der Dienstleistungsstaat schicker als die Industrie, bald wird vor der Desindustrialisierung gewarnt.
Die damalige Wirtschaftsministerin Colette Flesch (DP) nannte bei der Eröffnung der Herbstmesse 1983 die Stahlindustrie eine „industrie crépusculaire“, die möglichst schnell begraben werden sollte, um Ressourcen für andere Wirtschaftsbereiche frei zu setzen. Doch wer sich damals über den Boom des Finanzplatzes freute, warnt heute, wie der parlamentarische Bericht zum Staatshaushalt vor einem Jahr, vor den „dangers inhérents au quasi-monolithisme de l’économie luxembourgeoise, trop dépendante du seul secteur financier“.
Dabei ist die Evolutionstheorie des Ehepaars Toffler mittlerweile Allgemeingut. Sie feiert teleologisch den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg der Produktionsverhältnisse von der als primitiv angesehenen Landwirtschaft über die für fortschrittsfreudig und robust gehaltene Industrie bis hin zu den angeblich sauberen und eleganten Dienstleistungen als höchste Form menschlicher Aktivität. Abweichende Meinungen vertreten inzwischen allerlei Propheten neuer postindustrieller und postmoderner Revolutionen, denen auch die Dienstleitungswirtschaft noch nicht virtuell genug ist und die eine mit dem Internet verkabelte Wissens- und Wasserstoffgesellschaft aufsteigen sehen. Ökologisch bewegte Romantiker und reaktionäre Architekten werben dagegen für eine Rückkehr zu agrarisch-handwerklichen Verhältnissen vor der industriellen Revolution.
In seinem Bericht Compétitivité du Luxembourg: une paille dans l’acier lobte 2004 auch der vom Wirtschafts-ministerium verpflichtete Wettbe-werbsspezialist Lionel Fontagné: „La reconversion d’une structure économique fortement marquée par l’industrie à une économie de services ayant surfé sur la bulle financière a été un succès total.” Doch nach jeder geplatzten Spekulationsblase wird der gerade amtierende Wirtschaftsminister aufgefordert, mit frischem Elan und dem Erbgroßherzog im Gepäck auf Prospektionsreise zu gehen, um aus den entlegensten Ländern neue Industriebetrie-be anzulocken und so die zu einseitig dem Finanzplatz vertrauende Volkswirtschaft zu diversifizieren.
Doch es sind schon sieben Jahre her, dass die Nationale Kredit- und Investitionsgesellschaft zum letzten Mal in ihrem Rechenschaftsbericht eine Liste unter dem Titel „Politique de diversification économique: entreprises nouvelles et emplois nouveaux“ veröffentlichte, die sämtliche 183 seit 1975 gegründeten und noch aktiven „neuen Industrien“ mit der Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze aufführte – beginnend mit dem Röhrenhersteller Famaplast aus Zolver. Fast ebenso lang ist es her, dass das Parlament am Beispiel des Sassenheimer Pressspanfabrikanten Kronospan ausschweifende Diskussionen darüber führte, ob künftig nur noch ausländisches Kapital akzeptiert werden soll, das besonders sauber, besonders geräuscharm und mit höchstem Mehrwert investiert wird.
Tatsächlich ist laut Eurostat der Anteil der verarbeitenden Industrie am gesamten Mehrwert in Luxemburg mit zehn Prozent der niedrigste in der Europäischen Union und nur halb so groß wie im EU-Durchschnitt. Während der Finanzsektor den EU-weit höchsten Anteil aufweist. Aber daraus abzuleiten, dass die Industrie in Luxemburg zurückgeht, ist eine weit verbreitete optische Täuschung.
Denn zwischen 2000 und 2007 ist laut Statec-Jahrbuch der Umsatz der verarbeitenden Industrie von 7,8 auf 11,1 Milliarden Euro gestiegen, der Wert der hergestellten Waren hat von 7,0 auf 10,5 Milliarden und der Mehrwert von 2,3 auf 3,2 Milliarden Euro zugenommen. Dies entspricht binnen nur sieben Jahren einer Steigerung des Umsatzes um 42 Prozent, des Warenwerts um 50 Prozent und des Mehrwerts um 39 Prozent. Ein rückläufiger Wirtschaftszweig sieht anders aus. Die robuste Entwicklung hat unter anderem mit dem spektakulären Boom der Stahlindustrie zu tun, der seit über einem Jahrhundert wichtigsten Industrie im Land.
Entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben ist die absolute Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie auffallend konstant geblieben; nur der Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist zurückgegangen, weil die Zahl der Arbeitsplätze in den Dienstleistungen rasant gestiegen ist. Die Zahl der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie liegt heute auf dem gleichen Niveau wie vor 50 Jahren: 1960 waren es laut Statec-Jahrbuch 35 151, 2007 dann 35 215 Beschäftigte. Und dies obwohl in dieser Zeitspanne die Belegschaft von Stahlindustrie und Bergbau von 27 301 auf 4 495 gesunken ist.
1974 hatte die Zahl der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie mit 50 798 Beschäftigten einen historischen Höhepunkt erreicht. Die Hälfte dieser Arbeitsplätze war in der Stahlindustrie – doch 1974 war das Jahr, als die große Stahlkrise ausbrach.
Der Rückgang der Schwerindustrie wurde trotz Tertiarisierung von anderen Industriezweigen voll kompensiert. Gar nicht zu reden vom Baugewerbe, dessen Beschäftigtenzahl sich zwischen 1960 und 2007 mehr als verdreifachte und von 9 950 auf 36 737 stieg.
Angesichts des winzigen Binnenmarkts ist die Luxemburger Industrie seit ihren Anfängen vor allen eine Exportindustrie. Und im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts ist es ihr sogar gelungen, ihren Anteil am Weltmarkt zu vergrößern – und dies trotz der Exportoffensive Chinas und anderer asiatischer und südamerikanischer Staaten. Dies rechnet jedenfalls die im Frühjahr vom Statec veröffentlichte Studie Comportement à l’exportation des filiales étrangères implantées dans l’industrie du Luxembourg vor. Auch wenn der Luxemburger Anteil am Welthandel mit weniger als 0,2 Prozent selbstverständlich homöopathisch bleibt.
Auf die Frage, wem das hiesige Industriekapital gehört, gibt die Statec-Studie ebenfalls eine Antwort: 94 Prozent der Luxemburger Industrieexporte werden von Tochterunternehmen ausländischer Firmen hergestellt. Was auch in Zeiten des Index und der Deflationspolitik als Treuebekenntnis zu einem Produktionsstandort gelesen werden kann, der zumindest bisher hohe Nettolöhne durch hohe Produktivität und niedrige Lohnnebenkosten kompensierte.
Dass rauchende Schlote einst als Symbol des wirtschaftlichen Wohlstands und heute der drohenden Klimakatastrophe angesehen werden, spiegelt nur das Ansehen wider, das die Industrie in der zumindest kulturell von Angestellten, Beamten und Freischaffenden dominierten Gesellschaft und ihren Medien genießt. Die politische Entsprechung ist auch ein wenig die Einführung des arbeitsrechtlichen Einheitsstatuts, durch den die lange als „gefährliche Klasse“ gefürchteten Industriearbeiter mit einem Federstrich weggezaubert wurden. Denn durch das Einheitsstatut wurden nicht alle Beschäftigten der Privatwirtschaft in neutrale „Arbeitnehmer“ verwandelt. Mit den entsprechenden politischen Konsequenzen: Noch eher das Gesetz vergangenes Jahr in Kraft trat, hatte eine Fraktion in der LSAP wieder einmal beantragt, das Wort „Arbeiter“ aus dem Parteinamen zu streichen, und die DP zog vergangenes Jahr als bekennende Partei der Mittelschichten in den Wahlkampf.
Wäre da nicht vor zwei Jahren das ganze internationale Finanzsystem an den Rand des Kollaps geraten. Deshalb veröffentlichte die Europäische Kommission vor anderthalb Wochen eine Mitteilung über „eine integrierte Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung“ unter dem Motto „Vorrang für Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit“. Diese Leitinitiative für die Strategie Europa 2020 beginnt mit den schönen Worten: „Jetzt mehr denn je braucht Europa seine Industrie...“