Als der Ärzteverband AMMD vor drei Wochen seinen Beschluss zum Bummelstreik bekannt gab, bemühten seine Spitzenfunktionäre sich zu unterstreichen, wie die Gesundheitsreform den Patienten schaden werde. Sie gaben nicht nur jene einfachen Botschaften aus, die seither als Karikaturen in den Wartezimmern vieler Arztpraxen aushängen: Wie etwa die vom „gläsernen Patienten“, der nicht entscheiden könne, wer in seine elektronische Patientenakte Einblick nehmen darf. Im Patienteninteresse übte die AMMD auch sehr subtile Kritik. Wer den Hausarzt zum Referenzmediziner aufwerten will, kritisierte sie zum Beispiel, der brauche einen Plan für die Versorgung chronisch Kranker. Der aber fehle. Und dass die Gesundheitskasse künftig Programme zur Präventivmedizin auflegen soll, sei eine gute Idee, doch über die Strategie für Prävention, die die Regierung seit 2004 verspricht, stehe in der Reform kein Wort.
Bei so viel Einsatz erstaunt es, dass in dem 17-Punkte-Forderungskatalog, den der Ärzteverband am Donnerstag vor den Allerheiligenferien dem parlamentarischen Gesundheits- und Sozialausschuss vorlegte, Patientenbelange nur eine Nebenrolle spielen und es um sie in nur drei der 17 Punkte geht: Zum einen soll kein Apotheker ein ärztlich verschriebenes Medikament „substituieren“ dürfen. Zweitens soll ein Patient sich der Aufnahme bestimmter Daten in seine elektronische Akte widersetzen können, der Einsichtnahme durch Drittpersonen ebenfalls. Und drittens soll der Referenzmediziner lediglich Berater und Begleiter durchs System sein und eine Rolle in der Vorsorge spielen.
Sollte die Reform etwa am Ende den Patienten mehr nützen, als die AMMD einzugestehen bereit ist? Zumal zwei dieser drei Forderungen im endgültigen Gesetzentwurf, der seit Oktober im Parlament liegt, weitgehend entsprochen wird: Von der Idee, in einer „späteren Phase“ einen Versicherten durch bessere Rückerstattung seiner Arztrechnung zu belohnen, falls er sich vom Referenzmediziner zum Spezialisten überweisen lässt, ist im Motivenbericht zum Gesetzentwurf noch immer die Rede. Doch das ist nur noch ein politisches Bekenntnis; eine solche Option im Krankenkassengesetz festzuschreiben, gab Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP) schon im September auf.
Für die Hoheit des Patienten über sein e-Dossier scheint nun ebenfalls gesorgt: „Chaque patient peut à tout moment s’opposer au partage de données le concernant au sein d’un dossier de soins partagé“, steht im Entwurf zum neuen Artikel 60quater zum Krankenkassengesetz, und dass nach Begutachtung durch die Datenschutzkommission unterschiedliche „niveaux d’accès“ für die verschiedenen medizinischen Dienstleister festgelegt werden sollen.
Bliebe die Medikamenten-Substitution; an ihr hält die Regierung fest. Vielleicht entsteht daraus noch ein Problem für die Fachleute, denn dass beispielsweise Medikamente mit denselben wirksamen Molekülen von verschiedenen Herstellern in Patienten unterschiedlich wirken können, wird in der klinischen Praxis tatsächlich beobachtet. Andererseits begründete die AMMD, als im Frühjahr Arbeitsgruppen über einen Reformansatz diskutierten, ihre Ablehnung des Substitutionsprinzips unter anderem auch damit, dass Luxemburg neben Griechenland der letzte EU-Staat sei, in dem noch uneingeschränkte Medikamenten-Verschreibungsfreiheit herrsche. Doch sich bei der Verteilung öffentlicher Gelder an Griechenland zu orientieren, ist seit Anfang des Jahres unpopulär geworden.
Womit sich aus Patientensicht die Frage stellt, weshalb die AMMD überhaupt einen „service réduit“ fahren lässt. Auch in den Separatgesprächen mit den Fraktionen der Koalition, die gestern mit einem Treffen mit der LSAP begannen und am Nachmittag sogar zu einer Begegnung mit dem Minister allein führten, verlangt der Ärzteverband, wenn nicht die Zurücknahme des Reformentwurfs, dann die Erfüllung seiner 17 Forderungen. Davon jedoch behandeln sieben die Arzthonorare, und in weiteren sieben geht es um Einfluss und Kontrolle. Die Patienten aber berühren diese Fragen nur mittelbar.
Für sie kann die Reform bei näherem Hinschauen wie ein sozialdemokratischer Entwurf par excellence erscheinen. Einerseits ist sie der Versuch, am „dritten Weg“ zwischen einer Staatsmedizin nach britischem oder schwedischem Vorbild und einem Marktmodell wie in den USA festzuhalten und eine Art Bürgerversicherung zu garantieren, die trotz der höheren Eigenbeteiligungen, die der CNS-Vorstand am Mittwoch beschloss, weiterhin einen breiten Leistungsumfang bei hoher Rückerstattungsrate gewährt. Neue Angebote an den Patienten werden ebenfalls gemacht: Referenzarzt und e-Dossier gehören dazu; daneben aber sollen das Direktzahlersystem ausgeweitet und künftig auch die Kosten für ambulante Arztbehandlungen in den Kliniken unmittelbar durch die CNS übernommen werden. Ein weiteres nicht ganz unwichtiges Detail betrifft Zahn-Implantate: Für sie soll die CNS ebenfalls aufkommen. Wenngleich noch unklar ist, in welcher Höhe.
Andererseits soll die Reform einen Rahmen abstecken für die Kontrolle von Qualität und Kosteneffizienz sowie Transparenz garantieren helfen. An Letzterer mangelt es im Luxemburger System akut: Was nützt einem Patienten die freie Arztwahl, wenn er nicht weiß, wohin er sich wenden sollte? Gleichzeitig ist das System hierzulande pro Kopf seiner rund 700 000 Versicherten, inklusive Grenzpendler, das viertteuerste der OECD-Staaten nach dem der USA, Norwegens und der Schweiz, und die Resultate seiner öffentlichen Gesundheit gehören längst nicht überall zur Weltspitze – sofern überhaupt vergleichbare Resultate verfügbar sind.
Es ist vor allem dieser Punkt, an dem sich die Konflikte entzünden: Die Reform soll Kompetenzen bündeln. Für bestimmte Krankheiten, wie etwa verschiedene Krebsarten, sollen Behandlungsketten definiert werden, die von der ambulanten Diagnose über die Behandlung in noch zu schaffenden Kompetenzzentren bis hin zur Nachsorge reichen. Geht es nach dem aktuellen Stand des Reformentwurfs, soll künftig, sofern es solche Versorgungsketten gibt, nur innerhalb von ihnen freie Arztwahl gelten. Was die AMMD in Punkt 15 ihres Katalogs ablehnt. Aber: Würde der Gesetzgeber nicht ganz und gar seiner Rolle gerecht, wenn er das Freiheitsrecht des Patienten auf jene Bereiche beschränkt, in denen maximale Qualität erwartet werden darf – zumal, wenn sie öffentlich und aus Kassenbeiträgen finanziert wird?
Einen Eindruck davon, welche Diskussionen um Behandlungsqualität noch bevorstehen könnten, hat die Auseinandersetzung um die Brustkrebs-Operationen diese Woche geliefert: Di Bartolomeo hatte vor zwei Wochen in einem Interview über eine Erhebung im Rahmen des Mammografie-Programms berichtet. Ihr zufolge hatten über vier Jahre hinweg von 57 Gynäkologen, die Brustkrebspatientinnen operierten, nur vier mehr als 20 Operationen im Jahr vorgenommen, während es 24 Ärzte auf weniger als fünf Operationen jährlich brachten. „Europäische Richtlinien“, so der Minister, würden 50 Eingriffe pro Arzt und Jahr vorschreiben.
Beim Gynäkologen-Fachverband haben diese Erklärungen für Empörung gesorgt. Auf einer Pressekonferenz gestern Vormittag wurde darauf verwiesen, dass in Frankreich 30 Operationen „par structure de soins“ vorgeschrieben seien, und es hieß, ob ein Arzt fünf, zehn oder 30 Brustkrebs-Fälle im Jahr operiere, sei eigentlich „egal“, denn die Behandlungsqualität entscheide sich nicht allein an den Operationen. Doch die Behauptung, lediglich „irgendeine englische Publikation“ spreche von 50 Operationen pro Arzt und Jahr, ist falsch: Es ist die Europäische Gesellschaft für Brustkrebsspezialisten (Eusoma), die zu den Requirements of a specialist breast unit schreibt: „There must be at least two nominated specialist breast surgeons (including Gynecologists performing breast surgery) specially trained in breast disease, each of whom must personally carry out the primary surgery on at least 50 newly diagnosed cancers per annum.“ (S.5)1 Und in Belgien gilt seit Anfang 2008 für die Zulassung von Kliniken zur Brustkrebsbehandlung: „Les médecins-spécialistes visés doivent effectuer, annuellement, au moins 50 interventions chirurgicales pour de nouveaux cas de cancer du sein.“2 Das Mindeste, was man anhand der nun öffentlich gewordenen Brustkrebszahlen behaupten kann, ist die Notwendigkeit, sich darüber klar zu werden, was unter Behandlungsqualität hierzulande verstanden werden soll.
Letzten Endes wäre es keine „Staatsmedizin“, die die Gesundheitsreform mit sich brächte, sondern mehr Management. Vor allem in den Kliniken, die stärker als bisher nach einer Art Geschäftsmodell zu funktionieren hätten, auch wenn es hierzulande keinen Gesundheitsmarkt mit freien Preisen gibt. Weil die AMMD das erkannt hat, richtet ein Teil ihrer Bemühungen sich darauf, größeren Einfluss in den Kliniken zu gewinnen: Mitverwaltung der Ärzte als gleichberechtigte Partner der Spitaldirektionen verlangt sie in Punkt 14 ihrer Forderungen. Gemeint damit sind weit reichende Einspruchsmöglichkeiten für die Medizinerräte in den Kliniken, wie der Ärzteverband sie schon als Vorschlag zu Papier gebracht hat. Würde sich ein Klinik-Verwaltungsrat mit den Ärztevertretern nicht einig über eine Frage, die die Organisa-tion im Spital betrifft, müsste er sich in einen mehrstufigen Vermittlungsprozess begeben, der Monate dauern kann. Das Verfahren gibt es heute schon, es würde aber verschärft.
Dass ihr Einfluss wüchse, strebt die AMMD auch in der Honorarfrage an: Möglicherweise ist die Wut ihrer Spitze auf den Minister deshalb so groß, weil er ihr im September die „paritätische“ Besetzung jener Kommission versprach, die über die Gebührenordnung entscheidet, und die AMMD verstand, sie könne in das Gremium künftig so viele Delegierte entsenden wie Staat und CNS zusammen. Dagegen heißt „Parität“ im Gesetzentwurf, dass neben Staat und Kasse auch der Klinikverband und die Ärztekammer in der Kommission vertreten sein sollen. Eine solche Beteiligung weiterer medizinischer Insider will die AMMD in Punkt 3 ihrer Forderungen unterbinden.
Ob dies den Patienten nutzen würde, ist eine andere Frage. Etwa, weil es trotz aller fachlichen Dominanz der AMMD in dieser Kommission noch immer Behandlungsarten gibt, die aufwändig und riskant sind, aber kaum besser bezahlt als eine Handwerksleistung, und das Tarifwerk andererseits so viele Lücken hat, dass zur Spezialisierung auf manche hochklassige Behandlungen für den à l’acte bezahlten Arzt gar kein Anreiz besteht. Vielleicht liegt es ja daran, dass dem Vernehmen nach in der Ärzteschaft die Bereitschaft zum weiteren Bummelstreik sinkt und Mediziner hinter vorgehaltener Hand finden, man müsse wieder mit dem Minister reden.