Freunde hat man nicht in der Politik. So sagt es ein altes Sprichwort. Man hat nicht einmal Bekannte. Vertraute schon gar nicht. So muss es der luxemburgische Ex-Premier Jean-Claude Juncker dieser Tage erleben. Einst gelobt als vorbildlicher Europäer, hofiert von Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, zitiert in allen Nachrichtensendungen und Tageszeitungen auf dem Kontinent, gefeiert als „Mister Euro“. Schlichtweg ein Vorzeigevorbildeuropäer. Früher. Heute ist er nur noch Herr Juncker. Und manche gönnen ihm nicht einmal das. Dazu braucht man die Schimpf- und Schmachtiraden des Eurogruppen-Chefs Jereon Dijsselbloems nicht zu wiederholen.
Gesucht wird die neue Führungsriege Europas. Dabei sollte gar nicht eine Person im Mittelpunkt stehen, sondern einzig und allein Europa, die europäische Idee. Doch das ist naiv. Oder fern aller Realität. Denn es geht um Macht. Nicht mehr. Vor allem aber nicht weniger. Dann sind alle Spielchen, alle Diskreditierungen, sind Schimpf, Schande und Nachtreten erlaubt. Gerne auch unter der Gürtellinie. Mit Bloßstellen und Diffamieren. Dann macht es erst so richtig Spaß. Das muss Jean-Claude Juncker in diesen Tagen erleben. Es geht für ihn nicht mehr nur um einen Spitzenposten in Brüssel, sondern um die Bewahrung des eigenen Vermächtnisses und den eigenen Ruf.
Aus der Ferne betrachtet, neigt man zur Milde der Distanz. Räumt dem europäischen Anliegen höheren Stellenwert ein, als der persönlichen Disposition. Es beginnt ein Abwägen, was spricht für Jean-Claude Juncker als Nachfolger von José Manuel Barroso? Was spricht gegen ihn? Als Pluspunkte zählen: Juncker ist Luxemburger und erfahrener Politiker. Gegen ihn spricht, dass er Luxemburger ist und verfahrener Politiker.
Pluspunkt Luxemburg: Jean-Claude Juncker kommt aus einem kleinen Mitgliedsstaat im Herzen Europas. Er ist kein Nordeuropäer, kein Südeuropäer, nicht zu weit im Osten und auch nicht im Westen, sondern irgendwie mittendrin. Er stammt nicht aus einem Global Player Europas, muss sich nicht vordringlichst um Weltpolitik kümmern, sondern kann sein Augenmerk beim Kontinent belassen. Er spricht fließend Französisch und Deutsch, kann sich damit in die Denkwelten der beiden Motoren des Europagetriebes hineindenken, versteht ihre Befindlichkeiten, ihre Kultur. Er ist vernetzt mit den europäischen Regierenden. Fragt man in Berlinerinnen und Berliner, wer der perfekte Europäer ist, dann fällt direkt sein Name. Stets in Abgrenzung von Angela Merkel, der Politikerin aus dem Osten, die von der europäischen Einigung in den Siebziger- und Achtzigerjahren nichts mitbekommen hat und das Konstrukt Europäische Union bis heute nicht verstanden hat. Nebenbei bemerkt: Die Deutschen können froh sein, dass Merkel keine überzeugte Europäerin ist, denn sonst würde sie nicht so kaltschnäuzig den deutschen Egotrip in der Union fahren. Juncker ist – jedenfalls in Berlin – nicht nur Mister Euro, sondern sogar Mister Europa.
Was spricht gegen ihn? Auch da hilft die Distanz der Ferne. Er ist Luxemburger und verfahrener Politiker. Nachdem im Sommer seine Regierung in Luxemburg im Sommer scheiterte, positionierte sich Jean-Claude Juncker zu zögerlich als Europäer, er blieb doch gerne Luxemburger. Auch er hielt an seiner Machtoption fest, als glaubte er, dass das Großherzogtum ohne ihn keinen Tag länger bestehen könnte. Er präsentierte sich als einer, der ebenfalls nicht genug Posten und Ämter häufen kann, der sich als unabkömmlich und unverzichtbar hielt und hält. Als einer, den die Macht trunken macht. Ein weiterer Nachteil ist, dass er aus Luxemburg kommt. Jener Insel der Glückseligkeit im tobenden Ozean Europa. Wie europäisch war seine Politik – etwa in Hinblick auf Grenzgänger aus Belgien, Frankreich und Deutschland. Wie sehr war Luxemburg unter seiner Ägide bereit zur Umverteilung in Europa beizutragen, Lasten zu schultern. Wie läuft Integration in Luxemburg ab? Weiß Luxemburg – und damit auch die Luxemburger an sich – wie der Alltag in anderen europäischen Ländern aussieht? Sein Management der Euro-Krise wurde in Berlin oft als selbstherrlich und besserwisserisch gewertet, denn folgsam und artig.
Jean-Claude Juncker sieht die Vorteile auf seiner Seite. Vor einer Woche kam er aus der Deckung und meldete seine Ansprüche auf die Nachfolge im Amt des EU-Kommissionspräsidenten an. Was dann folgte, glich einer Selbstverletzungsarie erster Güte. Angela Merkel wolle Juncker verhindern, hieß es zunächst aus dem offiziellen Berlin. Die Kanzlerin ließ dies über ihren Regierungssprecher sofort emotionslos zurückweisen. Doch sowohl das Herz Merkels und als auch des französischen Staatspräsidenten François Hollande schlägt für einen anderen Kandidaten. Ob nun der polnische Regierungschef Donald Tusk oder der irische Ministerpräsident Enda Kenny, das ist egal, er muss nur Paris und Berlin willfährig und leicht zu steuern sein. Zudem käme Tusk das Symbolhafte eines Aufbruchs zugute und Kenny das Image des Krisenbewältigers.
Dennoch: Jean-Claude Juncker wird nicht müde, Klinken zu putzen. Egal, wie hart der Gegenwind auch weht. Dann kennt er seine Gegner. Sein Kalkül ist denkbar einfach: Wer Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei den Wahlen Ende Mai wird, erhält – wie auch immer die Wahl ausgehen mag – automatisch eine Spitzenposition in Brüssel, ob als Präsident des Europäischen Rates oder tatsächlich als Chef der EU-Kommission. Denn es geht um Macht, die trunken macht. Jedenfalls gilt für den Ex-Premier nur eine Prämisse: runter von den unbedeutenden Oppositionsbänken im Großherzogtum und vor allem auch raus aus Luxemburg.