Und wenn man die Beiträge zur Rentenversicherung anheben würde, um dem Finanzierungsloch vorzubeugen, das sich für die 2020-er Jahre ankündigt? Alles, nur das nicht, lautet die Antwort der Union des entreprises luxembourgeoises. Denn es hieße, schon im kommenden Jahr den Beitragssatz von derzeit 24 Prozent auf über 39 Prozent der Lohnmasse zu erhöhen und auf Dauer bestehen zu lassen. Ein „höllischer Teufelskreis“ wäre die Folge: Die Wirtschaftsleistung würde sinken, die Rentenbeiträge müssten folglich noch weiter steigen, und am Ende wäre ein Pensionssystem, das seines Namens würdig wäre, gar nicht mehr finanzierbar.
Am Mittwoch hat die UEL ihr rentenpolitisches Positionspapier1 vorgestellt, das sie seit Monaten immer wieder ankündigte. Dass sie darin Beitragserhöhungen in die Nähe von Teufelszeug rückt, ist die aggressivste Äußerung in ihrem Papier, das ansonsten unpolemisch verfasst ist, und es ist Strategie und Taktik zugleich. Strategie, weil der Arbeitgeber-Dachverband den klar quantifizierbaren Standortvorteil niedriger Lohnnebenkosten erhalten will. Schon seit Jahren argumentiert er gegen Beitragserhöhungen und ließ es sich zuletzt im April 2006 in der Tripartite von der damaligen Regierung und den Gewerkschaften schriftlich geben, dass zumindest für die Krankenversicherung Beitragserhöhungen das allerletzte Mittel zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts seien.
Taktik ist die Beschwörung von Hölle und Teufel, weil sie insbesondere die neue Regierung provozieren muss. Denn Druck auf die Beiträge entsteht nicht nur, weil, wie die UEL nun errechnet hat, bis zum Jahr 2050 der Finanzierungsbedarf der Rentenversicherung bis auf 190 Prozent des BIP steigen könnte. Oder bis auf 200 Prozent des BIP im Jahr 2060, wie schon im Frühjahr die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) in ihrem Bericht an den „kleinen Rententisch“ schrieb (d’Land, 24.4.2009).
Dass der Staat die eigentlich nach dem „Bismarck-Modell“ paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragene Sozialversicherung mitfinanziert, ist in anderen „Bismarck-Ländern“ ebenso der Fall wie in Luxemburg. Im Herbst 2006 aber rechnete die Abteilung Sozialversicherung des Genfer Bureau international du travail (BIT) vor, dass dieser Fiskalanteil hierzulande um rund 40 Prozent höher liegt als in Deutschland und Frankreich2.
Um so folgenschwerer könnte sich auswirken, wenn dem Staatshaushalt schon dieses Jahr ein Minus von einer Milliarde oder gar von zwei Milliarden Euro droht, wie vergangene Woche gemunkelt wurde. Beruhen aber seit Jahren weitere 1,5 Milliarden Euro oder 16 Prozent der Staatseinnahmen nicht auf einer Produktivitätsentwicklung, sondern auf dem Tankstellenverkauf von Sprit, Zigaretten und Alkoholika vor allem an Transitreisende, und dienen die hohen Akziseneinnahmen systemisch zur Subventionierung neuer Jobs mit niedrigen Lohnnebenkosten für Arbeitnehmer, die „noch lange nicht in Rente gehen“, dann ist das ein Nachhaltigkeitsproblem, weil der Beschäftigungszuwachs auf ewig hoch sein müsste, um die Renten zu sichern. Ist jedoch heute schon klar, dass Harmonisierungsbestimmungen der EU den Akzisenfluss ab 2012 sehr stark einschränken werden, dann können die neuen Koalitionäre kaum mehr als beten, dass die Wirtschaft schon im nächsten Jahr wieder wächst – und sie könnten einen um fünf Prozentpunkte erhöhten staatlichen Beitragsanteil an der Rentenversicherung im Privatsektor für ähnlich unzumutbar halten, wie die UEL denselben Patronat und Standort ersparen will.
Doch wie gestern auf der Pressekonferenz zu den Koalitonsverhandlungen Jean Asselborn erklärte, sehen die rentenpolitischen Weichenstellungen von CSV und LSAP zunächst lediglich vor, dass die Parlamentsfraktionen und die Sozialpartner über den IGSS-Bericht diskutieren sollen, der ihnen seit mindestens einem Vierteljahr schon vorliegt. Da erscheint es dann doch wahrscheinlicher, dass die Zustimmung zum Koalitionsvertrag vor allem von der LSAP-Basis nicht von unbequemen Rentenfragen abhängig gemacht wird, als dass es zu einer Rentenreform „à très court terme“ kommt, wie die UEL sie sich wünscht. Überdies könnte die neue Regierung einen Reformansatz lieber von der Tripartite aushandeln lassen, statt selber initiativ tätig zu werden. Vielleicht dringt ein erster Vorschlag zur Debatte sogar erst nach den Gemeindewahlen 2011 an die Öffentlichkeit.
Denn was das UEL-Papier noch deutlicher macht als der IGSS-Bericht, ist die Dimension einer Rentenreform. Welche „Stellschrauben“ es im System gibt, hatte die IGSS eher implizit beschrieben. Die UEL formuliert die Eingriffsmöglichkeiten zu einem Elf-Punkte-Maßnahmenkatalog aus, den sie so nüchtern wie schonungslos präsentiert.
Die wichtigste Aussage ist dabei die, dass es beim Stand der Dinge offenbar keine alle Probleme lösende Einzelmaßnahme gibt – will man nicht die Beiträge erhöhen oder die Pensionsausgaben ab kommendem Jahr um 38 Prozent kürzen. Selbst eine politisch ziemlich utopische Maßnahme wie die Abschaffung der laut Gesetz alle zwei Jahre fälligen Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung würde den Finanzierungsaufwand bis 2050 von 190 Prozent des BIP auf noch immer unvertretbare 56 Prozent senken. Geringfügigere Korrekturen hätten entsprechend kleinere Wirkung. Verzichtete man ab 2011 fünf Mal auf die Rentenanpassung, läge 2050 die Ausgabenschuld bei 148 BIP-Prozent. 160 Prozent wären es, falls man die Indexkopplung der Renten änderte und sie nur noch bis auf Höhe des anderthalbfachen Mindestlohns indexierte.
Für die neue Regierung sind das keine guten Nachrichten. Mögen derartige Maßnahmen schon gegen die Gewerkschaften schwer durchzusetzen sein – das Tageblatt höhnte gestern prompt, wo die UEL wohl den Weitblick bis ins Jahr 2050 her nehme –, es änderte nichts daran, dass eine Pensionsreform vermutlich ein Maßnahmenbündel umfassen müsste.
Dabei könnte in anderer Hinsicht eine Einigung mit den Gewerkschaften leichter zu haben sein. Ein UEL-Vorschlag geht beispielsweise in die Richtung, die Höhe der Renten mit dem Alter des Rentenbeziehers zu modulieren, und sie Jahr für Jahr um 0,7 Prozent zu senken. Über das Prinzip einer solchen Modulation hatte man im Frühjahr auch beim OGB-L nachgedacht. Allerdings wäre eine Senkung, wie die UEL sie vorschlägt, in ihrer Wirkung beträchtlich: Wenn in diesem Fall die Ausgabenschuld des Systems 2050 nur 66 Prozent des BIP betrüge, würde das erkauft durch eine Senkung der Rentenausgaben um insgesamt 29 Prozent. Und rein rechnerisch wäre eine solche Maßnahme noch immer nicht genug.
Doch: Eigentlich haben weder die CSV, noch die LSAP für eine wie auch immer geartete Rentenreform in der neuen Legislaturperiode ein klares Mandat vom Wähler. Nicht einmal für eine, die den Bezug einer vollen Rente von 40 effektiven Beitragsjahren abhängig macht und sowohl Babyjahre als auch Ausbildungszeiten nicht mehr oder anders als heute anrechnen ließe. Eine Tür in diese Richtung öffnete die IGSS im Frühjahr, als sie in ihren Zukunftsbetrachtungen zum Pensionssystem mit ausdrücklicher Billigung von Sozialminister Mars Di Bartolomeo festhielt, die Lohnersatzleistungen der Rentenversicherung sollten eher Versicherte unterstützen, die über eine lange Beitragsdauer relativ wenig einbezahlt haben, statt Hochlohnempfänger mit wegen ihrer längeren Ausbildungszeit kürzeren Beitragsperioden, und schloss: „[L]es assurés à revenus élevés pourront, comme ils le font aujourd’hui, faire recours à d’autres produits de prévoyance vieillesse.“
Die LSAP beschloss nach einer Diskussion zwischen Mars Di Bartolomeo und Nico Wennmacher auf ihrem Programmparteitag, Rentenempfänger sollten „im Prinzip 40 Versicherungsjahre“ aufweisen. Die CSV ging weiter und wollte „dafür sorgen, dass die Zahl der tatsächlichen Versicherungsjahre für jeden Arbeitnehmer bei Ruhestandsantritt nicht unter 40 Jahren liegt, und der Verbleib auf dem Arbeitsmarkt auch darüber hinaus attrakiv gemacht wird“.
Aber auch die CSV sagte weder, wie sie mit den vielen künftigen Rentenbezieherinnen zu verfahren gedenke, von denen laut Statistiken der Nationalen Pensionskasse die wenigsten jemals 40 Beitragsjahre aufweisen werden, noch, ob die Ausbildungszeiten nun generell nicht mehr angerechnet werden sollen. Möglicherweise hätte das ihr Wahlergebnis getrübt. Selbst die UEL würde nicht so weit gehen, und schlägt vor, künftig nur noch Ausbildungen, die zwischen 22 und 27 Jahren in Anspruch genommen werden, als Anwartschaft anzurechnen. Die CSV machte die Ausführungen zu den 40 Jahren in ihrem Wahlprogramm vorsichtshalber nicht im Kapitel „Sozial Sécherheet: Solidaritéit op Generatiounen eraus“, wo etwa das Rentensplitting im Scheidungsfall versprochen wird, sondern versteckte sie im Abschnitt „Méi Beschäftegung fir méi Leit“.
Nicht zuletzt hat noch niemand zu sagen gewagt, wie eine Rentenreform im Privatsektor sich zum öffentlichen Dienst verhalten sollte. Schließlich wurde ab den Achtzigerjahren von den jeweiligen Regierungen viel unternommen, um die Privatrenten an die der Beamten anzunähern.
Doch damit drei oder vier Jahrzehnte, nachdem Benny Berg ein Einheits-Pensionsregime einführen wollte, ein solches Wirklichkeit werden könnte, blieben wenigstens zwei ausgesprochen schwierige Fragen zu klären: Im Unterschied zu den Rentenbeiträgen privat Beschäftigter, existiert für die öffentlich Bediensteter keine Obergrenze. Ihre Pensionsansprüche in einem gemeinsamen System wären somit vielfach höher. Zum anderen haben die Pensionen im öffentlichen Dienst keinen anderen Bezugspunkt als den jeweiligen Haushalt und die jeweilige Kasse; eine Reserve gibt es nicht. Wer beide Regimes fusionieren wollte, müsste im Privatregime „Reservenklau“ für den öffentlichen Dienst betreiben. Schon möglich, dass die ADR dann ihren Fraktionstatus im Parlament wieder erringt.