Krisenwahlkampf

Juncker -> Index -> Krise

d'Lëtzebuerger Land du 11.12.2008

Aus dem Hundertjährigen Kalender des CSV-Staats: Im Frühjahr hatte es noch nach einem neuen Versuch des vereitelten Wahlkampfs von 1994 ausgesehen. Nach einem Juncker-Wahlkampf, in dessen Mittelpunkt nicht wieder der Premier, sondern seine Abwesenheit gestanden hätte. Also der Wahlkampf, den die CSV 1994 zu verhindern wusste, als Premier Jacques Santer seinen Kongressdelegierten erst nach den Wahlen mitteilte, dass er sein Amt aufgeben und nach Brüs­sel ziehen werde. Doch die irischen Wähler machten einstweilen Jean-Claude Juncker einen Strich durch die Karrierepläne.

Im Sommer hatte es noch nach einer Wiederholung des Wahlkamps von 1984 ausgesehen. Damals hatte die LSAP mit dem Versprechen, die automatische Indexanpassung wieder einzuführen, die Wahlen gewonnen. Nun schienen die Staatsfinan­zen genesen, die Sozialwahlen standen bevor, und von OGB-L bis ADR – die an­deren etwas später – kündigten alle einen Indexwahlkampf an. Einige seit 20 Jahren unerfüllte gesellschaftspolitische Reformverspre­chen sollten nach dem Sieg des historischen Linksblocks in der Euthanasiedebatte den Parteien weiterhin Profil verleihen.

Nun ist Winter, und seit Ende September kommt eine Neuauflage des glücklichen Vorkrisenwahlkampfs von 1974 wenige Monate zu spät. Die womöglich schwerste internationale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1975, wenn nicht gar seit der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre, ist auch hier­zulande angekommen.

Jetzt scheinen andere Sorgen als Juncker und der Index die Wäh­ler zu plagen, und selbst die gegenwärtige Verfassungskrise dürfte im Juni vergessen sein. Die Parteien müssen sich neu positionieren, wenn erstmals seit Jahrzehnten ein Wahljahr in einer Rezession stattfindet, wenn das Bruttoinlandsprodukt zu schrumpfen, die Arbeitslosigkeit und die Kurzarbeit historische Rekordstände zu er­reichen drohen. Die halbfertigen Wahl­programme müssen umgeschrieben werden, damit den Wählern klar gemacht werden kann, wer am besten geeignet ist, das Land aus der Krise zu führen. Manche bislang vielversprechende Themen verschwinden rasch im Rückspiegel.

Dies stellt die große Herausforderung für fast alle Parteien dar. Denn als das Parlament im Oktober kurzfristig über die Milliardenkredite für angeschlagene Banken zu befinden hatte, war kein Hauch von Kritik festzustellen. CSV, LSAP, DP, Grüne und ADR demonstrierten nationale Geschlossenheit und politische Alternativlosigkeit. Selbst der parteilose Kasinokapitalist Aly Jaerling beglückwünschte Premierminister Jean-Claude Juncker in hilfloser Bewunderung und versicherte, er selbst hätte „es nicht besser gemacht“.

Was soll man da ins Wahlprogramm schreiben, was nicht genau so bei der Konkurrenz steht? Ob konservativ, sozial oder liberal, alle Parteien sind Verfechter eines großzügigen Key­nesianismus, um die Konjunktur zu stützen. Alle wollen mit Steuer- und Sozialpolitik die Massenkaufkraft stützen. Alle wollen mit staatlichen Bauaufträgen das Handwerk fördern. Mit Nuancen, wie einem kleinen ökologischen Anstrich, versucht eine Partei sich von der anderen zu unterscheiden, doch im Wahlkampf haben Nuancen keine Chance.

Dabei können Wahlkämpfer der Krise durchaus etwas Gutes abgewinnen. Die Regierung kann guten Gewissens Wahlgeschenke, von Steuersenkun­gen bis Chèques services, verteilen, weil nächstes Jahr die Wahlgeschenke „antizyklisch“ heißen. Und die Opposition könnte munter noch größere Wahlgeschenke versprechen, ohne sich von der Regierung fragen lassen zu müssen, wie sie das finanzieren will. Denn Haushaltsdisziplin, die Sorge um Defizit und Verschuldung, die Budgetpolitik nach Art des guten Familienvaters, selbst die Maastrichter Fas­tenpredigten und vielleicht sogar die Schwerkraft sind plötzlich wegen Krise alle außer Kraft gesetzt. Die Ameise triumphiert über die Grille, endlich darf wieder unmoralisch mit den Staatsfinanzen umgegangen werden: Plötzlich ist Sparen eine Sünde und Geldausgeben eine Tugend.

Deshalb erweist sich auch die Kritik an der Haushaltspolitik der christlichsozialen Finanz- und Budgetminister als Rohrkrepierer. Denn je tiefer das Land in die Krise rutscht, desto mehr verliert der Staatshaushalt für 2009 zwar den Bezug zur Wirklichkeit. Aber die CSV hält hartnäckig daran fest, weil sie nicht, wie 2001, als jemand dastehen möchte, der vom sicheren Weg abgekommen ist, weil sie alle anderen Haushalte für genauso falsch hält und die anderen Parteien auch keinen besseren Haushalt entgegenzusetzen haben.Gleichzeitig arrangiert es alle, Regierung, Opposition, Steuerzahler und Unternehmer, dass das Budget die Krise einfach ignoriert und sie gleichzeitig benutzt, um die Wahlgeschenke „antizyklisch“ zu nennen. Dass es Wahlgeschenke sind, scheint so selbstverständlich, dass niemand nach dem Nutzen der Konjunkturmaßnahmen fragt. 

Dabei hatte der Statec nach jahre­langer Arbeit an seinem Simula­tions­modell Modux bereits im Herbst 2007 vorgerechnet, dass Steuersenkun­gen in der sehr offenen Volkswirtschaft bes­tenfalls einige Zehntelprozentpunk­te Bruttoinlands­­pro­dukt zusätzlich verursachen. Selbstverständlich traut sich keine Partei, angesichts der geringeren Staatseinnahmen eine Kürzung der Steuersenkungen oder der Staatsausgaben zu fordern, aber bezeichnen­derweise traut sich auch keine, größere Steuersenkungen oder höhere Staatsausgaben zu fordern – so als hätten die CSV-Antizykliker millimetergenau ins Schwarze getroffen.

Eine Woche nach den dramatischen Rettungsaktionen zugunsten von Fortis und Dexia hatten gegenüber der Marktforschungsfirma TNS Ilres 89 Prozent der Befragten sich besorgt über die internationale Finanzkrise und 65 Prozent besorgt über ihre persönliche Lage ausgedrückt. Gleichzeitig vertrauten 74 Prozent der Befragten der Regierung und ihrer Krisenpolitik. Wenig später konnte auch das Luxemburger Wort beruhigt ei­ne Meinungsumfrage kaufen, um feststellen zu lassen, dass 95 Prozent der Befragten Jean-Claude Juncker als obersten Lenker des Staatsschiffs für „sehr kompetent“ halten. So als gäbe es  in diesen Krisenzeiten nur noch zwei Parteien im Land, jene der aus allen ehemaligen CSV-, LSAP-, DP-, Grünen- und ADR-Wählern zusammengesetzten Juncker-Partei und ei­ner Randgruppe von fünf Prozent Nörglern. Niemand will mehr wissen, ob der Premier überhaupt noch Lust hat, sein Amt auszuüben, ob er bloß den Zug nach Brüssel verpasst hat und bei der erstbesten Gelegenheit doch noch die 95 Prozent Luxemburger im Stich lässt, die laut Luxemburger Wort von ihm durch die Krise geführt werden wollen.

Sämtliche Parteien sind sich bewusst, dass die Wähler in Krisenzeiten längst nicht jeder Partei wirtschaftspolitische Kompetenz zutrauen und sowieso versucht sind, konservativ zu wählen. Da hat die CSV ausgesprochen Glück, noch einmal im entscheidenden Augenblick einen Mister Euro aufbieten zu können. Es sei denn, bis zum Juni gelänge es einer unerwarteten Wendung der Krise oder der nicht minder unerwarteten Kunstfertigkeit der anderen Parteien, den Nach­weis zu erbringen, dass die Juncker und Frieden kein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems sind.Aber Landwirte und Zahlenmystiker wissen, dass ein Hundertjähriger Kalender immer Recht behält. Der Europäische Gipfel an diesem Wochenende soll vor allem über einen neuen Fahrplan für die irischen Wähler diskutieren, damit Jean-Claude Juncker doch noch nach Brüssel fahren kann. Und bei inzwischen nur noch zwei Pro­zent Jahresinflation steht selbst der Wiedereinführung der automatischen Indexanpassung wenig im Weg.

Romain Hilgert
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