Glühwein-Pyramide „Wa mer d‘Joer lo Revue passéiere loossen (...), stelle mer fest, dass den Titel der allgemenger, awer besonnesch der kultureller Entwécklung hei zu Esch en immense Boost ginn huet a gehollef huet, op déi national an international Kulturlandschaft oder Landkoart ze kommen“, las der Escher député-maire und Präsident der Esch 2022 asbl., Georges Mischo (CSV), am Dienstagvormittag von einem Zettel ab. Um eine erste, „sehr positive“ Bilanz der Europäischen Kulturhauptstadt zu ziehen, hatten er und sein Kulturschöffe Pim Knaff (DP) eine Pressekonferenz einberufen – bezeichnenderweise nicht in der Konschthal oder im Ariston, sondern in der Glühwein-Pyramide auf dem Escher Krëschtmoart. Der in Esch manchmal etwas abschätzig als „Kiermes-Buergermeeschter“ bezeichnete Mischo (auch, weil er tatsächlich die Kirmes vergrößern ließ) erzählte von der „großen Aufmerksamkeit“, die Esch 2022 in der internationalen Presse erfahren habe, was viele Touristen aus dem Ausland angezogen habe. Mit Zahlen konnte er diese Behauptung nicht belegen.
In der internationalen Presse geworben hat Esch 2022 tatsächlich: Fast ein Viertel (12,1 Millionen) des vorläufig veranschlagten Gesamtbudgets in Höhe von 53,6 Millionen Euro (davon 10 Millionen von der Stadt Esch) floss in die Bereiche Marketing, Tourismus, Impact Research, Sponsoring und „autres dépenses internes“ – immerhin fast genauso viel, wie Esch 2022 in seine eigenen kulturellen Projekte investiert hat (13,2 Millionen). In Erinnerung bleibt vor allem ein Beitrag aus der britischen Tageszeitung The Telegraph, in dem von „EU‘s most boring Capital of Culture“ berichtet wurde. Das Tageblatt hat in dieser Woche eine nicht repräsentative Umfrage unter Escher Gastronomen und Geschäftsleuten durchgeführt. In einem am Mittwoch erschienenen Artikel zeigten sich fast alle „vom Kulturjahr enttäuscht“, was nicht nur an der mangelnden Kommunikation über das Programm von Esch 2022, sondern auch an der sehnsüchtig erhofften, jedoch größtenteils ausgebliebenen Kundschaft gelegen habe.
Pim Knaff versuchte anschließend, den vermeintlichen Erfolg von Esch 2022 mit Zahlen zu belegen. Die Konschthal, das Prestigeprojekt schlechthin, hat seit Oktober 2021 rund 12 500 Besucher/innen angezogen. Das sei schon beachtlich für eine Galerie, die erst vor 14 Monaten eröffnet hat, sagte deren Direktor Christian Mosar dem Land. Das Casino Luxembourg (Forum d‘art contemporain) hatte im Corona-Jahr 2021 rund 15 500 Besucher/innen empfangen (das Mudam 72 000), im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es über 28 000 gewesen (im Mudam 100 000). Nun mag es stimmen, dass die Escher Konschthal noch jung und unbekannt ist und einige sanitäre Beschränkungen bis Februar 2022 galten, doch wenn die Europäische Kulturhauptstadt zahlreiche „Touristen aus dem Ausland“ angelockt hat, wieso schlägt sich das nicht in den Besucherzahlen nieder? Kulturtourist/innen ist es in der Regel egal, ob die Konschthal seit zehn oder seit einem Jahr existiert, solange das Programm sie anspricht – und am Programm der Konschthal haben eigentlich nur die wenigsten etwas auszusetzen. Auch das andere Prestigeprojekt – das Bridderhaus – war laut offiziellen Zahlen kein Publikumsmagnet. Obwohl es seit seiner verspäteten Eröffnung im Juni „62 Events und 25 Konzerte“ veranstaltet hat, kamen nur 1 911 Besucher/innen – durchschnittlich wären das 22 pro Veranstaltung.
Alleine für den Kauf des früheres Möbelhauses und seine Transformation in eine Galerie, hat die Stadt Esch seit 2020 12,7 Millionen Euro ausgegeben. Weil noch nicht alle Brandschutz- und Sicherheitsbestimmungen erfüllt sind, wird die Konschthal Mitte Januar noch einmal für sechs Monate schließen. Bis 2024 hat die Stadt Esch weitere 5,1 Millionen Euro für die mise en conformité in ihrem Haushalt veranschlagt, sodass sie am Ende rund 18 Millionen Euro gekostet haben wird. Weitere elf Millionen Euro hat sie für den Umbau des Bridderhaus ausgegeben und 15,7 Millionen in die Renovierung des früheren Kinos Ariston gesteckt, das dem Escher Stadttheater angegliedert wurde. Es sind diese drei Einrichtungen, die das „Vermächtnis“ der Europäischen Kulturhauptstadt in Esch/Alzette darstellen sollen.
Blackbox Allerdings reicht es nicht, schöne Gebäude zu haben, sie müssen mit „Leben“ gefüllt werden. Dazu werden Konschthal und Bridderhaus von der im April 2020 gegründeten Asbl Fresch verwaltet. Auch das Bâtiment 4 (B4) am Eingang zur Metzeschmelz, das Arcelor-Mittal der Stadt Esch dieses Jahr unentgeltlich zur Verfügung gestellt hat, fällt unter die Zuständigkeit von Fresch. Im Verwaltungsrat, der vom DP-Kulturschöffen Pim Knaff präsidiert wird, sitzen vor allem hohe Gemeindebeamt/innen – Gemeindesekretär Jean-Paul Espen und Stadtplanerin Daisy Wagner sind Vizepräsident/innen, der kommunale Directeur des affaires culturelles, Ralph Waltmans, ist Kassenwart. Später wurden noch die Direktorin des Escher Theaters, Carole Lorang, und der Direktor der Kulturfabrik, René Penning, aufgenommen. Auch die im Gemeinderat vertretenen politischen Parteien stellen inzwischen ein Mitglied. Die Erweiterung des Verwaltungsrats wurde im Handels- und Firmenregister aber bislang genauso wenig veröffentlicht wie die Geschäftsbilanzen von 2020 und 2021. Selbst den Mitgliedern der kommunalen Kulturkommission wurde die Einsicht in die Bilanzen verweigert. Diese Intransparenz kritisierte das Künstlerkollektiv Richtung22 (R22) vergangene Woche in einer Mitteilung und sprach von einer „Blackbox“.
Gemeinnützige Vereinigungen sind unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Jahresbilanzen zu veröffentlichen. Für Fresch gilt das im Besonderen, da es sich nicht um irgendeinen „Dorfverein“ handelt, sondern um eine Asbl, die seit 2020 über eine Konvention 8,6 Millionen Euro an Zuschüssen von der Gemeindeverwaltung erhalten hat und 2023 noch einmal vier weitere Millionen Euro bekommen wird. Es besteht demnach durchaus ein öffentliches Interesse daran, was mit diesen 12,6 Millionen Euro an Steuergeldern passiert. Umso mehr, weil Fresch nicht nur Konschthal, Bridderhaus und B4 finanziert und verwaltet, sondern auch die Löhne der Beschäftigten von Nuit de la Culture und Francofolies zahlt, obwohl die über eigene Trägervereine verfügen, die ebenfalls eine Konvention mit der Stadt Esch abgeschlossen haben. So hat die Nuit de la Culture asbl. in den vergangenen drei Jahren insgesamt 6,7 Millionen Euro von der Gemeindeverwaltung erhalten, die Les Francofolies d‘Esch/Alzette asbl. 5,4 Millionen Euro. Für 2023 sind weitere 1,9 beziehungsweise 1,6 Millionen Euro veranschlagt. Lediglich die Francofolies-Vereinigung, deren Vorstand sich aus fast denselben Mitgliedern wie der von Fresch zusammensetzt, hat bislang Jahresabschlüsse und Abänderungseintragungen im Verwaltungsrat offengelegt.
Der Frage, wieso Fresch seine Geschäftsbilanzen nicht veröffentlicht, ist ihr Präsident Knaff am Dienstag ausgewichen; er versicherte lediglich, dass es eine „strenge Finanzkontrolle“ gebe und spielte damit auf das Missmanagement beim Escher Syndicat d‘initiative (SI) an, das zuviel Geld für Großveranstaltungen wie den „Kölsche Ovend“ ausgegeben hatte, weil offenbar niemand den Überblick über die Finanzen hatte (wie zunächst das Tageblatt und später auch Reporter.lu ausführlicher berichtet hatten). Der Gemeinderat musste deshalb vor acht Wochen einen Zusatzkredit von rund 150 000 Euro annehmen, was insbesondere bei der Opposition für Unmut sorgte. SI-Präsident Jacques Müller und der gesamte Vorstand traten daraufhin zurück, Müller rückte vor zwei Wochen für die CSV in den Gemeinderat nach.
Mit Fresch hat das nicht direkt etwas zu tun. Auch wenn einige Kulturschaffende und Oppositionspolitiker/innen nun vermuten, Fresch würde seine Bilanzen nicht veröffentlichen, um mutmaßliches Missmanagement zu vertuschen: Belegt ist das nicht. Fresch fällt die schwierige Aufgabe zu, das „Vermächtnis“ von Esch 2022 zu verwalten. Zu diesem Zweck hat der Gemeinderat Mitte Oktober die Fortsetzung des kommunalen Kulturentwicklungsplans Connexions 2 angenommen. Darin wird das Ziel formuliert, Esch/Alzette solle bis 2027 eine terre d‘accueil für Kreative sein. Erreicht werden soll dieses Ziel auch durch die Förderung lokaler und regionaler Künstler/innen. Vor allem der Escher Maler Théid Johanns hat wiederholt moniert, dass das 2022 nicht in ausreichendem Maße passiert sei. Auch die linke Gemeinderätin Line Wies und der kulturpolitische Experte der Escher LSAP-Sektion, Pierre Rauchs, bemängeln gegenüber dem Land, dass viele Projekte der Kulturhauptstadt einfach eingekauft und Esch „übergestülpt“ worden seien, ohne dass sie einen Bezug zur Stadt oder zur Region gehabt hätten.
Artistesch Valeur Es gab aber auch Ausnahmen. Im Bâtiment 4, das als selbstverwaltetes Kulturzentrum angedacht war und mehr lieu de création als lieu de production oder lieu de consommation ist, residieren mit Hariko, Independent Little Lies (ILL), Cell und Richtung 22 vier Vereinigungen, die originelle Programme mit starken lokalen Bezügen umsetzten. Das gleiche gilt auch für Ferro Forum, das mittel- bis langfristig auf dem Gelände der Metzeschmelz ein Museum für Stahlindustrie einrichten will. Gefördert wurden diese Projekte von der Oeuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte. Darüber hinaus waren durch den Projektaufruf noch andere kleinere Kollektive und Kompanien in das Programm der Kulturhauptstadt hineingerutscht, die im vergangenen Jahr von Esch 2022 unterstützt wurden. Die Hilfen laufen jedoch Ende dieses Jahres aus, manche Gruppen stehen (fast) ohne Mittel da. Für sie stellt sich die Frage nach dem (künstlerischen) Überleben. Die Stadt Esch hat für 2023 lediglich ihre Konventionen mit Hariko (Projekt der Croix-Rouge) und ILL verlängert und für Letztere sogar die Zuschüsse erhöht (Marc Baum vertritt déi Lénk im Vorstand von Fresch und ist Schatzmeister von ILL). R22 bedauert in seiner Mitteilung von vergangener Woche, Esch habe die Chance verpasst, eine „junge, innovative und diverse Kunstszene“ entstehen zu lassen. In einem gemeinsamen Schreiben an den Verwaltungsrat von Fresch, das dem Land vorliegt, drücken drei der vier im Bâtiment 4 untergebrachten Vereinigungen (als „Collectif du B4“) in dieser Woche ihre Zukunftsängste aus und engagieren sich für den Fortbestand des B4 als selbstverwaltetes Kulturzentrum (das es bislang offenbar nicht gewesen ist, weil Fresch sich zu sehr in Kommunikation und Verwaltung eingemischt habe).
Pim Knaff beschwichtigte am Dienstag, Arcelor-Mittal habe zugesagt, der Stadt das B4 bis Ende 2023 gratis zur Verfügung zu stellen. Für die Zeit danach müsse ein Vertrag ausgehandelt werden. Fresch wolle „déi Leit, déi mer dëst Joer ënnerstëtzt hunn“, 2023 weiter fördern, sagte Knaff, allerdings nicht bedingungslos, sondern über einen Projektaufruf, bei dem sie sich bewerben müssen. Eine „Jury“ werde dann „déi artistesch Valeur“ der Einreichungen bewerten und eine Auswahl treffen.
Der Schöffenrat aus CSV, DP und Grünen hat für nächstes Jahr den Zuschuss an Fresch von 2,7 auf 4 Millionen Euro erhöht (2021 lag er noch bei 5,5 Millionen Euro). Wegen der intransparenten Kontenführung ist jedoch nicht ersichtlich, wie und wofür Fresch dieses Geld aufwenden wird. Da Nuit de la culture und Francofolies wesentlich mehr Mitarbeiter/innen beschäftigen (22 Vollzeitstellen) als Konschthal, Bridderhaus und B4 zusammen (sieben oder acht Vollzeitstellen), dürften die Personalkosten für die Großevents einen nicht unerheblichen Teil der Ausgaben verschlingen. Auch die Konschthal, die vor allem mit renommierten Künstler/innen zusammenarbeitet, die zum größten Teil nicht aus Esch oder der Südregion stammen, hat bereits ihr Programm für die zweite Jahreshälfte aufgestellt (unter anderem ist eine Ausstellung von Tina Gillen geplant). Neu ist, dass Fresch nun auch eine permanente Laser-Installation in Belval aufbauen will. Stellt sich die Frage, wie viel am Ende für Konventionen mit jungen Künstler/innen übrig bleibt. Das Collectif du B4 geht davon aus, dass in dem Wettbewerb lediglich 250 000 Euro verteilt werden. Elf Organisationen sollen sich bereits dafür beworben haben.
R22 befürchtet, dass es wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der Kulturhauptstadt, aber auch gegenüber den Verantwortlichen der Stadt Esch, bei der Selektion aus „politischen Gründen“ übergangen werden könnte. Dabei war dem Kollektiv während des Kulturjahres eine wichtige Rolle zuteil geworden: Als Projektträger hat es mit seinen Theaterstücken, Filmen und Aktionen die Kritik an Esch 2022 zu einem Bestandteil der Europäischen Kulturhauptstadt selbst gemacht und sie damit institutionalisiert. Ob die politisch und kulturell Verantwortlichen von Esch 2022 zu so viel Selbstreflexion und Selbstironie fähig sind, dass sie daraus sogar „Kapital“ schlagen könnten, ist jedoch zu bezweifeln.
Sporthaaptstad Dahinter steckt die generelle Frage, wie wichtig Kultur der CSV und der DP in Esch/Alzette überhaupt ist (die Grünen sind für diesen Bereich nur indirekt zuständig, als Stouss-néckel der Dreierkoalition waren sie bei der Bilanz-Pressekonferenz nicht einmal dabei). Die Kulturhauptstadt haben sie von ihren Vorgänger/innen von der LSAP geerbt, Esch bekam den Zuschlag unmittelbar nach den Gemeindewahlen von 2017, die neue Mehrheit war gerade vereidigt worden. Doch damit begann die Arbeit erst. Mit der Umsetzung waren sie offensichtlich überfordert. Mischo und Knaff wechselten die Generaldirektion und das Programm aus, viel Zeit ging verloren. Aus Verlegenheit startete Nancy Braun einen öffentlichen Aufruf, der zahlreiche Künstler/innen enttäuscht zurückließ, weil sie eine Menge Zeit und Mühe mit der Ausarbeitung ihres Projekts und dem Ausfüllen des komplizierten Fragebogens verbracht hatten, um am Ende eine unbegründete Absage zu erhalten. In der Eile wurden Großprojekte aus dem Ausland eingekauft, die zwar vielleicht eine europäische Dimension hatten, die meisten Menschen in der Region aber unberührt ließen und nicht anspruchsvoll genug waren, um Touristen anzuziehen. Das Kulturjahr wurde zu einer Enttäuschung, sogar für die Veranstalter selbst. Nancy Braun wird seit Monaten nicht müde zu betonen, dass es nicht auf 2022, sondern auf die Zeit danach ankomme; darauf, was die „Partner“ daraus machen.
Schöffe Pim Knaff weiß: Die Wahrscheinlichkeit, dass er und die DP nach den Wahlen im Juni 2023 noch einmal Teil der politischen Mehrheit in Esch sein werden, ist gering. CSV-Bürgermeister Mischo hatte von Anfang an sowieso ganz andere Pläne: Nachdem die Kulturhauptstadt endlich abgeschlossen ist, kann er sein wahres Ziel verfolgen: Esch zur „Sporthaaptstad vum Land“ machen, wie er bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs vor zwei Wochen zum wiederholten Mal verkündete. Doch der Bau der neuen Arena auf Lankelz kommt nicht richtig in Schwung und auch mit dem Musée national des Sports geht es nicht voran. Die Stadt Differdingen, die ebenfalls „Sporthaaptstad“ werden will, ist mit seiner Sport-Uni, seiner Sportfabrik und seinem schicken Erlebnisschwimmbad Esch meilenweit voraus. Um den Rückstand aufzuholen, fehlen Mischo nun all die Millionen, die er in den vergangenen Jahren ausgerechnet in Kultur investieren musste.