„London!“, ruft Benoît Martiny vor den rund 30 Zuschauern im Club Folklore im Osten Londons. „Für uns ist es ein Traum, der wahr geworden ist, hier in London zu spielen. Es ist wundervoll, diesen Moment mit euch allen zu teilen, danke euch allen!“ Die fünfköpfige Benoît Martiny Band legt los und hat sichtlich Spaß an diesem Konzert. Das liegt wohl auch daran, dass sie es endlich nach Großbritannien geschafft hat.
Denn vergangenes Jahr wurde die Band um den luxemburgischen Schlagzeuger auf der Reise nach Großbritannien für kurze Zeit von britischen Grenzbeamten in Calais festgehalten. Im Europort wurden die Musiker einzeln vernommen. „Danach sperrte man uns fast drei Stunden lang zusammen in eine Zelle, ohne unsere Telefone und unsere Pässe. Die französische Polizei eskortierte uns schließlich heraus. Sie versicherte uns noch, dass wir keine Kriminellen seien,“ sagt Benoît Martiny. Die Konzerte fielen also damals aus, statt nach England ging die Reise zurück nach Luxemburg. Der Musiker sieht es mit Humor. „Glücklicherweise hatten wir kostenlose Snacks in der Zelle.“
Der Vorfall zeugt von der Verwirrung, die auch Jahre nach dem Brexit unter Musikern und sogar Grenzbeamten herrscht. Als Benoît Martiny nach den abgesagten Konzerten in England die britische Einwanderungsbehörde kontaktierte, zeigte die sich erstaunt. Seine Band hatte wohl Pech „mit dem Grenzbeamten“, hieß es.
Für den zweiten Versuch beriet sich Benoît Martiny mit einer befreundeten Band, die Erfahrung mit dem „Certificate of Sponsorship“ hatte. Solch eine Sponsorenbescheinigung benötigen die Arbeitnehmer, um in Großbritannien zu arbeiten. Das digitale Dokument ist drei Monate gültig. Neben dem „Certificate of Sponsorship“ müssen Künstler ihre Instrumente und Bühnenausstattung mit einem Zolldokument anmelden, dem „Carnet ATA“ (Admission Temporaire/Temporary Admission).
Spontane Konzerte in Großbritannien sind für EU-Europäer quasi unmöglich geworden. Außerdem bringen diese Dokumente Kosten mit sich, die wohl vor allem junge Bands abschrecken. C’est Karma, die luxemburgische Band um Karma Katena, trat im November vergangenen Jahres in London auf. Für dieses einzige Konzert jenseits des Ärmelkanals musste sich die Band schon Wochen vorher vorbereiten. „Alles kostet Geld, und man muss alles extrem genau angeben. Es ist schon ein bisschen verrückt, um in England zu spielen“, sagt Karma Katena lachend. „Es wäre sinnvoller gewesen, mehr als nur ein Konzert zu geben.“
Britische Bands, die auf Bühnen in der EU spielen wollen, sind ebenfalls betroffen. Serra Petale, eine australische Gitarristin, die mit ihrer Londoner Band Los Bitchos im April beim Out-of-the-Crowd-Festival auftrat, ärgert sich über die Zollformalitäten. „Jedes Mal, wenn wir nach Europa reisen, müssen wir dieses blöde Carnet ausfüllen, das meiner Meinung nach die größte Zeitverschwendung ist. Das ergibt überhaupt keinen Sinn und es ist eine Schande, dass so etwas passiert“, findet die Musikerin.
Außerdem müssen britische Künstler sich an die Arbeitserlaubnis- und Visa-Regeln der einzelnen EU-Länder anpassen, was die Organisation einer Tour noch komplizierter macht.
Die Europäische Union ist ein wichtiger Markt für die britische Musikindustrie, und der Brexit war ein Desaster: 2023 gab mehr als ein Viertel der Musiker und Beschäftigten in der Musikindustrie in einer Umfrage an, seit dem Brexit überhaupt keine Arbeit mehr in der EU zu haben. Nun wird auf Erleichterung gehofft, denn im Mai haben Großbritannien und die EU einen neuen Brexit-Vertrag ausgehandelt. Keir Starmer, der britische Premier, hat seit seinem Amtsantritt im Juli 2024 immer wieder von einem „Reset“ gesprochen. Seine Regierung wolle die Beziehung mit der EU wieder aufbauen, die bitteren Jahre hinter sich lassen.
Doch obschon das Thema der tourenden Musiker/innen behandelt wurde, wurden keine Erleichterungen festgelegt. Die Union und Großbritannien würden „Bemühungen zur Förderung von Reisen und kulturellem Austausch fortsetzen,“ hieß es lediglich.
Repräsentanten der britischen Musikindustrie geben sich diplomatisch, fordern aber konkrete Maßnahmen. „Musiker und Crewmitglieder mussten mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU einen No-Deal-Brexit hinnehmen, und es ist höchste Zeit, dieses Problem anzugehen“, erklärt Tom Kiehl, Geschäftsführer von UK Music, die die britische Musikindustrie vertritt.
Luxemburger Künstler sind zwar hauptsächlich in den Nachbarländern unterwegs, doch das Vereinigte Königreich ist immer noch ein sehr beliebtes Ziel. Kultur:LX verzeichnete 2024 einen Zuwachs an Tourneen und Recherchereisen nach Großbritannien, die die Institution finanziell unterstützte. 2023 förderte sie sieben Projekte, 2024 waren es 21, so die Institution. Obwohl Kultur:LX nicht auf alle Formalitäten der Einreise spezialisiert sei, könnten Künstler/innen sich jederzeit bei der Einrichtung informieren. „Jeder Fall ist individuell, und es ist schwierig, eine Antwort zu geben, die allen Situationen gerecht wird. Daher ist die Analyse jedes einzelnen Projekts wichtig,“ erklären Diane Tobes, nationale Direktorin von Kultur:LX und Valérie Quilez, die Internationale Direktorin, per E-Mail. Auch informiere man die Luxemburger Botschaft in London über die Tourneen luxemburgischer Künstler/innen, „um sicherzustellen, dass uns keine neuen Formalitäten entgehen“.
Für Benoît Martiny ist mit der Tour in Großbritannien ein Traum wahrgeworden. Die Musik seiner Band ist stark von britischen Rock-Legenden der Sechziger- und Siebzigerjahre beeinflusst. „Das ist einer der Gründe, warum wir hier sind – um zu sehen, wie unsere Musik hier ankommt“, so der Schlagzeuger der Jazz-Rock-Band. Die Briten zeigten sich schon beim Auftakt der Tour in Lincoln, einer Stadt im Norden Englands, sehr begeistert. „Man sagte mir, kommt wieder, jederzeit.“ Es scheine, dass sich die Menschen dort wirklich engagieren. „Wenn ihnen etwas gefällt, dann sagen sie das auch“, so der Schlagzeuger.
Auch in London wurde zur Musik der Band getanzt. Nun ist Benoît Martiny zurück in Luxemburg, wo er mit seiner Band am 19. Juli bei der Blues’n Jazz Rallye wieder vor heimischem Publikum auftreten wird. Doch er will auf jeden Fall wieder zurück auf die Insel, trotz der ärgerlichen Formalitäten.