d’Land: Herr Pereira, Herr Wagener, Danke, dass Sie bereit sind zu diesem Gespräch. OGBL und UEL, obendrein zwei Administrateure der CNAP, der nationalen Rentenkasse. Damit leisten wir einen Beitrag zum Sozialdialog.
Marc Wagener: Aber wir treffen aber keine Entscheidung...
Als Sozialministerin Martine Deprez am 21. Mai vor der Presse die „Stoßrichtung“ der Regierung zu den Renten erläuterte, sagte sie, „in den nächsten Wochen“ treffe sie die Sozialpartner. Gab es die Treffen schon?
MW: Die UEL traf die Ministerin am 6. Juni. Die Salariats-seite gab, soweit ich weiß, zu verstehen, dass sie daran nicht interessiert ist.
Carlos Pereira: nickt
MW: Unser Treffen ergab keinen Scoop. Noch steht nichts fest. Die Stoßrichtung, die Premier und Sozialministerin angegeben haben, scheint die zu sein, an der die Regierung arbeitet. Am 9. Juli soll ein Treffen mit dem Premier stattfinden. Am Samstag voriger Woche hat Luc Frieden erklärt, er werde dort eine Reformrichtung unterbreiten. Ich denke, in der Kontinuität des bereits Bekannten. Und dass es möglich sein wird, andere Vorschläge zu diskutieren.
CP: Ob OGBL und LCGB am 9. Juli teilnehmen werden, steht noch nicht fest.
Kennen die Gewerkschaften den Ansatz der Regierung gut genug?
CP: Wir wissen, was der Premier im état de la nation gesagt hat. Darauf war keiner gefasst. Bei den Experten-Konsultationen im März und April war die Verlängerung der Beitragsjahre kein Thema. Dass sie über mehrere Jahre um je drei Monate verlängert werden soll, ist etwas ganz Neues.
MW: Naja, ich war bei zwei dieser drei Konsultationen dabei. Auch wenn niemand ausdrücklich von einer Verlängerung der Beitragszeit sprach, wie sie jetzt auf dem Tisch liegt, habe ich bei vielen herausgehört, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter näher an das legale Alter von 65 Jahren kommen müsse. Die Idee stand im Raum. Überraschend war vielleicht, wie der Premier sie vorgetragen hat. Nun ist die Frage, wie man sie umsetzt – mit Zuckerbrot oder Peitsche ? Oder mit beidem? Eine Reform muss es geben. Lebenserwartung, Beitragsdauer und Leistungen müssen in einem Gleichgewicht sein. Den Standpunkt haben in den Experten-Konsultationen viele vertreten. Und man muss sich klarmachen: Es geht nicht um eine Verschiebung des legalen Renten-
eintrittsalters nach hinten. Es geht um die Jahre, ehe eine vorgezogene Rente angetreten werden kann.
CP: Ja, am Expertentisch wurde gesagt, man müsse versuchen, näher an die 65 Jahre zu kommen. Aber nicht, indem man das Gesetz ändert und länger Arbeiten zur Pflicht macht. Das ist ein wichtiger Unterschied. Unterscheiden muss man auch in einer anderen Hinsicht. Unter die aktuelle 40-Jahre-Regel fallen Beitragsjahre, also Arbeitsjahre, aber auch „Ergänzungszeiten“. Das sind zum Beispiel Studienzeiten. Der große Unterschied besteht darin, dass nach 40 Beitragsjahren eine vorgezogene Rente mit 57 möglich ist. Mit 60 kann in Rente gehen, wer eine gemischte Karriere aus Beitrags- und Ergänzungsjahren hat, die zusmmengenommen 40 Jahre ergeben. Die Rente mit 57 betrifft Leute, die 40 Jahre lang bei der Stange standen. Das sind die, nach denen das Patronat ruft, wenn es sagt, wir brauchen Leute, die handwerklich begabt sind, die einen CATP haben oder einen DAP. Meist sind das Menschen, die mit 17 angefangen haben zu arbeiten und nicht mit 28. Ich will nicht die einen gegen die anderen ausspielen. Aber wer schon mit 57 in Rente geht, ist ziemlich abgenutzt. Ganz wenige bleiben noch länger aktiv. Bisher verstand ich, dass man sie in Ruhe lässt und sie mit 57 gehen können. Nun aber sind auch sie in der Diskussion, und wenn ich den Premier richtig verstanden habe, könnten sie eines Tages erst mit 62 oder 63 in Pension gehen. Das stand am Expertentisch nicht zur Debatte. Auch die Sozialministerin schloss Anfang 2024 noch aus, an der vorgezogenen Rente mit 57 etwas zu ändern. Wir Gewerkschaften haben ich weiß nicht wie oft gesagt, dass Anreize nötig sind, damit die Leute freiwillig bereit sind, länger zu arbeiten. Was Luc Frieden vorgeschlagen hat, läuft auf die Abschaffung der vorgezogenen Altersrente überhaupt hinaus, der mit 60 wie der mit 57. Dass ist der Schluss, den wir ziehen. Deshalb sind wir so empört, und nicht zuletzt deshalb findet am Samstag [am morgigen 28. Juni] unsere Großkundgebung statt.
MW: Ich bin ganz einverstanden, dass man nicht denselben Maßstab an Menschen anlegen kann, die früh ins Arbeitsleben eintreten, und an die, die das vielleicht im Alter von 25 Jahren tun und Psychologie oder Wirtschaft studiert haben. Wer mit 25 Beitragszahler wird, hat 35 Jahre lang Beiträge gezahlt, wenn er 60 ist. Vielleicht 32 Jahre, wenn auch Babyjahre in Anspruch genommen wurden. 32 Beitragsjahre und womöglich 25 Jahre in Pension – man muss kein Mathe-Genie sein, um einzusehen, dass das für unser Rentensystem nicht aufgehen kann. Vor allem, wenn der Arbeitsmarkt nicht Schritt hält und für immer neue Beitragszahler sorgt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt jedes Jahr drei Monate Beitragsdauer zusätzlich zu verlangen, wäre für mich eher eine prioritäre Forderung an diejenigen, die heute nur 33 bis 35 Jahre lang reell einzahlen. Ehe sie mit jährlich drei Monaten mehr tatsächlich fünf Jahre länger Beitragszahler wären, müsste die neue Regel 20 Jahre oder länger gelten. Und dann wären wir erst bei 40 reellen Beitragsjahren. Mit jedem vierten Kalenderjahr käme ein Beitragsjahr hinzu. Dagegen würde, wer mit 17 zu arbeiten beginnt, nach derselben Regel vielleicht 47 Jahre lang Beiträge zahlen. Das wäre absurd.
Praktisch könnte das heißen, doch nicht alle Studienjahre anzurechnen, oder? Die Regierung will das aber beibehalten und sogar flexibilisieren.
CP: Studienjahre sind eine andere Diskussion. Ohnehin bringt ihre Anrechnung nicht viel in der Rente. Das darf man nicht aus den Augen verlieren.
Aber man kann durch ihre Anrechnung früher in Rente gehen. Gegenüber Arbeitern, ich nenne sie mal so, würden Akademiker bevorteilt.
MW: Das ist, was ich gemeint habe. Wenn man zum Beispiel sieben Studienjahre anrechnet, die im Alter von 18 bis 25 absolviert wurden, muss man nur 33 Jahre Beiträge zahlen, um auf 40 Jahre „Stage“ insgesamt zu kommen. Bis so eine Person von 33 tatsächlichen Beitragsjahren auf 36, 37 oder 38 kommt, müsste man während ganz vielen Jahren jeweils drei Monate hinzufügen. Und selbst dann wären noch nicht die 40 Beitragsjahre erreicht, auf die heute schon kommt, wer mit 17 eine Berufsausbildung anfängt.
Davon hat die Regierung noch nicht gesprochen. Dagegen hat die Sozialministerin eine Diskussion über travaux pénibles angekündigt. Für die es offenbar Ausnahmen geben könnte von einer Verlängerung der Beitragsdauer.
MW: Der Begriff travaux pénibles ist nicht glücklich. Er suggeriert, dass Penibilität in bestimmten Branchen oder Metiers generell herrscht. Doch man muss den konkreten Arbeitsplatz betrachten und die Kapazitäten und Fähigkeiten einer konkreten Person, ihre Arbeit zu machen. Ist sie dazu nicht mehr fähig, haben wir die Arbeitsmedizin, die das feststellt. Stellt sie das fest, wird die betreffende Person entweder reklassiert oder bekommt eine Invalidenrente zugesprochen. Wir verfügen also über ein Instrumentarium, und ich denke, diesen Weg sollten wir weitergehen. Die Arbeit an sich ist nicht „penibel“, jedenfalls sieht das die UEL so. Wenn jemand es nicht mehr aushält, auf den Knien zu arbeiten, ist klar, dass er kein Fliesenleger mehr sein kann. Aber dann kommt vielleicht eine andere Tätigkeit im Betrieb infrage. In der Verwaltung beispielsweise.
CP: Auch ich finde den Begriff travaux pénibles problematisch. In Frankreich wurde jahrelang debattiert, was darunter zu verstehen sein soll. Die Definition funktioniert nach wie vor nicht zur Zufriedenheit aller Seiten. Wir haben noch gar keine Definition. Ich meine, travaux pénibles findet man in fast allen Wirtschaftsbereichen. Unwillkürlich denkt man an Metiers wie den Bau, aber das Arbeitsleben eines Brokers kann auch „penibel“ sein, wenn er im Trading-Saal der Börse sitzt und die Kurse verfolgen muss. Deshalb sage ich: Wir müssen die Diskussion über die „Pactes des âges“ neu führen. 2012 war damit im Zuge der damaligen Rentenreform begonnen worden. Eine Idee war zum Beispiel, dass in den Betrieben analysiert würde, wie Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe angepasst werden müssten, damit die Beschäftigten bereit wären, länger zu arbeiten. Gewerkschaften und Patronat wurden sich damals nicht einig. Heute sollte man das neu diskutieren.
Im Ständigen Beschäftigungskomitee CPTE wurde damals lange diskutiert. LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit reichte 2015 einen Gesetzentwurf im Parlament ein. Wieso wurde aus den „Pactes des âges“ nichts?
CP: Marc kann dafür nichts, das war vor seiner Zeit. Das Patronat sagte am Ende, „geht länger arbeiten“ und „geht in Richtung 65 Jahre“. Grund dafür war hauptsächlich, dass viele Banken sogar dafür zahlten, dass Leute ab 55 daheim blieben. Die bekamen gesagt, „du siehst nicht mehr jung und dynamisch aus, du passt nicht mehr in unseren Rahmen“. Durch so etwas ging die Diskussion damals bei den Däiwel. In den Experten-Konsultationen mit Martine Deprez kam sie wieder auf den Tisch. Da wurde gesagt, wir versuchen die Leute anzureizen, freiwillig bis 65 zu arbeiten. Und versuchen die Arbeitsplätze so anzupassen, dass sie das auch können.
MW: Wir brauchen keine schwerfällige, juristische Lösung wie „Pactes des âges“. Dass Fachkräftemangel herrscht und die Unternehmen qualifizierte Leute suchen, wird sowohl die Beschäftigungsmöglichkeiten für Ältere steigern, als auch die Betriebe anreizen, sich Gedanken um Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsabläufe zu machen. Hinzu kommt, dass die Menschen heute im Schnitt gesünder altern als noch vor einer oder zwei Generationen. Deshalb werden sie ja älter.
„Länger arbeiten“ ist ein offenbar komplexes und sehr politisches Thema. Trotzdem hat UEL-Präsident Michel Reckinger vor zwei Wochen gegenüber paperjam.lu der Regierung „inaction politique“ vorgeworfen.
MW: Was sie bisher vorgelegt hat, ist keine Reform, tut mir leid. Das kann nicht ihr letztes Wort sein.
Den Premier hat das immerhin zehn Beliebtheits-Punkte im Politmonitor gekostet und ihm Platz acht im Politiker-Ranking eingebracht. Kein Premier vor Luc Frieden musste das erleben.
MW: Trotzdem reichen die Vorschläge nicht weit genug. Seit 2012 wurden stets zwei neue Arbeitsplätze geschaffen, wenn eine neue Altersrente zur Auszahlung kam. Dieses Verhältnis funktioniert nicht mehr. Carlos und ich sitzen beide im Verwaltungsrat der Rentenkasse CNAP. Vergangenes Jahr konnte sie noch 150 Millionen Euro Einnahmenüberschuss an den Kompensationsfonds überweisen. Dieses Jahr sind wir wahrscheinlich bei null und nächstes Jahr geht es in die andere Richtung.
Schon nächstes Jahr oder vielleicht im übernächsten würde die Rentenkasse beginnen, von ihrer Reserve zu zehren?
MW: Die Regierung sagt, ehe wir an die Reserve gehen, würde eine Konsumsteuer – vielleicht die CO2-Steuer, aber das war ja dann nicht mehr so wörtlich gemeint – zur Kompensation herangezogen. Erst eine Konsumsteuer, und wenn die nicht reicht, würde der Rest, so wie ich das verstanden habe, aus der Staatskasse gedeckt. Würde das zu viel, das wurde aber nicht quantifiziert, würde der Erlös herangezogen, den der Kompensationsfonds erwirtschaftet. Das heißt: Wir würden eine unzureichende Reform und eine lahmende Wirtschaft und einen lahmenden Arbeitsmarkt kompensieren, indem wir aus dem Staatshaushalt immer mehr Geld nehmen. Die „Robotersteuer“, die manchen vorschwebt, hätten wir dann. Denn wenn wir immer mehr Steuermittel in die Finanzierung des Rentensystems stecken, nehmen wir dazu auch Steuereinnahmen auf der Wertschöpfung.
Wieso wäre die Verlängerung der Beitragszeiten unzureichend? Die UEL hatte sich 2024 für den Rentenbericht des Wirtschafts- und Sozialrats von der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) unter anderem simulieren lassen, was zwei Beitragsjahre mehr brächten. Sie schrieb, das wäre „très bénéfique à court et moyen terme“…
MW: … ja, und dass die implizite Staatsverschuldung für die Pensionsausgaben mit Horizont 2070 um 28 Prozentpunkte kleiner würde bei zwei zusätzlichen, effektiven Beitragsjahren. Aber unsere Analyse für den Rentenbericht war ganzheitlicher. Neben einer Verlängerung der Beitragsdauer umfasste sie auch eine Abflachung der Ausgaben und einen Nachhaltigkeitsfaktor, der sich an der Entwicklung der Lebenserwartung orientiert. Man muss diese drei Elemente im Zusammenhang sehen. Die Stoßrichtung der Regierung verstehe ich so: Was mit der Rentenreform von 2012 an „Stellschrauben“ verabschiedet wurde, setzen wir jetzt mal um! Denn bisher war das wegen der Wirtschaftsentwicklung nicht nötig. Außerdem wird die Anrechnung der Studienjahre bestätigt und soll flexibler werden. Plus x mal drei Monate mehr Beitragszeit, mit wahrscheinlich Ausnahmen für früh ins Berufsleben Eintretende. Wann das wirksam werden soll, ist unbekannt. Vielleicht 2030. Das reicht nicht als Reformvorschlag.
CP: Wenn man eine Reform nur auf der Ausgabenseite machen will! Feststellen muss man allerdings, dass die Sozialministerin noch nicht sagen kann, was eine Verlängerung der Beitragsjahre bringen soll. Was die Rentenkasse dadurch sparen oder gewinnen würde und innerhalb von welchem Zeitraum. Dabei steht Martine Deprez ein ganzer Apparat zur Verfügung, der Berechnungen anstellen kann. Das erinnert mich an die Diskussionen um die Finanzen der Krankenversicherung.
MW: Die Zahlen soll Martine Deprez uns mal vorlegen. Sie spricht von einer Verbesserung um „drei bis fünf Prozentpunkte in der prime de répartition pure“ [dem Verhältnis der Ausgaben der Rentenkasse zu den Einnahmen aus Beiträgen].
CP: Dagegen haben die Gewerkschaften genau beziffert, was Änderungen auf der Einnahmenseite brächten. Zum Beispiel eine Erhöhung des Beitragssatzes. Und wie es sich auswirken würde, wenn die Rentenkasse um Ausgaben entlastet würde, die nichts mit den Renten zu tun haben, die Verwaltungskosten der Kasse zum Beispiel.
MW: Das könnt ihr am 9. Juli dem Premier unterbreiten. Ihr kommt doch, Carlos?
CP: Das steht noch nicht fest.
MW: Ich sage: Den Leuten wird vorgegaukelt, dass das Rentensystem sich noch trägt. Dabei ist die Lage nicht mehr so, wie sie 2022 die IGSS in ihrem letzten Bilan technique beschrieben hat. Der die vorige Regierung veranlasste, beim Wirtschafts- und Sozialrat ein Renten-Gutachten in Auftrag zu geben. Die IGSS ging noch von einem höheren BIP-Wachstum in den Jahren bis 2032 aus und von 1,5 Prozent bei der Beschäftigung, also den Beitragszahlern, bis mindestens 2040. Wir haben aber kein Wachstum mehr. Wir hatten seit 2020 dreimal eine Rezession. Im ersten Quartal dieses Jahr schrumpfte die Beschäftigung im Privatsektor sogar leicht. Wir sind in einer wirtschaftlichen Situation, die für uns ganz neu ist, in der andere EU-Länder aber schon länger sind.
CP: Unser Rentensystem gibt es nun seit 124 Jahren. Ich war zum Glück nicht die ganze Zeit dabei. Aber ich erinnere mich noch, wie vor der Rentenreform von 1984 verschiedene Leute Projektionen anfertigten und sagten: „Das ist nicht finanzierbar!“ Trotzdem war die Rentenreform von damals positiv und enthielt Anreize. Dagegen erwiesen alle Projektionen sich später als falsch.
MW: Die Realität ist nun negativer. 2040 werden wir fast 400 000 Renten auszahlen, das wissen wir bereits. Das werden doppelt so viele sein wie 2022. Wie viele Beitragszahler es dann geben wird, wissen wir nicht. Die IGSS schätzte 2022, es würden 645 000 sein, ein Drittel mehr als heute. Wir müssten 180 000 Leute ersetzen, die in Rente gehen. Plus 155 000 neu anstellen, also 335 000 im Arbeitsmarkt finden. Das muss man erst mal schaffen, die Betriebe müssen sie einstellen wollen, die Leute müssen bereit sein, sich anstellen zu lassen. Und selbst wenn das gelänge und wir kämen auf 645 000 Arbeitsplätze im Jahr 2040, bei fast 400 000 Renten, hätten wir dann ohne eine Reform noch zwei Milliarden Euro Defizit, allein im Jahr 2040.
Wofür kann man die Rentenreserve nutzen? Zurzeit ist sie rund 30 Milliarden Euro schwer. Kann man sie nach und nach leeren bis zur Mindesthöhe von anderthalb Jahresausgaben? Oder sollte sie immer ungefähr so groß sein wie heute, um Erlöse an den Finanzmärkten zu erwirtschaften und vielleicht auch als ein Signal an die Rating-Agenturen, die über das Triple A für Luxemburg entscheiden?
MW: Ein Signal an Rating-Agenturen ist kein Ziel an sich. Im Gesetz steht, dass die Reserve so verwaltet werden muss, dass sie zur Nachhaltigkeit des Systems beiträgt. Sie ist meiner Meinung nach ein Puffer, falls etwas Unvorhersehbares geschieht. Und bedenken Sie: Heute zahlt die Rentenkasse sieben Mil-
liarden Euro an Leistungen aus, 2028 werden es neun Milliarden sein. Zwei Milliarden mehr innerhalb von ein paar Jahren. Für mich ist die Reserve nicht dazu da, strukturelle Defizite zu decken, die wir besser durch Änderungen an der Rentenformel beheben sollten. Hinzu kommt: Eine Rentenreform, die den Namen verdient, kann nicht abrupt wirken. Man kann nicht sagen: Du bist jetzt 58 Jahre alt und hast gedacht, du bekommst eine Rente von 5 000 Euro – Pech, nun sind es nur 3 000 Euro. Um eine Kontinuität zu garantieren, müsste es ein phasing-in über die Zeit geben. Dann entstünden gegebenenfalls über einige Jahre Fehlbeträge, die aus der Reserve gedeckt werden könnten. Das wäre eine ganz andere Diskussion, als wenn man nichts macht und einfach die Reserve leert. Damit wäre ich nicht einverstanden.
CP: Aber brauchen wir 30 Milliarden in der Reserve? Von denen die Regierung nicht spricht. Zumindest hört man davon nichts.
MW: Doch. Falls der Staat zu viel zur Rentenkasse zuschießen müsste, würde der Erlös des Kompensationsfonds herangezogen. Das wurde gesagt.
CP: Ich habe immer verstanden, der Fonds sei eine Sparbüchse, aus der die Rentenkasse Geld nimmt, wenn sie es braucht.
MW: Aber in meinen Augen nur, wenn eine Reform da wäre! Sowieso wäre das eine Entscheidung des Verwaltungsrats der Rentenkasse sowie des Kompensationsfonds und zudem – hauptsächlich – eine politische Frage. Aber wir können nicht nichts unternehmen und einfach den Fonds leeren. Wie gesagt, zum phasing-in einer richtigen Reform könnte man den Fonds ein paar Jahre lang nutzen.
CP: Kommt drauf an, welche Reform. Erhöht man die Beiträge, wirkt das sofort.
MW: (seufzt) Ja…
CP: Ein Prozentpunkt mehr bringt eine Milliarde Euro an Einnahmen mehr im Jahr.
MW: Aber man macht das System nicht nachhaltiger damit. Schon heute gibt es keine Vorhersehbarkeit. Mehr Beitrag würde die Kurve mit den Ausgaben auf der Zeitachse kurzfristig nach rechts schieben. Aber wir wüssten trotzdem nicht, wie viele Beitragszahler es in 20 oder 30 Jahre geben wird. Und wir würden die Wirtschaft nicht attraktiver machen. Ein höherer Beitragssatz wäre eine Flucht nach vorn, aber in fünf Jahren wären wir am selben Punkt wie heute.
Wie wäre es, wenn man den Beitragssatz um einen Prozentpunkt erhöhen und gleichzeitig die Beitragsobergrenze vom fünffachen Mindestlohn auf den dreieinhalbfachen senken würde?
MW: Den Beitrags-Plafond zu senken, würde das Problem langfristig ein Stück weit lösen, weil die Leistungen kleiner würden.
Deshalb frage ich. Eine kurzfristige Entlastung durch einen höheren Beitragssatz, eine langfristige durch einen niedrigeren Beitrags-Plafond.
MW: Durch einen niedrigeren Plafond gäbe es sofort weniger Einnahmen, und ich meine sofort. Weniger Ausgaben wären in 20 oder 30 Jahren zu erwarten...
CP: … wir haben aber eine Reserve.
MW: Ich meine aber, der Einnahmenausfall wäre sehr groß. Das Gegenteil wäre, den Plafond abzuschaffen. Das brächte kurzfristig höhere Einnahmen, langfristig aber höhere Ausgaben. Ich denke, um das Gleichgewicht nicht zu stören, tritt niemand aktiv für Änderungen am Plafond ein.
CP: Doch!
MW: Wir haben aber eine fragile Wirtschaft, Carlos, und wir wissen doch, wo das Geld erwirtschaftet wird.
CP: Luxemburg hat derzeit in Europa mit den niedrigsten Beitragssatz. Das ist in der Krankenversicherung so und in der Rentenversicherung auch.
MW: Deutschland zum Beispiel hat für die Renten eine viel niedrigere Beitragsbemessungsgrundlage, wie sie das nennen. Und irgendwo ist die Rentenversicherung eine Versicherung: Man zahlt ein, um etwas zu kriegen.
CP: Wir haben vorgeschlagen, den Plafond abzuschaffen und ab einer bestimmten Grenze degressiv sinkende Leistungen zu gewähren.
MW: Etwas Ähnliches enthält unser Ansatz „50+1“. Vereinfacht gesagt: Für zum Beispiel die ersten beiden Mindestlohn-Äquivalente an Beiträgen würden die Leistungen linear weitergezahlt, für die beiden letzten Äqui-
valente gäbe es proportional deutlich weniger. Aber ich kann mir vorstellen, dass der Premier am 9. Juli den Sozialpartnern zuhören und über alle Ideen zu diskutieren bereit sein wird. Sofern ihr kommt, Carlos.