Daniel Kehlmann

Spieler

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2010

Mit dem Satz: „Ich habe keine Ahnung.1“ leitete Daniel Kehlmann im November 2006 die erste seiner beiden Poetikvorlesungen an der Universität Göttingen ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sein vierter Roman, die grandiose fiktionalisierte Doppelbiographie Die Vermessung der Welt, ihre zwanzigste Auflage bereits hinter sich gelassen. Nicht nur eine breite Leserschaft, auch das Fachpublikum war begeistert. Selbst wenn Kehlmann nun versicherte, beim Schreiben gebe es keine Professionalität, er wisse „wirklich nichts“ und rate im übrigen davon ab, einem ­Poetikdozenten zu glauben, musste er doch einiges richtig gemacht haben. Nur was eigentlich?

Es gehört zu den Allgemeinplätzen literarischen Schaffens, dass ein Autor sich eine eigene Sprache zulegen müsse, einen ganz persönlichen Stil, der seine Texte zu etwas Unverkennbarem und Ureigenem mache. Bei Daniel Kehlmann fällt es auf den ersten Blick schwer zu sagen, was sein ganz persönlicher Stil sein soll. Da finden sich keine Ansammlungen gewagter Metaphern und kein lautmalerisches Wortgeklingel. Nach dem Pathos einer politisch oder emotional-autobiographisch ausgerichteten Betroffenheitsliteratur sucht man vergeblich. Die Syntax ist unverkennbar die der deutschen Sprache. Kehlmanns Stil ist präzise, elegant und allgemein verständlich; man könnte auch sagen: klassisch. Seine Originalität ist keine der verschobenen Hypotaxen und verdrehten Sätze.

Als „Markenzeichen“ Kehlmanns bezeichnete Sebastian Kleinschmidt in einem mittlerweile in Buchform vorliegenden Gespräch mit dem Autor den Humor2. Der Hinweis kommt nicht von ungefähr. Unter den Erzählern der deutschen Gegenwartsliteratur wird man kaum einen zweiten finden, der zugleich so intelligent und so unglaublich lustig ist, so komisch und todernst wie Daniel Kehlmann. Humor und Ironie sind bei ihm aber immer Mittel der Darstellung, nie deren Zweck. Kehlmann missbraucht seine Figuren nicht zur billigen Bespaßung des Lesers; er stellt sie nicht bloß. Die Leichtigkeit, mit der er existentielle Krisen im Leben seiner Figuren heraufbeschwört und darstellt, wirkt gerade deswegen so kunstvoll, weil er sie nicht an leichten Themen erprobt. „Mein Temperament neigt zur Fröhlichkeit, meine Meinungen tendieren zum Pessimismus,3“ sagt er über sich selbst. Seine Figuren wirken unruhig und rastlos, uneins mit sich und der Welt – vielleicht am meisten dort, wo sie sich nahtlos in die Welt einzufügen oder die Machart der Welt besonders genau zu durchschauen scheinen.

Bei Kehlmann geht es immer auch um den Sinn der menschlichen Existenz, genauer um Macht und Ohnmacht dessen, der seinem Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben versucht. Seit seinem frühen Erzählband Unter der Sonne (1998) beschreibt Kehlmann wieder und wieder den Eintritt des Unvorhergesehenen in bis dahin ereignislose, geordnete Lebensläufe. Er beschreibt die Bruchstellen im normalen Verlauf, die radikale Veränderungen provozieren – von irrtümlich verbuchten Millionen auf dem Bankkonto eines unscheinbaren Beamten in Bankraub bis zur doppelt vergebenen Handynummer im zuletzt erschienenen Episodenroman Ruhm, wo der bis zu diesem Zwischenfall berühmte Schauspieler Ralf Tanner in die Rolle seines eigenen Doppelgängers verdrängt wird. Die Kehrseite dieses Zufallsprinzips der biographischen Erschütterung ist die zwanghafte Wiederholung angewöhnter oder mühsam eingeübter Verhaltensmuster, die entweder Zeichen der Unfähigkeit von Figuren sein kann, ihre Gewohnheiten aufzugeben und aus der Gleichförmigkeit ihres Lebens auszubrechen, oder sich als Schutzfunktion erweist: Humboldt delirierend, aber in tadelloser preußischer Uniform auf dem Chimborazo.

Happy Endings sind bei Kehlmann selten. Arthur Beerholm, der Protagonist seines Debütromans Beerholms Vorstellung (1997) verlässt den Leser mit der Ankündigung, sich von einem Fernsehturm stürzen zu wollen. David Mahler stirbt am Ende von Mahlers Zeit (1999) beim Versuch, seine Theorie über die Umkehrbarkeit der Zeit dem einzigen Menschen mitzuteilen, der sie vielleicht nachvollziehen könnte. Die Novelle Der fernste Ort beschreibt die Agonie eines Ertrinkenden, der meint, sich gerettet zu haben und ein ganz neues Leben beginnen zu können. Erlösung gibt es, wenn überhaupt, nur auf der Ebene der Fiktionalisierung, ganz vordringlich zum Beispiel in dem Kapitel „Rosalie geht sterben“ in Ruhm: Eine pensionierte Lehrerin, die unheilbar an Krebs erkrankt ist, beschließt, in die Schweiz zu fahren, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen und dem ansonsten unvermeidlichen Leiden zu entgehen. Das Unerhörte an Rosalie ist, dass sie sich auf einmal bewusst wird, eine literarische Figur zu sein. Sie bittet den Autor der Geschichte (nicht Daniel Kehlmann, sondern den von diesem erfundenen Autor Leo Richter) um Gnade und darf am Ende als junge, gesunde Frau das Sterbezimmer verlassen.

Solche „billigen Sprünge auf die Metaebene4“, wie Kehlmann an anderer Stelle selbstironisch sagt, sind seit seinem ersten Roman ein fester Bestandteil seines Schreibens. Diese Sprünge beginnen bereits mit Beerholms Traum einer zukünftigen Karriere als weltberühmter Magier, von dem man kaum sagen kann, ob er nur ein durch eine geschickte Volte des Erzählers als Wirklichkeit ausgegebener Traum ist oder Beerholms tatsächlicher Lebenslauf. Ein wesentliches Merkmal von Kehlmanns Stil ist die Kennzeichnung der Fiktion als Fiktion. Gerade in der oft fälschlicherweise als „historischer Roman“ bezeichneten Vermessung der Welt treibt er dieses Stilmerkmal immer wieder auf die Spitze. Von „Realismus“ im landläufigen Sinn kann hier keine Rede sein. Nicht genug, dass Humboldt und Bonpland auf ihrer Expedition sowohl Seeungeheuer als auch Ufos sichten. Insbesondere Gauß kommentiert sich laufend selbst als literarische Figur, regt sich darüber auf, dass „jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne5“ und träumt sich am Ende des Buches sogar unversehens in das Göttingen unserer Zeit hinein.

Kehlmann spielt mit der Verflechtung von Erzählerebene und Erzählung, aber er kokettiert nicht damit. Seine Spiele sind keine Spielchen, die nur den Witz des Autors illustrieren sollen, sondern markieren, genau wie der Humor, die respektvolle Distanz zwischen dem Autor und der Fiktion. Deswegen ist es auch kein Widerspruch, dass sich Kehlmann, wo er sich zu den poetologischen Bedingungen seines Schreibens äußert, auf die Wahrscheinlichkeit als dem Wesen literarischer Wahrheit beruft6. Wer sich einen historischen Stoff aneignet, muss wissen, dass das Wirkliche „nicht immer, nicht in allen Fällen, das Wahre7“ ist. Diese Herangehensweise erinnert sicher nicht zufällig an Schiller (insbesondere an dessen Bearbeitung des Fiesko-Stoffes), mit dem sich Kehlmann schon im Laufe seines Philosophiestudiums eingehend auseinandergesetzt hat.

Daniel Kehlmann ist bis jetzt vor allem als Romanautor und Literaturkritiker in Erscheinung getreten. Vielleicht ist es auch eine Konsequenz seiner Nähe zu Schiller, dass er mittlerweile den bis dato explizit gemiedenen Weg auf die Bühne sucht. Das Grand Théâtre widmet Kehlmann im November eine Woche mit Adaptionen von Ruhm, Töten und Ich und Kaminski für die Bühne. Am 18. November findet außerdem eine kleine Podiumsdiskussion mit dem Autor, der Regisseurin Anna Maria Krassnigg (aus deren Feder die Bühnenfassungen von Ruhm und Ich und Kaminski stammen) und der Schauspielerin Erni Mangold statt. Zeit also, sich in Kehlmann einzulesen und sich auf eine unkonventionelle Begegnung mit dem Autor und seinem Werk zu freuen.

1 Vgl. Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen. S. 125. In: Lob. Über Literatur. (2010)
Elise Schmit
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