Nennen wir es das 35-Prozent-Gesetz: Wenn der landesweite Stimmenanteil der Christlich-Sozialen Volkspartei unter die Cote d’alerte von 35 Prozent fällt, wird sie grundsätzlich. Also musste die CSV sich in den letzten hundert Jahren dreimal ein Grundsatzprogramm geben: 1974, als sie kurz vor einer historischen Niederlage mit einem Stimmenanteil von 30 Prozent stand und erstmals seit einem halben Jahrhundert der Regierungsbeteiligung verlustig ging; 2002, als ihr Stimmenanteil schrittweise auf 30 Prozent gesunken war; 2016, als sie auf 34 Prozent fiel und erneut die Regierungsbeteiligung verloren hatte. Nach einem Personalwechsel 2014 und der Statutenreform 2015 hieß der Nationalvorstand der Partei vor 14 Tagen den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms gut, das am 19. März von einem Nationalkongress verabschiedet werden soll.
Sechzig Jahre lang erhielt die 1914 gegründete Rechtspartei mehr als 35 Prozent der Stimmen im Land und hatte deshalb überhaupt kein Grundsatzprogramm. Denn das katholisch-konservative Großherzogtum und die katholisch-konservative CSV schienen ihr ein Fleisch, so dass jede Definition unnütz war und schriftliche Abmachungen sowieso nur die CSV-Patriarchen bei der Ausübung der Regierungsgeschäfte störten. Doch so wie der heilige Augustinus sich hinsetzen und seiner verwirrten Anhängerschaft ein Grundsatzprogramm Über den Gottesstaat schreiben musste, als das Unvorstellbare passiert war und die Westgoten 410 Rom erobert hatten, so musste die CSV ihrer verwirrten Anhängerschaft ein Grundsatzprogramm über den CSV-Staat schreiben, als DP und LSAP 1974 dabei waren, Luxemburg zu erobern.
In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche haben die Grundsatzprogramme der CSV eine etwas widersprüchliche Doppelfunktion: Sie müssen den untreuen Wählern, die zu DP und LSAP übergelaufen sind, weil sie die CSV inzwischen für zu katholisch-konservativ halten, versichern, dass die CSV trotzdem mit der Zeit geht. Und sie müssen den treu gebliebenen Mitgliedern und Wählern bescheinigen, dass die CSV ihren katholisch-konservativen Geschäftsfundus nicht völlig an den verhassten Zeitgeist verrät. So sind Grundsatzprogramme der CSV in Wirklichkeit Apothekerrezepte, die jedes Mal die Dosierung von Mit-der-Zeit-Gehen und Katholisch-Konservativem neu festlegen.
Nach der jüngsten Wahlniederlage vor zwei Jahren versuchte die Parteileitung, nach all den Jahren unter dem angeblich abgehobenen Premier Jean-Claude Juncker mittels einer Meinungsumfrage und Diskussionen in Fokusgruppen wieder mit der Basis ins Gespräch zu kommen. Dabei klagten Mitglieder und Sympathisanten wiederholt, dass ihnen die politischen Grundsätze einer konservativen Partei, die mit der Zeit gehen will, unverständlich sind.
Für den Anfang vergangenen Jahres vorgelegten Bericht Perspektiven für eine moderne und lebendige Volkspartei war das aber kein Aufruf, die politische Praxis mit den politischen Prinzipien in Einklang zu bringen, sondern er fand die Schuld bei den Mitgliedern und Sympathisanten: „Auffallend war, dass kaum einer unserer Gesprächspartner direkt Textpassagen oder Stichwörter aus dem Grundsatzprogramm von 2002 als Argumentationshilfe benutzte. Wir hatten den Eindruck, als sei dieses Programm vielen im Detail nicht geläufig.“
Daraus schlussfolgert die Parteileitung, dass niemand das Grundsatzprogramm Jidder Eenzelen zielt von 2002 gelesen habe, weil die 42-seitige Broschüre zu umgfangreich sei. Also tat die CSV es wieder einmal der deutschen Schwesterpartei CDU nach, die 2007 in Hannover ein Grundsatzprogramm von stolzen 121 Seiten verabschiedet und es dann auf eine Kurzfassung von 13 Seiten eingekocht hatte. Die CSV wollte sich also ein knappes Grundsatzprogramm geben, das nicht unbedingt das bestehende abschaffen, aber doch bei Bedarf aktualisieren soll. Im derzeit gültigen Grundsatzprogramm nennt die CSV beispielsweise die Erweiterung der Europäische Union noch „eine Verpflichtung“ und glaubt an eine „europäische Verfassung“.
Unter dem bisherigen Titel Jiddereen Eenzelen zielt soll nun auf nicht einmal vier Seiten zusammengefasst werden, was die Christlich-Soziale Volkspartei ausmacht, nämlich eine in der Vergangenheit sehr erfolgreiche Herrschaftstechnik von „Vielfalt, Ausgleich, Mitte“. Gleich im Eingangskapitel fällt das Wort „christlich“ acht Mal zur Beruhigung der frommen Parteigänger, die befürchten, dass die CSV, wie die ADR, bei der nächsten Wahlniederlage auch noch den Namen ändert und das „C“ für „Centrum“ stehen kommt, um sich der säkularisierten Gesellschaft anzubiedern. Als Antwort auf die von DP, LSAP und Grünen erzwungene Neukonventionierung des Erzbistums und Kritiken aus den eigenen Reihen, dass sie im Wahlkampf 2013 den Religionsunterricht im Sekundarunterricht verraten habe, betont die CSV, dass Religion „keine Privatsache“ sei und deshalb „als Menschenrecht in ihrer Ausübung in den öffentlichen Raum gehört“. Und in den Worten des Juncker-Kumpels Helmut Kohl verspricht christlich-soziale Politik „geistig-moralische Orientierung an[zu]bieten“.
Trotz aller festen Vorsätze, mit der Zeit zu gehen und auch für Ungläubige, Juden, Protestanten und Muslime offen zu sein, bleiben die vier Grundprinzipien der CSV direkt aus der katholischen Soziallehre abgeschrieben, die mit „Solidarität und Subsidiarität, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl“ ein gottgewolltes Ordo socialis anstrebt. Allerdings fallen dabei zwei Tugenden des derzeitigen Grundsatzprogramms unter den Tisch: die „soziale Gerechtigkeit“, die in Zeiten des Neoliberalismus nur noch am Ende des Programms erwähnt wird, und die „Personalität“, die in der katholischen Soziallehre die Ergänzung zu Solidarität und Subsidiarität darstellt, den Unterschieden zu „individualistischen“ und „kollektivistischen Ideologien“.
Auf dieselbe Stufe wie die vom katholischen Personalismus betonte Einzigartigkeit und Unantastbarkeit des Menschen wird nun die Familie gerückt, der „lebendige Grundbaustein jeder Gesellschaft“, wie es in einer schönen Katachrese heißt. „Familien bleiben deshalb unsere erste politische Priorität“, auch wenn nunmehr „die freie Wahl der Lebensmodelle“ jenseits des Sakraments der lebenslänglichen Hausfrauenehe gewährleistet werden muss. In den Vorgesprächen mit Mitgliedern und Sympathisanten hatte sich nämlich herausgestellt, dass für viele die Familienpolitik das Alleinstellungsmerkmal der CSV im Vergleich zu den anderen Parteien ist. Außerdem will die Partei die familienpolitischen Sparmaßnahmen der liberalen Koalition zu einem bevorzugten Angriffspunkt im Wahlkampf machen.
Als Volkspartei muss die CSV seit jeher widersprüchliche ökonomische Interessen bedienen. Deshalb verspricht das Grundsatzprogramm kühn, „den Sozialstaat weiter[zu]entwickeln“, und eine „auf Arbeit und Leistung beruhende Verteilung von Eigentum“ anzustreben, obwohl die CSV die Erbschaftssteuer in direkter Linie ablehnt. Um eine „Gesellschaft des Miteinanders“ herzustellen, verspricht die CSV „einen neuen Gesellschaftsvertrag“, wie die LSAP es schon 2004 in ihrem Wahlprogramm tat. Weil neun von zehn Wählern lohnabhängig sind, verspricht sie auch ein „verbesserte[s] Gleichgewicht von gerechtem Lohn und gerechtem Profit“.
Die CSV ist aber nicht nur die Partei der LCGB-Mitglieder, sondern auch der Vice chairmen der Deutschen Bank. Deshalb dekretiert sie: „Die Unternehmen, die Freien Berufe, das Handwerk, der Mittelstand, der Handel und die Industrie sowie Landwirtschaft und Weinbau bilden das Fundament und das Rückgrat der luxemburgischen Wirtschaft“, und verspricht ihnen die „Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts“. Wobei auffällt, dass die neue Transparenz so weit geführt hat, dass der Finanzplatz unsichtbar geworden ist, zumindest für die CSV-Ethiker. An anderer Stelle wünscht sich die Partei im großen Ganzen „ein faires Weltfinanzsystem“, lässt aber offen, ob das auch im CSV-Staat gelten soll.
Die CSV bekennt sich zur Sozialen Marktwirtschaft, dem 1949 von der CDU übernommenen Begriff des ehemaligen Nazi-Ökonomen Alfred Müller-Armack. Dass christlich-soziale Wirtschaftspolitik „das Wachstum fördert“, wie es im derzeitigen Grundsatzprogramm heißt, wird heute nicht mehr so offen gesagt, sondern als „Prinzip der Vernetzung ist Nachhaltigkeit das zentrale christich-soziale Zukunftsprinzip“, was immer das heißen mag.