Seit das Nachrichtenmagazin Der Spiegel am Wochenende berichtete, die deutsche Regierung nehme lieber einen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro hin als mit einer neuen linksgeführten Regierung, die nach den Neuwahlen am 25. Januar die Geschicke in Athen übernehmen könnte, über die Bedingungen der Hilfsprogramme zu verhandeln, ist ein „Grexit“ plötzlich wieder ein Thema. Auch weil Berlin den Bericht nur halbherzig dementiert hat und damit signalisiert, dass die Spiegel-Reporter Recht haben. Die Finanzmärkte reagierten mit entsprechenden Kursverlusten.
Ganz so wild und panisch wie 2012, als ein Grexit wegen der Parlamentswahlen in Griechenland ein Thema war, sind die Reaktionen allerdings nicht. Das liegt daran, dass sich die Angst vor dem „Domino-Effekt“, der Ansteckungsgefahr anderer Euro-Länder, seither verringert hat. Irland, Portugal und Spanien stehen besser da. Der Fiskalpakt ist in Kraft getreten und die zentrale europäische Bankenaufsicht hat in der Zwischenzeit die Kontrolle über die Banken genommen, die deshalb ihre Bilanzen putzen mussten.
Die Griechen „reagieren gelassen“ auf das Gerede vom Euro-Austritt, berichtete die Faz Anfang der Woche. Das mag daran liegen, dass seit dem Schuldenschnitt, an dem sich 2012 85 Prozent der privaten Gläubiger Griechenlands beteiligten – die EZB wehrte sich vehement gegen eine Beteiligung der öffentlichen Gläubiger –, und dem Anleiherückkauf von November 2012 ein Großteil der griechischen Staatsschuld von 321 Milliarden Euro in öffentlichem Besitz ist. 232,18 Milliarden Euro beziehungsweise 72 Prozent sind den Euroländern, dem IWF und der EZB geschuldet. Die Euroländer haben Griechenland 53 Milliarden Euro an bilateralen Krediten gegeben. Der Rettungsschirm ESFS hat bisher 142 Milliarden Euro ausgezahlt, der Internationale Währungsfonds 11,98 Milliarden Euro, und die EZB hielt im Februar 2014 25,4 Milliarden Euro an griechischen Staatsanleihen. Das gibt den Griechen 232 Milliarden Euro Druckmittel für Verhandlungen mit den europäischen Partnern. Bekommen sie keine Zugeständnisse, könnten sie beispielweise auf die Idee kommen, die Zinszahlungen einzustellen. Denn, Troika-Austeritätsmaßnahmen sei dank, der griechische Haushalt ist laut offiziellen Angaben, vom Schuldendienst abgesehen, im Gleichgewicht.
Ifo-Chef Hans-Werner Sinn lobte diese Woche im Handelsblatt Syriza-Führer Alexis Tsipras als Einzigen, der verstanden habe, dass der Weg zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Griechenlands aus dem Euro heraus, zurück zu einer eigenen Währung führe, Entwertung und Schuldenschnitt inklusive. Ob er dabei vergessen hat, dass eine Entwertung und ein solcher Schuldenschnitt die öffentlichen Gläubiger treffen würde? Also allen voran Deutschland, dessen Bundeskanzlerin Angela Merkel ihrem Wahlvolk versprochen hatte, es würde jeden Cent an Hilfsgeldern wiedersehen, den es widerwillig herausgerückt hatte. Mit seinen Aussagen legt Sinn nahe, Griechenland wolle aus dem Euro aussteigen. Ein bisschen erinnert das an das erste Mal, als vom griechischen Euro-Austritt die Rede war. Das war Ende 2011 und Pasok-Premier Georgis Papandreou hatte die Idee, ein Referendum über die Austeritätsprogramme abzuhalten, um sich Rückendeckung in der Bevölkerung zu verschaffen. Die europäischen Partner, die beim EU-Gipfel den Schuldenschnitt verhandelt hatten, waren entrüstet – ein solches Referendum hätte suggeriert, dass die Bedingungen für die Griechenland-Hilfe flexibel seien – wobei es ihnen um „strict conditionality“ ging und darum, den „moral hazard“ zu bekämpfen. So wurde aus Papandreous Referendums-Idee eine über den Verleib in EU und Eurozone. Bevor es zur Abstimmung kam, musste Papandreou zurücktreten. Ex-Zentralbanker Lukas Papdemos wurde technokratischer Chef einer Einheits- und Übergangsregierung, der auch die konservative Nea Dimokratia von Antonis Samaras ihre Unterstützung gab – die hatten sie dem sozialistischen Premier Papandreou bei der Umsetzung der Troika-Auflagen bis dahin verweigert.
Die Rechnung kam mit den Wahlen im Mai 2012: Die Griechen wählten die Parteien rechts der Nea Dimokratia und links der Pasok. Syriza wurde mit 16,8 Prozent stärkste Partei hinter Nea Dimokratia mit 18,9 Prozent, der Stimmenanteil der Pasok fiel von 43,9 Prozent bei den Wahlen 2009 auf 13,2 Prozent. Ein Ergebnis, das die Bildung einer neuen Regierungsmehrheit schwierig bis unmöglich machte. Wahlkampf-Thema Nummer eins war die Neuverhandlung der Troika-Auflagen, während die Euro-Partner sich hartnäckig verhandlungsunwillig gaben. Die Grexit-Gerüchte erreichten einen vorläufigen Höhepunkt.
Wie ein solcher Ausstieg – auch institutionell – überhaupt bewerkstelligt werden könnte, war und bleibt das eine Problem. Einen Austritt aus der Währungsunion sehen die Verträge weiterhin nicht vor – nur den aus der EU. Vielmehr engagieren sich alle EU-Länder, die nicht wie Dänemark und Großbritannien eine Ausnahme verhandelt haben, dem Euro beizutreten. Theoretisch müssten für einen Euro-Austritt demnach die Verträge geändert werden und dafür wird die Zustimmung aller Mitglieder, also auch Griechenlands und anderer Länder, gebraucht, die fürchten könnten, dass sie als nächste an der Reihe sein könnten, wenn mit Griechenland ein Präzedenzfall geschaffen ist.
In der Unsicherheit nach den Wahlen im Mai 2012 mehrten sich Berichte über Griechen, die Geld aus dem Land oder unter die eigene Matratze brachten. Es sickerte durch, dass sich in Brüssel heimlich eine Handvoll Leute Gedanken darüber machten, wie diese Bewegung im Falle eines griechischen Euro-Ausscheidens gestoppt werden könnte. „Exclusive: Euro zone discussed capital controls if Greek exit euro“ meldete Reuters im Juni 2012 trotz aller Vorsichtsvorkehrungen der Beteiligten. Unter den besprochenen Maßnahmen: ein Limit auf Bargeldabhebungen, Grenzkontrollen und Kontrollen des elektronischen Geldverkehrs sowie möglicherweise ein Aufheben des Schengenabkommens. Einmal ließ sich Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker dazu hinreißen, Journalisten unter der Bedinung „background only“, das Schreckensszenario für die Griechen ein wenig zu beschreiben: nach wenigen Tagen kein Geld in den Automaten, kein Sprit an den Tankstellen bis hin zu bürgerkriegsartigen Zuständen. Das Szenario war so gruselig und brandgefährlich, dass innerhalb des eingeweihten Kreises die Kommunikation aufs strikte Minimum reduziert wurde, um Leaks zu vermeiden, die es zur selbsterfüllenden Prophezeiung machen würden.
Ein Jahr später, 2013, wurde das Experiment Kapitalkontrollen im grenzüberschreitenden Währungsraum auf Zypern Realität. Banken blieben tagelang geschlossen, Abhebungen an den Geldautomaten limitiert, Konten ausländischer Bankkunden blockiert. Auch jetzt gibt es für ausländische Bankkunden noch Einschränkungen, um zu verhindern, dass sie schlagartig ihre Konten räumen. Doch Zypern ist eine Insel und die einzige Landgrenze ist ein verminter, von Uno-Blauhelmtruppen bewachter Streifen Niemandsland, der den griechischen vom türkischen Teil der Insel trennt. Schwierigere Bedingungen, um unbemerkt Geldkoffer aus dem Land zu schaffen, als aus Griechenland, die aber auch in Erinnerung rufen, dass sowohl Zypern als auch Griechenland die strategisch wichtigen Grenzposten zwischen christlichem Abendland und muslimischem Morgenland kontrollieren.
Beim zweiten Anlauf im Juni 2012 gewann die Nea Dimokratia mit 29,7 Prozent die Wahlen; Antonis Samaras wurde Premier. Syriza erhielt 26,9 Prozent der Stimmen. Auch wollte damals Samaras neue Bedingungen verhandeln. Die Lage spitzte sich zu, die Kreditkosten für Italien und Spanien stiegen bedrohlich an. Am 22. Juli beendte EZB-Chef Mario Draghi mit den drei magischen Worten „whatever it takes“ vorläufig die Schuldenkrise. „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough“, drohte er, Staatsanleihen zu kaufen, um die Krisenländer flüssig zu halten, Die Finanzmärkte glaubten ihm. Es kehrte Ruhe ein. Samaras führte erst von der Gläubiger-Troika geforderte Reformen durch und verhandelte im November 2012 neue Kredit-Bedingungen. Die Zinsen wurden gesenkt, die Laufzeiten verlängert.
Nachdem das griechische Parlament am vergangenen 29. Dezember auch im dritten Anlauf keinen neuen Staatspräsidenten wählen konnte und deshalb am 25. Januar Neuwahlen stattfinden, steht die EZB unter Druck, zu zeigen, dass sie tatsächlich „ready“ ist und nicht nur geblufft hat. Am 22. Januar treffen sich die Notenbanker in Frankfurt. Dann erwarten sich die Finanzmärkte eine Ansage darüber, ob, wie und wann die EZB Anleihen kaufen wird (siehe Interview Seite 8), um die Preisentwicklung in der Eurozone auf Linie mit ihrem Mandat zu bringen. Wie sich die EZB angesichts des Wahltermins in Griechenland verhält? Ob sie lieber abwartet, um die Wahlen nicht zu beeinflussen?
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hielt sich nicht zurück und warnte die Griechen im Dezember vor einem „falschen Wahlausgang“ und aus dem Ruder laufenden extremistischen Kräften. Bei Griechenlands Geldgebern will Syriza, das Linksbündnis das die Umfragen mit 33,8 Prozent knapp anführt, Folgendes durchsetzen: einen Schuldenschnitt, um die Schuldenlast ertäglich zu machen; eine Wirtschaftswachstumsklausel auf den verbleibenden Rückzahlungen; ein Moratorium, um in der Zwischenzeit das Wachstum fördern zu können; dass Investitionsausgaben nicht berücksichtigt werden, wenn die Einhaltung der Maastricht-Regeln geprüft wird; ein großes europäisches Investitionspaket und den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB. Vom Euroausstieg, den keine 30 Prozent der Griechen wollen, ist in ihrem „Thessaloniki-Programm“ keine Rede.
Wie die EZB den Anleiheaufkauf bewerkstelligt, soll Draghi erwartungsgemäß am 22. Januar erklären. Dass Griechenland „additional relief“ beziehungsweise „additional official financing“ von seinen „European partners“ brauche, um die Schuldenlast, die aktuell bei 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, tragfähig zu machen, unterstrich der IWF in seiner letzten Griechenlandanalyse mehrfach mit Nachdruck. Das dürfte demnach keine Überraschung für die europäischen Partner sein. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zauberte kürzlich selbst ein 315-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm hervor, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Ob ausgerechnet Juncker, der als Präsident der Eurogruppe für den Erhalt der Einheitswährung gekämpft hat, kürzlich den Franzosen und Italienern Spielraum bei der Haushaltsgestaltung gewährt hat, nun zulassen würde, dass den Griechen der Geldhahn zugedreht würde? Wie wirksam dieses Druckmittel ist, ist ohnehin fraglich. Nicht nur, weil die restlichen Eurostaaten Griechenlands wichtigste Gläubiger sind, sondern auch, weil andere bereit sind, in Griechenland zu investieren. Chinesische Staatskonzerne zeigen Interesse an griechischen Flug- und Seehafeninfrastrukturen, sind teilweise schon präsent. Ob die konservative Nea Dimokratia tatsächlich ein einfacherer Partner für die Europäer wäre, als die radikalere Syriza ist ebenfalls fraglich. Schießlich hat Antonis Samaras es bereits einmal geschafft, bessere Bedingungen mit den Gläubigern auszuhandeln.