Es ist ein Schaubild mit farbigen Kästchen und vielen Pfeilen das man länger studieren muss, um zu verstehen, was es überhaupt aussagen soll. So kompliziert ist es, so viele Akteure tummeln sich darin. Das Schaubild, das im neuen Tätigkeitsbericht des Ombudskomitees für Kinderrechte steht, der am Dienstag der Abgeordnetenkammer und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, soll zeigen, wie Hilfen und Behandlungen für Kinder mit psychischen Erkrankungen organisiert sind, hieß es erklärend dazu. Selbst für Branchenkundige ist es kaum möglich, das gesamte Feld zu überblicken.
Die Einschätzung ist nicht neu. Vor mehr als zehn Jahren veröffentlichte das Forschungsinstitut CRP Santé Empfehlungen zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern. Damals stellten die befragten Experten aus Wissenschaft und Praxis fest: Es gibt hierzulande ein weites Feld an Anbietern und Angeboten, die sich um Kinder in Not kümmern. Aber obwohl viele miteinander über ihre jungen Patienten verbunden sind, weil sie dieselben Kinder betreuen, ist die Zusammenarbeit oft nicht gut und nicht mal jeder hat Kenntnis über die Arbeit und Aufgaben des jeweils anderen.
Die Analyse, die das Gesundheitsministerium damals in Auftrag gegeben hatte, sollte nach der Reform der Erwachsenenpsychiatrien als nächstes die Versorgung der Kleinen in den Fokus nehmen und als Vorbereitung für den nationalen Aktionsplan zur mentalen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen dienen. Ziel war: Bestehende Angebote zu erfassen, besser zu strukturieren, klare Kompetenzen zuzuweisen und Prozeduren und Standards einzuführen, die sicherstellen, dass Kinder in psychischer und emotionaler Not zügig behandelt werden. Dabei ging es nicht nur um diejenigen, die psychisch krank sind und die aufgrund von schwierigen, traumatischen Lebensbedingungen Hilfe von TherapeutInnen und PsychiaterInnen brauchen. Sondern außerdem um präventive Maßnahmen und vorsorgende Gesundheitsdienste wie beispielsweise eine altersgerechte Sexualaufklärung oder niedrigschwellige Suchtvorbeugung.Was vor allem wie eine organisatorische Aufgabe erscheint, reicht tiefer – und hat konkrete Folgen für die betreffenden Kinder und Erwachsenen: Je besser die Akteure und ihre Angebote aufeinander abgestimmt sind, umso schneller und passgenauer kann Hilfe erfolgen, umso rascher können Versorgungslücken geschlossen werden.
Doch aus den guten Vorsätzen wurde nichts. „Der Aktionsplan kam nie“, bedauert René Schlechter vom Ombudskomitee für Kinderrechte. Sein Komitee hat die psychologische und psychiatrische Gesundheitsversorgung zum Schwerpunkt des diesjährigen Tätigkeitsberichts gemacht, und stützt sich dafür in weiten Teilen auf die Studie von 2010. Einige der Empfehlungen, wie eine bessere Koordination und mehr Weiterbildung, etwa in der Früherkennung und Diagnostik, hatten die Experten schon vor zehn Jahren angeregt: „Damals wurde eigentlich alles gesagt“, so Schlechter bei der Vorstellung des ORK-Berichts im Cessinger Kulturzentrum. Viele Beobachtungen von damals träfen heute noch zu.
Dabei war der Staat nicht untätig. 2009 wurde das Kinderhilfegesetz verabschiedet und mit ihm das Jugendamt, das Office national de l’enfance, geschaffen. Es ist die Anlaufstelle für Kinder und Familien in Not, um eine Stigmatisierung durch Polizei und Gericht zu vermeiden. Die erzieherische Betreuung durch die Gerichts- und Bewährungshilfe wurde reorganisiert und besser aufgestellt. Mehr ambulante Angebote entstanden. Ein systematischer, für alle verbindlicher Rahmenplan für die Begleitung und Behandlung von psychisch auffälligen Kindern, ähnlich dem der non-formalen Bildung, der Leitlinien und Prozeduren definiert, und der die Etappen und das Verhältnis von ambulanten und stationären Diensten, der Notfallversorgung, Frühkennung und Nachbehandlung ordnet, fehlt allerdings weiterhin; trotz der guten Ansätze von damals.
So wird die Kinder- und Jugendpsychiatrie bis 2021 von 23 auf dann 31 Behandlungsplätze erweitert. Im therapeutischen Zentrum bei Putscheid können Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren mit psychiatrischen Störungen behandelt werden. Das ist laut ORK dringend nötig, denn die Listen für Kinder und Jugendliche, die auf eine psychiatrische Behandlung warten, ist lang. Auch bei den Therapien gibt es immer wieder längere Wartezeiten. Ob die Wartenden wirklich alle stationär behandelt werden müssen, ist unklar: Bei ambulanten Angeboten kommt es zu Engpässen, das Gebiet rund um die Hauptstadt ist besser versorgt als der Norden. Das Jugendhilfegesetz hat zwar dazu geführt, dass ambulante Angebote verstärkt wurden. Aber noch immer landen Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die nicht daheim bleiben können, in Heimen, weil es an Pflegefamilien für sie fehlt. Experten sind sich einig: Besser wäre es, Kinder blieben in ihren Familien, um nicht ihre engsten Bezugspersonen und ihr vertrautes Umfeld zu verlieren – sofern dies nicht dem Wohl des Kindes entgegensteht. Oft aber sind Eltern und Angehörige überfordert, selbst psychisch belastet oder krank und benötigen ihrerseits Hilfe. Die Früherkennung und Diagnose von hilfsbedürftigen Kindern und ihren Familien sei jedoch nach wie vor ein Problem, stellt der ORK-Bericht fest. „Es wäre wichtig, nicht nur das kleine Monster zu sehen, das stört, sondern zu erkennen, dass dahinter oft großes Leid steht.“ Das können Eltern in der Trennung oder Scheidung sein, ein plötzliches Unglück. Auch Armut oder Arbeitslosigkeit werfen Kinder und ihre Eltern häufig aus der Bahn.
Schlechter sieht vor allem das „Personal in der ersten Reihe“ in der Verantwortung, wenn es darum geht, erste Anzeichen zu erkennen, also Erzieher und Erzieherinnen in Krippe und Kindergärten, Lehrkräfte in Schulen und Ausbildungen. Dabei geht es nicht um eine medizinische Diagnose, die können nur Fachleute erstellen. „Aber wenn ein Schüler plötzlich nicht mehr redet, sich zurückzieht oder sich seine Leistungen verschlechtern, kann das ein Warnzeichen sein“, so Schlechter. Dann braucht es rasches, mutiges Handeln, um den geeigneten Ansprechpartner für folgende Interventionen zu finden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Psychologen des schulpsychologischen Dienstes ist wichtig, aber auch ein Vernetzung zwischen Kinderhorten, Jugendhäusern und anderen mehr.
Um schwere Fälle von Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung und schwere Vernachlässigung zu erkennen und Erwachsene bei der Früherkennung zu unterstützen, hat das Erziehungsministerium gemeinsam mit Kinderärzten, der Justiz und Therapeuten einen Leitfaden zum Umgang mit dem Verdacht auf Missbrauch und Misshandlung erstellt. Darin sind Tipps enthalten, wie sich Lehrkräfte verhalten können, wenn sie den Verdacht haben, einer ihrer SchülerInnen könnte betroffen sein. Der Leitfaden benennt Zuständigkeiten und beschreibt Prozeduren, wo sich eventuelle Zeugen melden können.
Bei anderen Zielgruppen, etwa bei verhaltensauffälligen Kindern, ist die Frage der Zuständigkeit nicht eindeutig geklärt: An der Schnittstelle zwischen Schule und Schulmedizin beispielsweise kommt es zuweilen zu Reibungen: So haben im Itzigerstee Erzieher, Psychiater und Psychologen gemeinsam ein Konzept ausgearbeitet, um verhaltensauffälligen Kindern zu helfen. Andererseits hat Erziehungsminister Claude Meisch (DP) eine Studie durch die Leitungen der Therapiezentren anfertigen lassen, was die Nachfrage an Therapieplätzen und geeigneten Konzepten betrifft. Doch weder die Erfahrungen aus Itzigerstee noch die Studie und die Experten waren in die Planungen um weitere Betreuungsplätze für verhaltensauffällige Schüler, deren Schaffung Claude Meisch im Frühjahr für diesen Herbst ankündigte, berücksichtigt worden.
Als die Experten aus Wissenschaft und Praxis zwischen 2008 und 2009 diskutierten, taten sie dies in der Hoffnung, die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Disziplinen, von der Kinderärztin über die Lehrkraft und die Erzieherin bis zum Psychiater, zu verbessern. Eine Kernforderung war deshalb, eine Plattform zu schaffen, für die Akteure aus den verschiedenen Bereichen zusammenkommen. Manch ein Austausch ist inzwischen systematisiert worden, die Gerichts- und Bewährungshife etwa trifft sich regelmäßig mit Vertretern der Jusitz, des ONE, dem Cepas und anderen Akteuren. An anderer Stelle fehlt der Austausch gänzlich. Das hat zur Folge, dass Kinder und Jugendliche häufig lange auf Behandlung warten müssen, sie in (falschen) Hilfsmaßnahmen verharren, weil die Diagnose nicht richtig oder präzise genug war, oder sie beim Wechsel von einer Maßnahme in die nächste drohen, von vorne anfangen zu müssen. Was zudem am unterschiedlich streng interpretiertem Berufsgeheminis liegt. Auch der Übergang vom Kinder- ins Teenageralter ist laut ORK-Bericht oft mit unnötigen Brüchen in der Behandlung gekennzeichnet, weil sich plötzlich Zuständigkeiten ändern und Dienste sich nicht ausreichend abstimmen. Das ORK fordert diesbezüglich bessere Absprachen.
Leider geht der Bericht nicht in die Tiefe: Mit zwei Vollzeitstellen plus Sekretariat bleiben die Analyse und die daraus folgenden Empfehlungen notgedrungen an der Oberfläche. Der Tätigkeitsbericht wirkt dieses Mal sogar noch etwas fragmentarischer als sonst. Immerhin: Unter der vergangenen Regierung haben die Vorarbeiten begonnen, um das Kinderrechtskomitee zu reformieren, es unabhängig vom Familienministerim zu machen und dem Parlament zu unterstellen. Dann soll auch das Team um den Kinderrechtsbeauftragten mit zusätzlichem Personal verstärkt werden.