Im Büro neben dem von Chaux-de-Contern-Chef Robert Dennewald sitzt seine Assistentin am Computer. Sie hat die Pläne, die ein Ingenieurbüro gemailt hat, ausgedruckt. Darauf zu sehen ist der Plan einer Straßenkreuzung und die unter der Fahrbahn verlaufenden Abwasserrohre. Sie gibt die Koordinaten des Schachts ein, in dem die Abwasserrohre auf der Kreuzung ineinander laufen. Weil jede Kreuzung anders ist, Winkel und Neigung der Straßen und damit der darin verlegten Rohre unterschiedlich sind, werden die Schächte individuell nach Maß gefertigt.
Auf dem Bildschirm entsteht ein dreidimensionales Modell des Abwasserschachts, das noch einmal vom Ingenieurbüro bestätigt wird. Dann werden die Daten digital an eine Maschine in der Werkhalle neben dem Bürogebäude gesandt, die daraufhin aus Styropor ein Negativ fräst, also eine Form, die dem Raum entspricht, in dem sich im Schacht Luft und Wasser befinden. Zwei Arbeiter setzen das Negativ in eine Gussform ein, die dann mit selbstverdichtendem Beton gefüllt wird. Nach dem Aushärten und dem Entschalen, wenn die Styroporteile entfernt sind, bleibt ein monolithisches Element übrig.
„40 Minuten“, sagt Bruno Marx, Dienstleiter in der Werkhalle, braucht die Fräse, um alle Teile für ein Schachtelement vorzubereiten. Binnen „zwei Tagen“ nach Eingang der Daten kann das Schachtelement auf der Baustelle sein, fügt Firmenchef Dennewald hinzu.
Wie die Schächte vorher hergestellt wurden? In mehreren Arbeitsvorgängen wurden die verschiedenen Teile gegossen. Über die Basis gebückt, trugen Arbeiter mühsam von Hand mit dem Spachtel Betonschicht um Betonschicht auf, um die abgerundeten Teile des Elements zu erstellen. „Eine unangenehme Arbeit“, sind sich Marx und Dennewald einig.
Seit zwei Jahren ist die Styroporfräse bei Chaux de Contern in Betrieb. Sie hat mit der dazugehörenden Software 700 000 Euro gekostet. „Viel Geld für ein Unternehmen wie uns“, sagt Dennewald. Amortisiert ist sie noch nicht. Mittelständler wie er hätten da ein wenig mehr Geduld also große Industriekonzerne. Ihm reiche es, wenn sie über fünf bis sieben Jahre abbezahlt sei. Die Rohrmaschine, die nebenan in der Fertigungshalle im Minutentakt stahlverstärkte Betonrohre formt, hat gar 3,7 Millionen Euro gekostet. Über eine ganze Schrankwand von Servern kommuniziert sie mit dem Konstrukteur, der auf Distanz die Software aktualisiert und sicherstellt, dass die Abläufe stimmen.
Dennewalds digitale Fräse und die ferngesteuerte Rohrmaschine sind Beispiele für das, was in Wirtschaftskreisen mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bezeichnet wird, das derzeit in aller Munde ist. Am Montagabend hatte Dennewald selbst ein letztes Mal als Präsident des Industriellenverbands Fedil den Gastredner beim Neujahrsempfang vorgestellt. Bernhard Quendt vom Siemens-Konzern referierte dort über Industrie 4.0. Dass „4.0“ auch in seinem Unternehmen Einzug gehalten hat, kam Dennewald erst gar nicht in den Sinn. „Wir machen Basisprodukte aus Beton. Keine Hightech“. Dabei steht der Begriff eigentlich genau dafür: Die Digitalisierung, also die Nutzung neuer digitaler Anwendungen in der Industrie.
Wie viele Ideen und Konzepte, die in Luxemburger Arbeitgeberkreisen Zuspruch finden, stammt der Begriff aus Deutschland. Als Erfinder gilt der Physiker Dr. Henning Kagermann, der zusammen mit anderen sozusagen im Auftrag der deutschen Regierung eine Hightech-Strategie für die deutsche Wirtschaft ausarbeitete. Ihren Abschlussbericht legten sie 2013 auf der Hannover Industriemesse vor, mit dem Siegel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Bernard Quendt erklärte am Montagabend den in der Luxexpo versammelten Luxemburger Firmenchefs, wie das mit der vierten industriellen Revolution zu verstehen sei: Zuerst kam die Dampfmaschine, dann die Fließbandarbeit, dann die zunehmende Automatisierung und nun in einem vierten Schritt die Digitalisierung der Industrie. Er sprach von vertikaler und von horizontaler Integration; von end-to-end design. Um das abstrakte Gerede ein wenig haptischer zu machen, legte er ein paar Beispiele vor. Darunter eine Automobilkonstrukteur, der mithilfe der neuen informatischen Möglichkeiten einen wesentlichen Zeitgewinn beim Aufbau einer neuen Fertigungslinie erzielen konnte.
Produktionslinien könnten komplett digital geplant und die Abläufe getestet werden, noch bevor eine einzige Maschine bewegt werde, so Quendt. In der virtuellen Realität würden Mitarbeiter im Umgang mit den neuen Geräten geschult. Solche Übungen am Simulator, wie sie Piloten seit langem absolvieren, könnten auch zum Training in anderen gefährlichen Arbeitsumfeldern eingesetzt werden. Beispielsweise zur Anweisung von Arbeitern auf Ölplattformen, erklärte Quendt.
In der intelligenten Fabrik, beschrieb der Siemens-Manager die Zukunft, in der alle Geräte und die Materiallager, sowie die automatisierte Logistik digital miteinander kommunizierten, könnten sich die Maschinen selbst auf die Herstellung verschiedener Produkte einstellen, das nötige Material dazu in der richtigen Mischung anfordern und verarbeiten und die Logistik zur Lieferung organisieren. Und gehe in den Lagern das Material zur Neige, bei den Zulieferern Nachschub anfordern.
Die smart factory könne deshalb flexibler agieren und auch Produktserien in kleinen Stückzahlen herstellen. Man stelle sich vor, dass der Kunde im Autohaus die Accessoires und Optionen auf seinen Neuwagen völlig individuell gestalte, seine Bestellung digital ins Werk übertragen wird und auf den Produktionslinien dort problemlos unterschiedliche Modelle zusammengebaut werden, die einmal vom Band gerollt und mit Sendern ausgestattet, dem Konstrukteur Daten über ihre Nutzung liefern, die er für die Entwicklung neuer, besserer Modelle auswerten kann.
3-D-Drucker erlaubten heutzutage eine schnelle Herstellung von Prototypen, so Quendt. Der Innovationskreis werde kürzer und es dauere weniger lang, neue Produkte auf den Markt zu bringen. Die Effizienz steige und auch in der Industrie könnten neue Dienstleistungen angeboten werden. Der 3-D-Drucker ist vielleicht die Schnittstelle zur „Dritten industriellen Revolution“, wie sie die Luxemburger Regierung mithilfe des US-amerikanischen Ökonomen Jeremy Rifkin umsetzen will (d’Land, 22. Januar 2016). Obwohl es bei ihm eine Revolution weniger gibt als bei den deutschen Kollegen, geht Rifkins Vision einen Schritt weiter. Bei Rifkin kommt nach der Dampfmaschine und dem Fließband in der dritten Etappe die Verbindung dezentral hergestellter Energie und der Digitalisierung zum Tragen. Rifkin prophezeit die sharing economy, in der jeder Haushalt seine Energie selbst herstellt, sein eigenes Gemüse zieht, es mit dem Nachbarn gegen Marmelade oder eine Dienstleistung tauscht, beispielsweise die Nutzung des 3-D-Druckers, um sich ein neues Haushaltsgerät oder Möbelstück auszudrucken.
Das sehen die Initiatoren von Industrie 4.0 freilich ein wenig anders. Ihr Ziel ist der Erhalt der deutschen Industrie und des Maschinenbaus Made in Germany. Sie wollen, dass die Kunden viele bei ihnen hergestellte Produkte kaufen, statt sich selbst zu versorgen. „For sure it’s about competitiveness“, schlussfolgerte Quendt am Montag. Seinen Vortrag hatte er mit Erklärungen dazu begonnen, wie die USA und China offensiv die Digitalisierung der Industrie vorantreiben. In Deutschland hat man Angst, technisch den Anschluss zu verlieren. Industrie-4.0-Propheten wie Quendt wollen aber vor allem auch ihre eigene Technik, ihre Anwendungen und Maschinen verkaufen – mit denen verhindert werden soll, dass die deutschen Produktionsanlagen veralten und der durch Audi berühmte „Vorsprung durch Technik“ verloren geht.
Doch weil der gesamte Produktionsapparat nicht auf einmal ausgetauscht werden kann, sprechen Bernard Quendt und seine Gesinnungsgenossen anders als der Ökonom mit dem ausgeprägten Sinn für Marketing Jeremy Rifkin lieber von „Evolution“ als von „Revolution“. „Das geht nicht auf Knopfdruck“, sagt Robert Dennewald.
Dennoch versprechen sich die Arbeitgeber, die ein PPP mit der Regierung ins Auge fassen, um das Software-Update in der heimischen Industrie herbeizuführen und sie auf den Stand 4.0 zu bringen, viel von dieser Evolution. Für Michel Wurth, Präsident des Unternehmerverbands UEL, ist eine der Grundvoraussetzungen geben: Die IT-Infrastruktur im Land ist vergleichsweise gut entwickelt. Und weil der Fortschritt unaufhaltsam ist, sagt er: „Das kommt sowieso, es bringt nichts, sich zu widersetzen.“ „Das Grundprinzip“ ist laut Wurth Folgendes: „Die Vernetzung von Dingen und Leuten erlaubt die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, bei denen die Kosten reduziert werden können und die deshalb einen großen Impakt auf die Organisation in einer ganzen Reihe von Sektoren haben.“ Whatsapp und Skype im Telekombereich sind bekannte Beispiele. Der Taxi-Dienst Uber ein anderes. Die neuen Technologien würden helfen, die Produktivität zu steigern – der Anteil der Arbeitskosten sinke und eine vorher unerreichte Wettbewerbsfähigkeit werde möglich, so der Ökonom Wurth. Durch den Einsatz von mehr digitaler Technik, sagt er, könne gar die „schleichende Desindustrialisierung“ Europas und die Delokalisierung von Produktionsanlagen in Niedriglohnländer gebremst werden, meint der UEL-Präsident.
Mit seiner Fräse hat Chaux de Contern die Produktivität ganz drastisch erhöht. Waren vorher acht Mitarbeiter mit der Maßanfertigung der Abwasserschächte beschäftigt, produzieren heute zwei Arbeiter mehr als doppelt so viele Schächte in der gleichen Zeit. Die zwei verbleibenden Mitarbeiter, die die Maschinen überwachen, erklären Bruno Marx und Robert Dennewald, sind viel höher qualifiziert, als diejenigen, die vorher die Rohre spachtelten. Einen Monat waren sie in Schulung. Die verbleibenden sechs Mitarbeiter, sagt Dennewald, arbeiten nun an anderen Stellen in der Fertigung. Entlassen wurden sie nicht, unterstreicht er.
Doch dass nicht alle Werktätigen, die durch ein Computerprogramm oder eine Maschine ersetzt werden, eine neue Anstellung finden, ist eine Sorge, die nicht nur Arbeitnehmervertreter umtreibt. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos vergangene Woche stellte der Organisator Wef eine Studie vor, zu der 371 große Arbeitgeber mit einer Gesamtzahl von 13 Millionen Beschäftigten in 15 Ländern befragt wurden. Ergebnis: „Current trends“ – damit ist die fortschreitende Digitalisierung gemeint – könnten dazu führen, dass zwischen 2015 und 2020 7,1 Millionen Jobs verloren gingen. Zwar würden auch zwei Millionen neue Stellen geschaffen. Dies seien aber andere Stellen, für die ganz andere Qualifikationen notwendig seien, für die es oftmals noch keinen Ausbildungsweg gebe. Für Industriebeschäftigte ist die gute Nachricht dabei, dass die meisten Jobs laut Wef-Studie (- 4,7 Millionen Stellen) in den Büro-Etagen und Verwaltungen verschwinden würden. Dennoch sagen die befragten Firmenschefs das Verschwinden von 1,6 Millionen Stellen in der Industrie vorher.
Michel Wurth, der Staatsminister Xavier Bettel (DP) zum Wef-Gipfel begleitete, meint, dass die Folgen der zunehmenden Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt ein „seriöses Problem“ sind. Aber, fügt er hinzu, bisher habe die Geschichte gezeigt: „Wenn die Produktivität steigt, wird mehr Wohlstand geschaffen, mehr Reichtum. Der Kuchen wird größer. Die Frage ist nachher, wie er verteilt wird.“ Doch selbst wer seinen Job behält, muss sich auf ein völlig verändertes Arbeitsumfeld einstellen, gibt auch der Erfinder von Industrie 4.0 zu bedenken. In Interviews redet Henning Kagermann vom „gläsernen Mitarbeiter“, wenn jeder Handgriff, jeder Schritt, im vernetzten System nachzuvollziehen ist – das dürfte ebenfalls arbeitsrechtlich etliche Fragen aufwerfen.
Auch Quendt versuchte am Montag eventuellen Skeptikern im Publikum die Angst vor Industrie 4.0 zu nehmen, indem er freudig verkündete: „Es gibt das Potenzial, neue Jobs zu schaffen. Für Hochqualifizierte.“ Wo sie diese Hochqualifizierten zum Einstellen hernehmen sollen, ist eine der Fragen, welche die Arbeitgeber umtreibt. Besonders in der Luxemburger Wirtschaft, die bereits jetzt schon viel im Ausland rekrutiert, weil sie qualifiziertes Personal nicht in ausreichender Anzahl auf dem heimischen Arbeitsmarkt vorfindet. Deshalb versprach Xavier Bettel am Montagabend gleich eine Bildungsoffensive in Angriff zu nehmen.
Daneben birgt die zunehmende Digitalisierung noch ganz andere Probleme. Wer dabei mitmache, warnt Kagermann, wer das Internet in die Fabrik bringe, der öffne sich natürlich nach außen. Und setzte sich damit dem Risiko von Wirtschaftsspionage aus. UEL-Präsident Michel Wurth, der als Arcelor-Mittal-Manager europäische Automobilkonstrukteure zu seinen Kunden zählte, kann bestätigen, dass nicht allen wohl ist beim Gedanken, ihre sonst gut gehüteten Produktinformationen durch die zunehmende Vernetzung mit immer mehr Parteien, Zulieferern und Abnehmern zu teilen. „Wo werden die Daten dann konzentriert?“, fragt er und zieht den Vergleich zum Sammeln von Kundendaten durch Amazon, Facebook oder Apple– alles US-Konzerne. Damit sich dieses Szenario nicht wiederhole, dürften die europäischen Unternehmen „auf keinen Fall den Zug verpassen“.
Robert Dennewald sieht sein Unternehmen erst ganz am Anfang von Industrie 4.0. Ein nächster Schritt könnte sein, dass die Ingenieurbüros die Daten für die Abwasserschächte ohne Umweg über seine Assistentin direkt an die Fräse übertragen. „Technisch“, sagt er, „wäre das kein Problem.“ Aktuell arbeitet Chaux de Contern mit SAP an einem neuen IT-System, mit dem das Materiallager besser verwaltet und die Produktion besser gesteuert werden soll. Ein Viertel des Jahresumsatzes sei im Materiallager immobilisiert, erklärt Dennewald. „Wenn das reduziert werden könnte, würde sich das sehr positiv auf die Kassenhaltung auswirken.“ Die nächste Etappe könnten für ihn Roboterarme sein, die in den vergangenen Jahren nicht nur wesentlich performanter, sondern auch günstiger geworden seien. Zwischen 60 000 und 100 000 Euro koste ein Roboterarm, wie ihn Chaux de Contern einsetzen könnte, um beispielsweise schwere Bauelemente zwecks Qualitätskontrolle vom Band zu nehmen und so die Arbeiter körperlich zu entlasten. „Der Roboter“, so Dennewald vergnügt, „wird nie krank und kann drei Schichten arbeiten.
Dennewald will die Sicherheitsrisiken, die mit dieser Entwicklung einhergehen, nicht verkannt haben. Er hat seine gesamte Informationstechnik an eine Drittfirma ausgelagert, in die er selbst investiert hat. „Denn“, gibt er zu bedenken, „wenn es ein Problem mit der Internetverbindung gibt, oder ein Virus ins System kommt, dann stehen die Maschinen.“ Dann ist auch der Roboter krankgeschrieben.