Ein wenig wird José Manuel Barroso immer noch belächelt, wenn er einmal im Jahr seine „State of the Union“-Rede vor dem Europäischen Parlament hält. Seine diesjährige Rede, gehalten am 12. September in Straßburg, war die dritte ihrer Art. Es ist zwar nicht sicher, ob die Eurozone überleben wird, aber es ist keine besonders gewagte Prognose vorherzusagen, dass seine Nachfolger die von ihm eingeführte jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union halten werden, solange es einen Präsidenten der Europäischen Kommission und ein Europäisches Parlament gibt. Es könnte sein, dass dies das einzige dauerhafte Vermächtnis ist, dass Barroso nach zehn Jahren Amtszeit 2014 hinterlassen wird.
Ja, sagte Barroso, Globalisierung erfordere eine größere europäische Einigkeit. Eine größere Einigkeit erfordere mehr Integration. Mehr Integration erfordere mehr europäische Demokratie. Er verglich Europa mit einem Boot, in dem wir alle sitzen, auch die Regierungschefs, und las ihnen dann die Leviten. Wenn man in einem gemeinsamen Boot sitze, inmitten eines Sturms, dann sei absolute Loyalität das Minimum, das man von den Crewmitgliedern erwarten müsse. Es sei Zeit, dass Europa seinen Ehrgeiz, seine Entscheidungen und seine Handlungen in Einklang bringe. Es sei Zeit, kleinteilige Antworten und das Sich-Durchwurschteln zu stoppen. Es sei Zeit, die Lektionen der Geschichte zu lernen und eine bessere Zukunft für unser Europa zu entwerfen.
Anschließend forderte Barroso einen „entscheidenden Deal für Europa“. Allein, den großen Eingangsworten folgten keine mächtigen Bilder. Der entscheidende Deal für Europa, das sei „gemeinsam reformieren“. So steht es in Großbuchstaben in seinem Redemanuskript. Strukturelle Reformen für bessere Wettbewerbsfähigkeit, Vollendung des Binnenmarktes, Schaffung eines europäischen Arbeitsmarktes, Investitionen in Bildung und grüne Technologien sowie ein adäquates Budget für die Europäische Union. Und so weiter und so fort. So oder so ähnlich hält er diese Rede nun seit acht Jahren. Und nur wer kurz vor Schluss noch nicht eingeschlafen war, hat noch mitbekommen, dass der Kommissionpräsident eine stärkere politische Union wünscht, eine europäische Öffentlichkeit und eine Föderation nationaler Staaten. Über letzteres schrieben die Zeitungen am nächsten Tag, am übernächsten war es wieder vergessen.
Am gleichen Tag wie Barroso hielt auch die mächtigste Frau der Welt eine Rede vor ihrem Parlament in Berlin. Auch sie will den Dingen auf den Grund gehen , um die Krise zu meistern und dabei nach dem Prinzip handeln, „dass wir nicht möglichst viel nach Europa geben, sondern nur das verbindlich machen, was unbedingt notwendig ist“. Angela Merkel will, dass die Wirtschafts- und Währungsunion funktioniert. Wäre sie Gerhard Schröder, hätte sie doch glatt „Basta“ gesagt.
François Hollande wird am 16. September in Le Monde vorgeworfen, dass er zu Europa überhaupt nichts mehr sage, einmal, weil sein Volk immer europaskeptischer werde, aber auch, weil er unfähig sei, einen politischen Horizont zu Europa zu entwerfen. Mario Monti ist wahrscheinlich gerade der glücklichste europäische Regierungschef. Er hat seine Bazooka bekommen und hört nicht auf zu versichern, dass Italien gesund dastehe und für die Krise nichts könne. In einem berühmt-berüchtigten Interview mit dem Magazin Der Spiegel am 6. August forderte er seine Kollegen auf, ihre Parlamente besser zu erziehen. Er sieht eine psychologische Auflösung Europas in der Krise und hält niedrige Zinsen für das beste Gegenmittel.
Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy hielt am 11. September seine erste Fernsehansprache seit seinem Regierungsantritt. Er möchte gerne, dass die EZB spanische Anleihen aufkauft, aber „konkrete Sparmaßnahmen“ dürfe ihm da keiner vorschreiben. Wie Monti Italien sieht Rajoy Spanien als Opfer der Krise und nicht als Ursache. Derweil freut sich David Cameron diebisch, dass Großbritannien kein Mitglied der Eurozone ist, und sagt der britischen Presse nach dem Juni-Gipfel, dass der Gemeinsame Markt der größte Gewinn sei, den sein Land aus der EU ziehe. Darüber hinaus interessiert ihn nur, dass der Rabatt seines Landes zur Finanzierung der Union nicht angetastet wird. Hermann Van Rompuy wiederum will als Präsident des Rates seine Schäflein zusammenhalten und setzt nur so viel auf die Tagesordnungen der Gipfeltreffen, wie seine Staats- und Regierungschefs so gerade noch verdauen können.
Europa, so ist zu vermuten, mag angesichts der Zwerge, von denen sie umgeben ist, ihrem kraftvollen Zeus ein wenig nachtrauern und bei sich denken: Wer solche Verehrer hat, braucht sich über Feinde keine Gedanken zu machen.
Michèle Sinner
Kategorien: Die Union, Finanzplatz, Wirtschaftspolitik
Ausgabe: 21.09.2012