Mit einem Paukenschlag beginnt das „Positionspapier“, das die Fondation Robert Krieps für die Sommerakademie der LSAP Ende September in Remich vorbereitet und für eine Folgekonferenz in Ötringen überarbeitet hatte: „Die LSAP befindet sich unbestreitbar in einer Krise.“
Doch wer „unbestreitbar“ schreibt, ist sich seiner Sache nicht sicher genug, um sich auf Streit einzulassen. Steckt die LSAP tatsächlich in einer Krise? Oder wollen die Autoren Ben und Franz Fayot, Marc Limpach und Christophe Schiltz bloß mit einem Panikwort ihre Parteigenossen wachrütteln? Immerhin ist die LSAP die einzige Partei im Land, die seit zehn Jahren ununterbrochen regiert. Ihr gelang vergangenes Jahr das bewundernswerte Kunststück, die CSV auszutricksen und, als Oppositionspartei verkleidet, zurück in die Regierung zu kommen, wo sie über die einzigen in Staatsgeschäften erfahrenen Minister verfügt. Sie ist noch immer die stärkste Partei in den Proporzgemeinden, noch vor der CSV, auch wenn der Vorsprung schrumpft. Und sie muss sich nach einer hundertjährigen Geschichte von Spaltungen und Flügelkämpfen derzeit nicht die geringste Sorge um die Einheit der Partei machen. Europa ist voll sozialdemokratischer Parteien, die sie um all das beneiden.
Nun ist laut Autoren die im Mai „missglückte Europawahl zum Teil Anlass für dieses Papier“, das den Titel „Krise und Aufbruch der LSAP“ trägt und noch bei einer Pressekonferenz zum Thema vor 14 Tagen diskret zurückgehalten, aber dann vom Feierkrop veröffentlicht wurde. Doch die Ergebnisse von Europawahlen sind für eine Partei unwichtig, und der Europawahlkampf war von Anfang an hoffnungslos: Durch den Auftritt europaweiter Spitzenkandidaten standen die LSAP-Wähler vor einer Wahl, die ihnen offenbar nicht schwerfiel: zwischen einem konservativen Luxemburger und einem sozialdemokratischen Deutschen. Die nationale LSAP-Spitzenkandidatin mischte sich da nicht weiter ein.
Doch seither machen viele Mitglieder die im März neu gewählte Parteileitung dafür verantwortlich, dass die Sozialisten gegen das siegreiche „Kompetenzteam“ der CSV als Inkompetenzteam auftraten und so von 19,49 auf 11,75 Prozent der Stimmen, selbst hinter die Grünen, zurückfielen. Deshalb haben die Autoren des Positionspapiers netterweise „kontextspezifische Umstände und Fehler[,] die in diesem Wahlkampf gemacht wurden[,] nicht berücksichtigt“.
Die LSAP hat selbstverständlich über die verlorenen Europawahlen hinaus ein Problem: Ihr Stimmenanteil bei Parlamentswahlen sinkt seit einem Vierteljahrhundert, sie ist „nicht mehr klar und eindeutig die zweitgrößte Partei des Landes“, nicht mehr „fast auf Augenhöhe mit der CSV“. Dabei ist es ihr „ultimatives Ziel [...], elektoral stärker zu werden, und die Geschicke des Landes (mitzu)bestimmen, d.h. um Regierungsverantwortung zu übernehmen“.
Aber dass die Partei dieses Problem nicht wirklich als akute Krise empfindet, erkennt man schon an der Prozedur: Wenn sie ihre Fondation Robert Krieps beauftragt, Ernst and Young oder KPMG zu spielen, um ein Audit zu verfassen, fragt man sich, ob es wirklich darum geht, einen Brand zu löschen.
Wie das Problem gelöst werden soll, erkennt man ebenfalls an der Prozedur: In der LSAP üben seit einem Jahrhundert sozialistische Gewerkschafter aus dem Südbezirk und linksliberale Notabeln aus dem Zentrumsbezirk eine bemerkenswerte, wenn auch nicht immer konfliktfreie Allianz. Die Autoren des neuen Positionspapiers sind zwei Beamte im höheren Dienst, ein pensionierter Studienrat und ein Geschäftsanwalt, allesamt aus dem Zentrumsbezirk. Folglich ist die Antwort vorgegeben: Die Zukunft der LSAP soll in einer linksliberalen Modernisiererpartei mit Herz liegen.
So wie die für den LSAP-Wahlkampf bezahlten Marktforschungsfirmen und Werbeagenturen sehen die Autoren Politik als einen Markt, wo Politikkonsumenten die „inhaltlichen Angebote sozialdemokratischer Parteien“ wählen oder vermehrt links liegen lassen. Die Entscheidung hängt natürlich viel von der Werbung ab, deshalb taucht das Wort „Kommunikation“ gleich 29 Mal in dem Text auf. Also sei eine „neue sozialdemokratische Erzählung“ nötig. Mit ihr sollen die Wähler „nicht nur über den Kopf, sondern mit den richtigen Worten auch über das Herz angesprochenwerden“.
Aber welche Wähler? Der soziale Widerspruch an der „Wählerbasis der Sozialdemokraten hat sich in Globalisierungsbefürworter und -gegner gespalten[,] Wähler, die in einer globalisierten Welt mit einer europäischen Wissensgesellschaft zu den Verliere[r]n gehören oder sich gar in ihrem sozialen Status durch die Globalisierung bedroht sehen“. Die Entscheidung fällt selbstverständlich zugunsten des Standortpatriotismus für den von der „Globalisierung“ genannten Enthemmung des Kapitalverkehrs profitierenden Finanzplatz.
Deshalb versuchen die Autoren lieber gar nicht, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüche zu verstehen oder gar auf einen Begriff zu bringen. Etwa den auch von der LSAP als modisch unterstützten Durchmarsch des Neoliberalismus oder europäische Haushaltsrichtlinien, die sozialdemokratische Umverteilung für verfassungswidrig erklären.
Stattdessen wollen die Autoren bloß herausfinden, weshalb immer weniger Leute LSAP wählen: Der Einfluss der Industriearbeiterschaft gehe zurück, die Wahlberechtigten arbeiteten vornehmlich im „geschützten Bereich“ des öffentlichen Dienstes oder seien bereits in Rente. Die LSAP wolle zwar den Sozialstaat verteidigen, aber die Konkurrenz sei hart, denn die CSV sei „sozialer geworden“ und „im Landesverband sind Linke tonangebend, im OGB-L zum Teil ebenfalls“.
In der Krise habe eine „vermeintlich ‚fiskal-konservative’ Politik“ weniger verteilt und die Löhne stagnierten, was die befreundeten „Gewerkschaften und Arbeitnehmer“ enttäuschte. Auf anderen Gebieten habe man „die Diskurshoheit über wichtige gesellschaftliche Themen verloren“. Will sagen: DP und Grüne gelten in gesellschaftspolitischen Fragen als reformfreudiger. Vielleicht sogar zu Recht, aber die vier männlichen Autoren erwähnen das LSAP-Trauerspiel „Frauenquote“ kein einziges Mal. Dafür bedauern sie „das schwache umweltpolitische Profil“ ihrer Partei.
Kurzum: „Zwischen dem programmatischen Anspruch (Tradition und allgemeine Grundwerte, ‚Neuanfang 2013‘) und der Regierungspolitik klafft immer eine Lücke. Hinzu kommt, dass das leitende politische Personal in der Hauptsache auf die Machtausübung fixiert und zu Kompromissen bereit war, die die LSAP immer mehr zur (linken) Mitte trugen.“ Canapéspolitik und Wackelpuddinge sind fast so alt wie die Partei, und hatte nicht einer der Autoren selbst vor zwei Jahren den ganzen Krempel hingeschmissen, als er nicht in den Staatsrat gewählt worden war?
Am auffälligsten ist, dass das Papier kein einziges gutes Wort für die derzeitige Regierungsbeteiligung und den neuen starken Mann, den sehr liberalen Wirtschaftsminister Etienne Schneider, übrig hat, der noch vor einem Jahr als Retter der Partei gefeiert worden war. Was als heroische Gewissensentscheidung dargestellt worden war, der Bruch mit der CSV, sei bloß „ein Schachzug“ gewesen, um „,die Möbel zu retten’ und einer sich andeutenden Wahlniederlage nach Ablauf der ganzen Mandatsperiode zu entgehen“.
In den anschließenden Koalitionsverhandlungen dann „schien es, als ob persönliche Vorlieben oder Ansprüche und die Bequemheit des Altbekannten den Vorrang vor einer grundlegenden Strategie gehabt hätten. Bereits die Verhandlungsgruppe (u.a. ohne Frau) wurde von vielen Wählern, als dem Neuanfang nicht entsprechend, angesehen“. Am Ende habe die LSAP als „knapp größte Partei der Koalition“ keines der „ausgeprägten Gestaltungsministerien wie beispielsweise Finanzen, Justiz, Logement, Schule, Forschung und Kultur“ bekommen, mit denen sich „vornehmlich progressistische Politik gestalten, umsetzen und kommunizieren lässt“.
Das „Innen- sowie das Tourismusministerium und der damalige Ausblick auf einen Kommissionsposten sind nur ein schwacher Trost“. So „ist durch die Auswahl der Ministerien in der aktuellen Regierung, die Chance verpasst worden, die grundlegenden Reformbestrebungen der LSAP nun auch auf anderen Gebieten verstärkt zu bewerkstelligen“. Überschrieben ist diese Bilanz mit „Die letzten 12 Monate – Große Erwartungen... erste Enttäuschungen“.
Um zu retten, was zu retten ist, schlagen die Autoren vor, wieder einmal mit Internet die Mitglieder bei Laune zu halten und „dem OGBL ein Gesprächsangebot“ zu machen, doch die Gewerkschaft müsse dann auch bereit sein, „ihre Position zu überdenken (Haushaltspolitik, Arbeitslosigkeit, Effizienz des Arbeitsmarktes)“. Und vor allem soll die LSAP alles auf die versprochene Steuerreform setzen, um in der liberalen Koalition mit DP und Grünen doch noch sozialdemokratisches Profil zu zeigen.