Déi Lénk erwartet keine großen Zugewinne. Trotzdem ist die Stimmung parteiintern heiter. Eine neue Generation orientiert sich derweil an Identitätspolitik

„Lauschter d’Stëmm“

Déi Lénk setzt auf grafische Elemente und die Stimme von Serge Tonnar
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 22.09.2023

Gary Diderich, Ko-Parteisprecher von déi Lénk, zeigt sich am Freitagabend zuversichtlich – die zwei Parlamentssitze werde die Partei am 8. Oktober behalten. Déi Lénk hatte letzte Woche in das Sang a Klang im Pfaffenthal auf einen Wahlabend geladen. Aus der Basis kommen pessimistischere Töne: „Es wird knapp“; „kann sein“, „vielleicht verlieren wir den zweiten Sitz“. Bei den Gemeindewahlen vor drei Monaten fiel déi Lénk von acht auf sechs Sitze zurück. In Schifflingen konnte sie zwar durch eine neue Liste ein Mandat im Gemeinderat erringen, in der Hauptstadt, Esch/Alzette und Sassenheim verlor siejeweils ihren zweiten Sitz.

Am Freitag ist die Partei in Wahlkampfstimmung. Die Wahlschlappe von Juni scheint vergessen. Zu Beginn des Abends steht Line Wies am Rednerpult in einem enganliegenden roten Kleid – rot sind auch die sie umgebenden Wahlplakate. Es bedürfe eines „radikalen Bruchs mit einem System, das uns ausnutzt, krank macht und unsere Lebensgrundlage wegfrisst“. Die Escherin fordert eine Arbeitszeitverkürzung gegen den Widerstand der Führungskräfte. Und zeichnet mit einem nach vorne gerichteten Blick, dass für Arbeiter/innen „an all Kand, dat elo gebueren gëtt, nach alles ze gewannen ass – mat déi Lénk“. Mit ihren offensiven Spitzen und präzise gesetzten Wortwiederholungen spielt sie in der Rhetorik-Liga des Süd-Spitzenkandidaten und Schauspielers Marc Baum.

Auf ihn zählt man nun für Oktober. In Esch-Alzette nämlich vereinnahmte Marc Baum die meisten Stimmen im Gemeindewahlkampf, obwohl er nicht Spitzenkandidat war. Der erfahrene Politiker ist ein Aufmerksamkeitsmagnet, der vor einem Mikrofon komplizierte Sachverhalte allgemein verständlich herunterbrechen kann. Am Freitag freut er sich über die „Kraft und Energie“, die den nationalen Wahlkampf trägt. Schwenkt gleich über zum Cargolux-Streik, der einige Stunden zuvor losbrach: Zu beobachten sei „Zynismus und Klassenkampf von Oben“. Im Raum waren mehrere OGBL-Vertreter anwesend, unter anderem der Zentralsekretär David Angel. Süd-Spitzenkandidatin Carole Thoma hebt in ihrer Rede hervor, déi Lénk sei häufig das einzige Sprachrohr der Gewerkschaften. Zum Cargolux-Streik gab es bisher von den Regierungsparteien „kee Mucks“. „Trotz Milliarde-Beneficer wëll d’Cargolux de Fuerderunge vun der Gewerkschaft net nokommen“, so die auf Brückenbau spezialisierte Ingenieurin. In den vergangenen Jahren habe man sich in der Kammer immer wieder für Arbeiter/innen eingesetzt und Gesetzesvorschläge eingereicht, um Kündigungen aus ökonomischen Gründen zu verbieten und die Regelung der Plattformarbeit voranzutreiben. David Wagner, Spitzenkandidat im Zentrum, fährt fort: „ADR, DP, CSV, Piraten – nie haben sie Zeit, um Arbeiter/innen entgegenzukommen, immer stehen ihnen Krisen im Weg – vergangene oder anstehende.“ 1918 hätten sich unsere Ur- und Urur-Großeltern für eine Arbeitszietverkürzung auf acht Stunden eingesetzt. „A mir féieren dee Kampf wieder.“

Überhaupt stehen sozialökonomische Belange bei Déi Lénk im Vordergrund: Man will eine 32-Stunden-Woche einführen und den Mindestlohn um rund 300 Euro erhöhen. Güter wie Wasser, Strom, das Gesundheitswesen und die Mobilität sollen in öffentlicher Hand bleiben oder in sie überführt werden. Das Geld für die Umverteilung will déi Lénk bei den Kapitaleigentümern holen und fordert eine Vermögens- und Erbschaftssteuer in direkter Linie und eine Anhebung der Einkommenssteuer für Unternehmen auf 20 Prozent. Luc Frieden und Xavier Bettel mahnen angesichts linker Politik unerlässlich vor Unternehmens- und Kapitalflucht. Déi Lénk möchte deshalb, dass auf internationaler und europäischer Ebene gegen Steuerflucht vorgegangen wird.

Im Sang a Klang ist man heiter. Noch im Gemeindewahlkampf hätte man nicht auf knackige, einprägsame Slogans gesetzt. Man sei eine Partei, die dazu tendiere, zu intellektualisieren, Details zu zerreden, ideologische Traditionen immer wieder aufzurollen, von großen Utopien zu träumen, stets dicke Bretter bohren zu wollen – während andere Parteien ihre Botschaften öffentlichkeitswirksam hinklatschten. Das aber sei nun anders. Déi Lénk rekurriere jetzt auf Formate, die Inhalte einem breiten Publikum vermitteln. Im offiziellen Werbespot für die Kammerwahlen spielt die Partei mit grafischen Elementen, Rhythmus und Epanalepsen (in diesem Fall beginnt jeder Satz beginnt „mat lénks“). Knappe veranschaulichende Sätze sollen eine politische Botschaft auf den Punkt bringen („Klimaschutz, deen all Mënsch sech leeschte kann“). Der Spot wurde von Serge Tonnar produziert und von ihm vertont. Im Ramen des Wahlkampfes legte er am Mittwoch mit dem Musikvideo „Mat lénks“ nach. Darin singt er zunächst mit Irina Holzinger und schließlich weiteren Kandidat/innen: „Lauschter d’Stëmm, du hues näischt ze verléieren.“ Die Aufnahmen wurden in der Mine von Hussigny-Godbrange aufgenommen; ein Augenzwinkern angesichts dieses Anachronismus, und Minett-Romantik sucht man allerdings vergeblich.

Während ihre Vorredner/innen einen seriösen Tonfall auflegten, ist Ana Correia da Veigas Einstieg zunächst erfrischend locker. Als sie auf die Bühne tritt, lacht sie: „Ich musste jetzt ganz langsam gehen, um nicht über die Treppenabsätze zu stolpern.“ Und ruft Mitstreiterinnen auf die Bühne. Um dann ebenfalls ernst zu werden: Es sei wichtig, feministische Werte im Alltag, in der Parteistruktur und im Wahlkampf zu leben, sagt sie ins Mikrophon. Unsere Gesellschaft behandele Frauen, LGTBQ- und nicht-weiße Menschen als minderwertig. Deshalb sollte man Gewalttaten gegen diese Gruppen gezielter erfassen, wie beispielsweise den Feminizid. Hierbei handele es sich nicht um Mord aus Leidenschaft, sondern es gehe um die Objektifizierung der Frau: „Wann ech dech net ka kréien, da soll och keen aner dech kréien“, resümiert sie die Tatmotive. Diskriminierungen sollten gesetzlich strenger geahndet werden.

Falls David Wagener im Oktober in die Kammer gewählt wird, wird Ana Correia da Veiga möglicherweise durch das Rotationsprinzip der Partei nachrücken. 2020 ist sie so bereits in den Gemeinderat der Hauptstadt gewählt worden. Im Juni allerdings reichte es nicht mehr, um einen Kommunalposten zu sichern. Ihre Eltern wurden im Kap Verde geboren, sie ist in Bonnevoie aufgewachsen, wo sie zunächst in der katholischen Kirche im Chor sang. Die Älteste von vier Geschwistern politisierte sich später im Comité Spencer (der 2015 aufgelöst wurde), einem Verein, der sich für eine gewaltfreie Gesellschaft einsetzte sowie sich mit den schulischen Nachteilen von Lusophonen befasste. Als 20-Jährige beginnt sie sich für den brasilianischen Pädagogoen Paulo Freire zu interessieren und wie das Theater gesellschaftspolitische Themen aufgreifen kann. Schließlich entscheidet sie sich, beruflich als Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendbetreuung zu wirken. 2013 nimmt sie erstmals an den Nationalwahlen teil.

An der Themenwahl von Ana Correia wird eine Neuausrichtung der Partei deutlich, vielleicht sogar ein Bruch zwischen den Generationen – nämlich die Einbeziehung von Identitätspolitik. Noch vehementer legt Mara Stieber den Fokus hierauf: „Ich stehe für eine queerfeministische und anti-rassistische Politik“. Die 26-Jährige, die sich auf LinkedIn als „freelance writer and researcher based between London and Luxembourg“ bezeichnet, ist eine von elf Kandidat/innen der Jonk Lénk. Die Identitätspolitik sorgt für Reibungsfläche innerhalb der internationalen Linken. Der Vorwurf steht im Raum, die Analyse von ökonomischen Sachverhältnissen sei durch kulturpolitische Prioritäten und Identitätspolitik verdrängt worden. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek moniert, immer mehr Studien würden nicht mehr Klassenzugehörigkeit untersuchen, sondern ethnische Minderheiten als Hauptkategorie anführen und somit ökonomische Ungleichheit implizit als simples Diskriminierungsproblem umdeuten. Identitätspolitik habe einen entpolitisierenden und polarisierenden Effekt: Statt ein gemeinsames solidarisches Projekt in den Vordergrund zu stellen, würde sich auf partikulare Identitäten und deren Interessen kapriziert. Differenzen statt Gemeinsamkeiten würden betont; es existiere nun keine Menschheit mehr, sondern nur noch Träger von Identitäten. Der Ökonom Wolfgang Streek nennt Identitätspolitik eine „überschwängliche Buntheitsrhetorik“, eine Art pseudopolitische Spielart der befindlichkeitsfixierten Selfie-Kultur und somit bestens vereinbar mit der kapitalistischen Konsumkultur. Der linke Historiker und Journalist Ian Buruma führt seinerseits aus, man habe die Armutsbekämpfung gegen kulturelle Anliegen eingetauscht. Je schwächer die Gewerkschaften wurden, desto deutlicher schritt diese Verlagerung auch in linken Kreisen voran. Man sehe sich zunehmend mit Virtue-Signaling, einer Art angelsächsisch-protestantischer Bekenntniskultur, konfrontiert.

Mara Stieber sieht das anders. Identitätspolitik biete „eine komplexere und vollständigere Analyse der Verhältnisse“. Falls die kapitalistische Produktionsweise abgeschafft wäre, seien Frauen und Minderheiten trotzdem weiterhin unterdrückt. Sie beachte Ungleichheiten gleichermaßen entlang Genderkategorien, Race und ökonomischem Kapital. „Falls déi Lénk junge Wähler erreichen will, ist es nicht verkehrt Identitätspolitik miteinzubeziehen“, so die auf Gender Studies spezialisierte Mara Stieber. Im Anschluss an das Gespräch mit dem Land schickt sie eine Whatsapp-Nachricht und erklärt, den Begriff race würde sie auf Englisch verwenden, weil er eine „analytische und keine biologistische Kategorie sei“ und sie keinen gleichwertigen Terminus auf Luxemburgisch und Deutsch nennen könne. Luxemburgisch ist ihre Muttersprache, aber sie denkt auf Englisch.

Umweltthemen und die Herausforderungen angesichts des Klimawandels stellt Laurent Fisch im Sang a Klang in den Vordergrund. „Häusersanierungen müssen vorfinanziert werden“, wiederholt er die Forderung von déi Lenk. Laut Programm will man bis 2030 die Anwendung von Kunstdünger um 80 Prozent reduzieren. Außerdem fordern sie eine progressive Preisstaffelung für überschüssigen Wasserverbrauch und die Ausweisung weiterer Wasserschutzzonen. Überhaupt fiel am Freitag öfters die Wendung: „Mir si méi gréng wéi déi Gréng“. Eigentlich arbeitet der 55-iährige Laurent Fisch parteiintern eher auf Datenschutzthemen, aber dies sei ein technischer Randpunkt, deshalb habe er Umwelttopoi besetzt. Der Anwalt ist ein politischer Neuling. 2015 begegnete er auf einer griechischen Insel Flüchtlingen – das habe ihn politisiert. „In Bech habe ich zunächst auf lokaler Ebene Kleidersammel-Aktionen mitorganisiert, vor fünf Jahren bin ich schließlich bei déi Lénk Mitglied geworden“. Er ist von seinem ersten Wahlkampf „zugleich erschöpft und ganz froh, dabei zu sein“.

Gary Diderich ist im Gegensatz zu Fisch seit seiner Jugend zivilgesellschaftlich aktiv. Mit 16 Jahren engagierte er sich im Movement Ecologique und beäugte Parteipolitik zunächst skeptisch. 2009 änderte er seine Position und trat déi Lénk bei. Seit 2016 ist er deren Ko-Parteisprecher und Gemeinderat in Differdingen. Später am Wahlabend lässt er durchscheinen, dass eine Positionierung gegenüber dem Krieg in der Ukraine umschifft wurde, da das Nationalkomitee keine einheitliche Position in punkto Waffenlieferungen finden konnte. „Es gibt keine schwarz-weiß Antwort auf die Frage nach Waffenlieferungen. Für den nationalen Wahlkampf sind andere Schwerpunkte wie Lösungen für Umwelt- und Immobilienprobleme ohnehin relevanter“, meint der Spitzenkandidat aus dem Süden.

Kann déi Lénk ihre Mandate im Oktober retten? Während der Kommunalwahlen äußerte David Wagner bestimmte Unwägbarkeiten, die auch für die Nationalwahlen gelten: Ob die Linke ehemalige LSAP-Wähler/innen überzeugen kann, für sie zu stimmen. Ob sie Protestwähler abfangen kann, oder ob diese überwiegend die Piraten wählen? Ob sie sich als grüne Alternative etablieren konnte? Hinzu kommen Faktoren, die die Linke europaweit schwächen, wie die Atomisierung und Entsolidairisierung der Arbeiterbewegung, die Überpolitisierung von Trivialem aber der Rückzug aus zivilgesellschaftlichem Engagement und Vereinen. Der Absolutsetzung des eigenen Ichs und dem Trend hin zum Libertärem und Rechtspopulismus. Ob mit einem oder zwei Sitzen – déi Lénk wird Oppositionspartei bleiben. Ana Correia da Veiga witzelte unlängst über diesen Dauerstatus: „Mir hunn eis an der Oppositioun professionaliséiert.“

Stéphanie Majerus
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