„In Differdingen war das Jahr ganz gut, in Belval war es gut“, fasste Alex Nick am Mittwoch das zurückliegende Geschäftsjahr für die beiden wichtigsten Standorte der Luxemburger Stahlindustrie zusammen. Ähnlich hatte der Landesleiter von Arcelor-Mittal Luxembourg bereits vor einem Jahr geklungen, und damit unterscheidet sich das Ergebnis zumindest aus der Sicht seiner beiden wichtigsten Produktionsstandorte, die Langprodukte für die Bauwirtschaft herstellen, deutlich vom Ergebnis des Gesamtkonzerns.
Im Differdinger Werk, das 700 Arbeiter und 250 Leiharbeiter beschäftigt, auf schwere Stahlträger spezialisiert ist und regelmäßig mit seinen Jumbo-Trägern für den Bau von Wolkenkratzern und Brücken wirbt, wurden vergangenes Jahr vier Prozent mehr Träger hergestellt als ein Jahr zuvor, auch wenn die Rohstahlproduktion leicht abnahm. Zum Stolz des Werkes gehört ein 57-stöckiges Hochhaus im chinesischen Changsha, das mit 10 345 Tonnen in Differdingen maßgeschneiderten Trägern in nur 19 Tagen errichtet wurde.
Arbed Belval, mit 1 000 Arbeitern und 250 Leiharbeitern das größte Luxemburger Werk, stellte dagegen elf Prozent weniger Spundwände her. Der Produktionsrückgang hat aber nicht nur mit der Auftragslage zu tun, sondern auch mit einer mehr als einmonatigen Produktionsunterbrechung, als gegen Ende des Jahres eine neue Richtmaschine am Ende der Walzstraße 2 installiert wurde. Diese 35 Millionen Euro teure, von dem Düsseldorfer Maschinenbauer SMS gelieferte Investition ermöglicht die Herstellung der breitesten Spundbohlen auf dem Markt, mit denen Erd- oder Wassermassen zurückgehalten werden. Durch eine zusätzliche Verformung während der Herstellung der zu Z-förmigen Spundwänden ausgewalzten Bohlen konnte sich das Werk breitere Walzgerüste sparen. Und Sparen heißt nun einmal die Devise.
Produktionsrückgänge zwischen 3,6 und sieben Prozent, je nach Produktgruppen, musste das 236 Arbeiter beschäftigende Düdelinger Werk melden, das Bleche für die Auto- und andere Industrien galvanisiert und verzinkt. Erfolgreicher schlug sich die ehemalige Neelfabrik in Bissen, die sechs Prozent mehr Zaundraht und drei Prozent mehr Industriedraht herstellte. Um 30 Prozent konnte sogar die Produktion von Stahlfibern zur Verstärkung von Betonkonstruktionen erhöht werden.
Das vorübergehend von der Stilllegung bedrohte Werk in Rodange sucht sich mit Spezialprofilen, von Windmühlenflügeln bis hin zu Ketten für Raupenfahrzeuge, aber auch mit Schienen für Brückenkrane und Straßenbahnen, eine Nische zum Überleben zu schaffen. Besonders die Produktion von Spezialprofilen konnte dabei um 17,2 Prozent erhöht werden.
Der Konzern veröffentichte diese Woche nur die Entwicklung der Produktionsmengen. Der Umsatz in Euro mag durch den Preisverfall aber stärker geschrumft sein als die Produktion in Tonnen. Trotzdem scheint es den Luxemburger Werken besser als dem Gesamtkonzern Arcelor-Mittal zu gehen, zu dem sie seit zehn Jahren gehören. Denn der weltweite Umsatz von Arcelor-Mittal ist vergangenes Jahr drastisch gesunken. Die Geschäftsergebnisse für das gesamte Jahr 2015 gibt der Konzern entsprechend den Börsenvorschriften erst am 12. Februar bekannt, aber in den ersten neun Monaten des Jahres machte der Umsatz weltweit noch 49,6 Milliarden Dollar aus. Das sind 18 Prozent weniger als in den ersten neun Monaten 2014; damals hatte Arcelor-Mittal noch für 60,6 Milliarden Dollar Stahl verkauft.
Weit schlimmer trifft es den Konzern aber, dass der Haupteigentümer Lakshmi Mittal sich verrechnete, als er vor zehn Jahren eine feindliche Übernahme der französisch-luxemburgisch-spanischen Gruppe Arcelor unternahm und Dutzende weitere Stahl- und Bergwerke aufkaufte. Denn um die aggressive Expansionspolitik zu finanzieren, machte er astronomische Schulden auf Kosten des Konzerns. Keine zwei Jahre nach der Übernahme von Arcelor brach aber als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise weltweit der Stahlmarkt ein. Nach dem Rekordjahr 2008 fiel der Umsatz von Arcelor-Mittal 2009 um fast die Hälfte, von 124,9 auf 65,1 Milliarden Dollar. Dann erholte er sich zuerst mühselig, doch seit 2012 geht er wieder Jahr für Jahr zurück – weil die Konkurrenz hart ist, die Preise niedrig sind und Arcelor-Mittal wieder Werke verkaufen musste.
Hinzu kommt, dass der Konzern Bergwerke in aller Welt zu hohen Preisen aufkaufte, um unabhängig von fremden Erz- und Kohlelieferanten zu werden. Doch seit der Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Rohstoffpreise nicht mehr gestiegen, sondern historisch niedrig. Arcelor-Mittals Bergwerke erwirtschafteten im dritten Quartal 2015 einen Betriebsverlust von zwei Milliarden Dollar.
Das gesamte Betriebsergebnis von Arcelor-Mittal wies in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres einen Verlust von 1,3 Milliarden Dollar auf. Das wäre an sich fast eine Leistung, da der Verlust sich, trotz des zweistelligen Umsatzrückgangs, in der Größenordnung des Betriebsergebnisses der ersten neun Monate 2014 bewegte. Aber zu diesem Betriebsverlust von 1,3 Milliarden kamen noch einmal 1,3 Milliarden Dollar, die der Konzern an Zinsen auf seinen Schulden zahlen musste. Ende 2015 machte die Schuld des Konzerns schätzungsweise 15,8 Milliarden Dollar aus.
Um nicht unter dem Schuldenberg zu versinken, der vorübergehend 25 Milliarden Dollar erreicht hatte, musste Arcelor-Mittal alles zu Geld machen, was nicht zum Kerngeschäft erklärt wurde – bis hin zur Luxemburger Traditionsfirma Paul Wurth und zum Firmensitz am hauptstädtischen Rousegäertchen. Beteiligungen an wenige Jahre zuvor gekauften Bergwerken und Fabriken wurden wieder verkauft, obwohl es angesichts der Überkapazitäten schwer war, akzeptable Preise herauszuschlagen. Der Wert teuer erstandener Beteiligungen musste in der Bilanz gesenkt werden. Investitionen wurden auf ein Minimum gekürzt – auch in den Luxemburger Werken. Angesichts der geringen Nachfrage legte Arcelor-Mittal Hochöfen und Verarbeitungsanlagen still. Unter Aufgabe der stets in den Tripartite-Verträgen verbrieften Standortgarantie wurde das Schifflinger Werk stillgelegt. Die Verhandlungen mit dem Staat über die Nutzung der Industriebrache scheinen versandet zu sein. Geschlossen wird nun auch das Bettemburger Werk, das eine Spezialisierung in Sägedraht für Siliziumscheiben gefunden zu haben glaubte, bis es Opfer der Umwälzungen auf dem Sonnenkollektormarkt wurde. Die Schließung geschehe aber ohne soziale Härten für das halbe Hundert Beschäftigte und eine neue Verwendung für den Standort sei möglicherweise bereits gefunden, versicherte Präsident Michel Wurth am Mittwoch.
Im ersten vollen Geschäftsjahr nach der Übernahme, 2007, beschäftigte der Konzern 311 000 Leute, Ende 2014 waren es noch 222 000. Demnach hat er trotz anfänglich großer Zukäufe innerhalb von sieben Jahren fast ein Drittel der Belegschaft, 89 000 Arbeitsplätze, abgebaut. In Luxemburg beschäftigte die fast ein Jahrhundert dominierende Industrie 2007 noch 5 870 Leute, vergangenes Jahr waren es noch 4 260, etwa so viele wie die Post oder die Cactus-Supermärkte.
Die schlechten Geschäftsergebnisse und die hohen Schulden spiegeln sich im Aktienkurs des Konzerns wider, der zu den niedrigsten der Stahlbranche gehört. Der Preis einer Aktie war von etwa 30 Dollar im Übernahmejahr 2006 auf rund 100 Dollar im Jahr 2008 gestiegen, um inzwischen bei drei oder vier Dollar zu liegen.
Zuerst hatte Arcelor-Mittal versucht, an einer Kapitalerhöhung vorbeizukommen, die den Dividendenanteil und das Mitspracherecht der Familie Mittal gesenkt hätte. Aber dann musste die Firma sich doch zur Ausgabe zusätzlicher Aktien und von Wandelanleihen durchringen, um Geld aufzutreiben, mit denen Schulden zurückgezahlt werden konnten. Andernfalls wäre die Verschuldung im Vergleich zum Betriebsergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen so hoch geworden, dass die Gläubiger sofort ihr Geld hätten zurückverlangen können. 2012 hatten die führenden Rating-Agenturen die Schulden von Arcelor-Mittal als Junk-Bonds mit dem Status BB+ und Ba1 abgekanzelt. Vor vier Wochen senkte Standard and Poor’s den Ramschstatus der Schuld weiter auf BB, Tendenz negativ, Fitch ist inzwischen bei BB+ und Moody’s bei Ba2 angekommen.