Straßenbahnschienen

Das Wunder von Rodange

Schienenproduktion im Stahlwerk Rodange
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 02.02.2018

Unmittelbar vor der Bahnschranke an der Rue de l’Industrie, die in den Ortskern von ­Rodange führt, mit seinen Bankzweigstellen, Pizzerias, kleinen Reihenhäusern und Optikerläden, liegt das unauffällige Werkstor zur „Schmelz“, die belgische Grenze im Rücken. Das 1872 als Société anonyme des Hauts-Fourneaux de Rodange gegründete Werk hat seit 40 Jahren keine Hochöfen mehr. Es sei „eine ganz alte Schmelz“, so vergangene Woche Michel Wurth, der Verwaltungsratsvorsitzende von Arcelor-Mittal Luxemburg. Ihr Schicksal sei sogar „einen Augenblick in der Schwebe gewesen“.

Das ist zumindest ein Euphemismus. Denn dass das Werk heute noch arbeitet, grenzt vielmehr an ein Wunder, nach all den Umstrukturierungen, Fusionen, Entflechtungen, Stilllegungen, Syner­gien, Rationalisierungen und Strategiewechseln seit dem Beginn der großen Stahlkrise. 1973 wurde es mit dem jenseits der Grenze liegenden Werk von Athus zur MMRA fusioniert, nur vier Jahre später wurde das belgische Schwesterwerk mit dem Segen der Luxemburger Tripartite geschlossen. 1978 übernahm die Arbed ein Viertel des Kapitals in Rodange, 1994 machte sie das Werk zu einem Teil der Aciéries Rodange Esch-Schifflange (Ares), 2003 wurde Ares von Arcelor übernommen, 2006 dann von Mittal, und 2011 wurde das Schifflinger Schwesterwerk stillgelegt. Rodange war zum zweiten Mal entkommen. In Rodange begann die Straße C 1978, thermisch behandelten Betonstahl zu walzen, 2011 wurde die Straße C geschlossen, weil Betonstahl ein Billigprodukt ist. Ab 1978 wurden die Grube, die Hochöfen, die Sinteranlagen, ein Jahr später das Stahlwerk stillgelegt, nun lieferten Arbed Belval und Differdingen Halbzeug, 1983 wurde die Drahtstraße geschlossen, während ab 2007 die größere Walzstraße A modernisiert wurde.

Seit Jahren bemühe man sich in Rodange, so Michel Wurth, „strukturelle Standortnachteile durch Nischenprodukte mit hoher Wertschöpfung“ auszugleichen. Mit dem Mut der Verzweiflung bietet das Werk insgesamt 250 verschiedene Produkte und Produktvarianten an, so viele wie es Beschäftigte zählt... Wo Konkurrenten sich nicht die Mühe machen, liefert es auch kleine Mengen von 200 Tonnen. Das 2007 installierte Walzgerüst erlaubt es, mit immer neuen Tricks weitere Langprodukte herzustellen. Wenn die fristgerechte Lieferung einer der hart erkämpften Aufträge davon abhänge, seien die Arbeiter auch bereit, an einem Samstag zu walzen, denn sie alle liebten ja ihren Betrieb, meinte Michel Wurth, der als Vorsitzender der Handelskammer dafür wirbt, Arbeitszeitflexibilisierung auf Betriebsebene auszuhandeln.

Von den 121 400 Tonnen, die Rodange vergangenes Jahr auslieferte, ging ein Drittel in die Nachbarländer, zwei Drittel blieben in der Europäischen Union. Zu den Rodanger Nischenprodukten gehören über 20 verschiedene Ketten für Raupenfahrzeuge, wie Bagger und Bulldozer, die im Tiefbau und im Bergbau eingesetzt werden und auch von der wechselhaften Konjunktur dieser Branchen abhängig sind. Ein erfolgreiches Langprodukt sind Kathodenbarren. Sie werden von Alumi­niumhütten für die Elektrolyse von Aluminium aus Aluminiumoxid benötigt. Ein weiteres Nischenprodukt sind Zores-Eisen, Profileisen, die vor allem im französischen Sprachraum zur Absicherung von Bergwerksgalerien verwendet werden. Aber der Erz- und Kohleabbau ist zumindest in Europa rückläufig. In Rodange werden auch Winkeleisen hergestellt, die für Verstrebungen der Gerüste von Kränen oder Brücken benutzt werden, und Zwischenringe aus Profileisen, die dann in Dommeldingen fertiggestellt und mit denen die Türme von Windkraftanlagen zusammengesschraubt werden.

Das derzeitige Ziel ist es vor allem, die Auslastung der Walzstraße zu erhöhen, die jährlich bis zu 300 000 Tonnen Stahl verarbeiten könnte. Seit Jahren produziert sie lediglich auf zwei Schichten, die im Augenblick zu etwa drei Vierteln ausgelastet sind. Folglich wird jeder Auftrag nicht bloß danach bewertet, wie viel daran verdient ist, sondern auch, wie er die Auslastung und damit die Rentabilität steigern kann.

2015 stürzte sich das Werk in ein neues Abenteuer: in den Markt für Straßenbahnschienen. Schließlich stellt es schon Schienen für Laufkräne her, wie sie in Fabriken und Häfen gebaut werden. Da Laufkräne auf kleinen Flächen operieren, ist ihr Schienenbedarf entsprechend gering, Rodange konnte sich auf diesem kleinen Markt halten. Das Geschäft mit Straßenbahnschienen ist dagegen schon größer und umkämpfter, wenn auch nicht so groß und so umkämpft wie der Markt für Eisenbahnschienen. Städtische Straßenbahnnetze sind kleiner als Eisenbahnnetze, so dass auch das Geschäft mit Straßenbahnschienen kleiner ist.

Eisenbahn- und Straßenbahngleise brauchen jedoch verschiedene Schienen, und die sind manchmal auch von Land zu Land unterschiedlich. Während Vignolschienen für Eisenbahnen auf dem Grund liegen und die Räder der Züge darüber rollen, brauchen Straßenbahnen Rillenschienen, die mit dem Fuß und dem Steg in die Fahrbahn eingelassen werden, damit Autos und Fahrräder sie überqueren können; die Räder der Straßenbahnen rollen durch Rillen im Kopf der Schiene. Um ins Geschäft mit Rillenschienen einzusteigen, entwickelte Rodange in Zusammenarbeit mit dem Escher Forschungszentrum von Arcelor-Mittal eine eigene Technik, um auf seiner vorhandenen Walzstraße mit angepassten Gerüsten die Rillen walzen zu können.

Der Marktführer für Schienen, die österreichische Voestalpine, hat derzeit 25 verschiedene Profile von Rillenschienen im Angebot, der andere große Konkurrent, Tata Steel in Hayange, 20 Profile. Das Rodanger Werk konnte vergangenes Jahr sein Angebot von sechs auf elf Profile steigern, mit denen es drei Viertel der Nachfrage abzudecken versucht. Dazu gehören auch niedrige Schienen und solche mit breiten Rillen. Sämtliche Schienen gehorchen der Toleranz G, mit der bei der Montage eine minimale Abweichung der Schienenachse von der Vertikalen gewährleistet wird.

Allerdings ist es für einen Neueinsteiger schwierig, sich gegen Traditionsbetriebe zu behaupten. Trotzdem konnte das Werk beispielsweise 1 500 Tonnen Schienen für den Ausbau der Straßenbahn von Tunis und 2 000 Tonnen für die Straßenbahn von Kaohsiung in Taiwan liefern. Doch in Wirklichkeit müsste das Rodanger Werk gar kein Neueinsteiger sein und die Schienenproduktion entdecken. Denn es hatte selbst eine lange Tradition in diesem Sektor. „Rodange wird weiterhin eine wichtige Stellung unter den europäischen Schienenherstellern einnehmen“, schrieb die Arbed noch 1980 stolz in ihrem Portrait der Gruppe. Bis Rodange vor 30 Jahren die Schienenproduktion an Unimetal abgeben musste, die 1984 gegründete Langstahlabteilung von Usinor-Sacilor, die 1994 ihre Flüssigphase einstellte. Heute ist das zu Tata gehörende Werk von Hayange der größte Konkurrent, wenn Rodange zurück ins Geschäft mit Rillenschienen kehrt.

So kam die Rückkehr ins Straßenbahnschienengeschäft auch zu spät für die Luxemburger Tram, der 2 000-Tonnen-Auftrag ging an die Konkurrenz in Hayange. Das Rodanger Werk konnte lediglich Gleise für die Weichen liefern, die von der inzwischen zur deutschen Vossloh-­Gruppe gehörenden Firma Kihn in Rümelingen gebaut wurden. Um so mehr bemüht sich Rodange nun um den Auftrag für den zweiten Streckenabschnitt, auch wenn es dabei nur um 500 Tonnen geht. Für den aufstrebenden Schienenfabrikanten wäre die Luxemburger Straßenbahn ein Vorzeigeprojekt, so dass der Auftrag kaum am Preis scheitern dürfte. Entginge dem Werk allerdings der Auftrag, malt sich Werksdirektor Henri Reding die Peinlichkeit aus, wenn er einem ausländischen Interessenten die Qualität Rodanger Schienen anpreisen wolle und dieser frage, wieso nicht einmal die heimische Straßenbahn sie benutzt. „Uns geht es um die Referenz“, weniger um den Profit.

Zwar macht das Werk eifrig Lobbying für seine Schienen, aber es hat den Auftrag noch nicht in der Tasche. Vieles hängt von der bevorstehenden Ausschreibung ab. Weil die Tram über das französische Schienenprofil 54G1 rollt (54 steht für das Gewicht pro Meter, G für die Toleranz), könnte eine französische Firma den Zuschlag bekommen. Überlässt Luxtram der Firma, die die Schienen verlegen soll, auch deren Beschaffung, könnte die Montagefirma ihre Schienen im französischen Hayange kaufen, wenn sie bereits Geschäftsbeziehungen zu diesem Lieferanten unterhält. Schreibt Luxtram die Lieferung und die Verlegung der Schienen für den zweiten Abschnitt ihres Straßenbahnnetzes dagegen getrennt aus, stehen die Chancen für Rodange besser.

Romain Hilgert
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