„Ich möchte, dass alle verstehen, dass jeder den anderen braucht.“ Sagt Jens Kreisel, Physiker und Materialwissenschaftler und seit September Direktor der Abteilung für Materialwissenschaften am Forschungszentrum Gabriel Lippmann.
Kreisels Berufung auf den Direktorenposten an dem Beleser Forschungszentrum ist mehr als nur die Neubesetzung einer Stelle, die vakant geworden war, als der bisherige Direktor in den Ruhestand ging. Der Nachfolger wurde nicht vom Verwaltungsrat des CRP Gabriel Lippmann allein ausgewählt, sondern von Anfang an gemeinsam mit dem CRP Henri Tudor. Was nicht nur demonstriert, wie ernst es den beiden Instituten nach wie vor mit der im Frühjahr öffentlich verkündeten Fusionsabsicht ist. Es zeigt auch den Willen zur Kooperation gerade in der Materialwissenschaft – dem Bereich, in welchem beide CRPs in der Vergangenheit besonders stark miteinander konkurrierten. Dass eine externe Evaluation im Auftrag des Forschungsministeriums 2010 mit dem Verdikt endete, beide Abteilungen mit ihrem viele Millionen Euro teuren Gerätepark verfügten über keine klare Forschungsstrategie, hatte sogar die Politik beschäftigt. Der Fusionsbeschluss beider CRPs wurde nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund getroffen.
Deshalb dürfte bei Kreisels Berufung eine wichtige Rolle gespielt haben, dass er nicht nur als Wissenschaftler Erfahrung hat, sondern ebenfalls als Stratege. An seinem letzten Arbeitsort, dem Grenoble Institute of Technology, war er nicht nur Forschungsleiter, sondern auch jahrelang Vizepräsident für internationale Beziehungen gewesen und half, das Institut gegenüber der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Ein kultureller Grenzüberschreiter ist er ebenfalls: Der gebürtige Dortmunder ging schon während seines Physikstudiums in Deutschland für ein Auslandsjahr an die d’École d’ingénieurs in Lyon (Insa), und weil ihm Frankreich so gefiel, studierte er anschließend parallel Physik in Karlsruhe und Materialwissenschaften in Grenoble, wo er später auch seinen Doktortitel erwarb. Nach einem Postdoc-Aufenthalt in Oxford kehrte er nach Grenoble zurück und übernahm die Leitung eines 25-köpfigen Forscher-Teams.
„Extrem positiv überrascht von der Forschungsstärke in Luxemburg“ sei er gewesen, erzählt Kreisel. „Klar hatte ich Ängste, als ich ankam; ich komme ja aus einer regelrechten Hightech-Stadt.“ Aber was in den Labors von Lippmann wie von Tudor mit ihren insgesamt 150 Mitarbeitern in der Materialforschung geleistet würde, könne sich unbedingt sehen lassen. Und schon heute gebe es in beiden Abteilungen „quasi keinen Overlap“ mehr. Jetzt geht es nicht zuletzt um Overlap im Denken: „Bisweilen sind in den Köpfen noch Gedanken, die an Realitäten von vor zehn Jahren hängen. Das muss aufhören.“
Antrieb für die Überlegungen zur gemeinsamen Zukunft ist auch die aktuelle Wirtschaftskrise, in der Auftraggebern aus der Industrie das Geld nicht mehr so locker sitzt wie früher. Einst hatten Tudor und Lippmann um Materialanalyse-Aufträge besonders miteinander konkurriert. Der Gerätepark in beiden Abteilungen ist zwar ziemlich komplementär, Analysen aber lassen sich an jedem Institut gleichermaßen machen. Dieses Potenzial will Kreisel zu einer „nationalen Plattform“ zusammenführen helfen. Andernfalls könnten die Auftraggeber die beiden Institute womöglich in einen Preiskampf treiben. „Dabei könnten beide nur verlieren.“ Stattdessen sollte die Plattform den Anspruch haben, auf sehr hohem Niveau zu funktionieren – nicht nur für Luxemburger Betriebe, sondern auch für Auftraggeber aus der Großregion.
Brücken bauen will Jens Kreisel nicht nur zwischen den beiden Forschungsabteilungen bei Tudor und Lippmann. Zwischen ihnen hat die Zusammenarbeit schon begonnen. Etwa in einem großen Projekt zur Entwicklung nanobeschichteter Polymere, in das Tudor seine Kompetenz in der Polymerforschung einbringt und Lippmann sein „Nano-Wissen“. Intensivieren will Kreisel auch die Kontakte zu den Materialwissenschaftlern der Universität Luxemburg. Für die Zukunft wünscht er sich gemeinsame Projekte und gemischte Forschungsgruppen mit der Uni. Große Hoffnungen setzt er in die Cité des sciences in Belval, wo alle Materialwissenschaftler einander in einem gemeinsamen thematischen Haus begegnen werden. Den „Campus-Effekt“ dürfe man auf keinen Fall unterschätzen, meint er und erinnert sich an Grenoble, einen der großen europäischen Standorte für das Material-Fach. Denn vielleicht sind dort gewissermaßen zu viele Akteure angesiedelt und die Wege zwischen ihnen mitunter zu lang. „Ich weiß noch, wie manch interessante Idee bei einem gemeinsamen Mittagessen entstand – dann aber im Sande verlief, weil man sich nicht mehr traf. Obwohl das nur eine Fahrt mit der Straßenbahn gekostet hätte.“ In Belval werde es viel schwerer, einander nicht mehr zu begegnen.
„Zeithorizonte anzugeben, ist immer riskant“, erklärt er zum Schluss. „Aber ich meine, in fünf bis zehn Jahren müsste es zu schaffen sein, die Luxemburger Materialforschung unter der der großen Institute zu positionieren.“ Und weil Jens Kreisel Erfahrung hat in der Strategiebildung, ist das ja vielleicht keine ganz unrealistische Perspektive.