Am kleinen Bahnhof von Tenterden in Kent ist heute viel los. Menschen mit Ferngläsern und Kameras warten gespannt am Bahnsteig, alle Blicke sind in die Ferne gerichtet. Plötzlich ertönt ein lautes Pfeifen und am Horizont erscheint eine Zwerg-Dampflokomotive von Peckett & Sons mit dem Namen Marcia. Als die Maschine langsam anrollt, pfeift sie noch einmal und der Bahnhof verschwindet in dichtem Rauch. Einige Anwesende husten, doch die Begeisterung ist groß.
An diesem sonnigen Aprilwochenende findet hier die Dwarves of Steam Gala statt, bei der Zug-Fans einen „intensiven Zwei-Zug-Service zwischen den Bahnhöfen Tenterden Town und Wittersham Road“ erleben können. Neben den lokalen Stars wie Marcia, Knowle und Hastings wurde auch die Gast-Lokomotive Judy aus Cornwall hergebracht. Sie ist eine stämmige und kompakte Maschine, die dank ihrer Größe unter einer 2,40 Meter hohen Brücke auf ihrer Heimstrecke in Cornwall rollen kann.
Dwarves of Steam ist eines von unzähligen Events, mit denen Großbritannien dieses Jahr den 200. Geburtstag der modernen Eisenbahn feiert. Denn die Briten waren in Sachen Bahntechnik Vorreiter: Im September 1825 rollte die Locomotion No 1 mit mehr als 30 Wagons von Darlington nach Stockton im Norden Englands und wurde so die erste Bahn, die Dampfzüge zur Personenbeförderung einsetzte. Der Zug, der mit rund 24 Stundenkilometer über eine kurze Strecke tuckerte, begeisterte die Zuschauer, die angereist waren, um die Innovation mit eigenen Augen zu sehen.
Heute gibt es in Großbritannien immer noch eine große Gemeinschaft von Trainspottern, Eisenbahnenthusiasten, von denen sich auch einige in Tenterden zusammenfinden, Zwerglokomotiven bewundern und fotografieren. Bei vielen Pendlern auf der Insel hält sich die Begeisterung für Züge allerdings in Grenzen.
Denn das gesamte Schienennetzwerk ist geplagt von Zugausfällen und Verspätungen. Gleichzeitig war Zugreisen selten so teuer wie heute. Von London aus reist man oft günstiger nach Europa als in eine andere britische Stadt. Wer zum Beispiel mit dem Zug nach Edinburgh fahren will, kann für eine Einzelfahrkarte schon mal 150 Pfund hinblättern – auch wenn drei Wochen im Voraus gebucht wird. Mit einem Billigflieger konnte man für diesen Preis nach Europa fliegen. Viele Briten haben deshalb das Zugfahren aufgegeben und steigen lieber wieder ins Auto.
Laut dem Office of Rail and Road (ORR), einer unabhängigen Behörde, fielen zwischen Oktober und Dezember 5,1 Prozent der Züge in Großbritannien aus. Von denen, die fuhren, waren nur 62,1 Prozent pünktlich. Gründe für diese peinlichen Zustände gibt es mehrere.
Vor allem mangelt es Großbritannien an Lokführern. Zugbetreiber bieten Überstunden an, um an Wochenenden, Feiertagen und in Zeiten akuten Personalmangels den Zugverkehr aufrechtzuerhalten. Der britische Zugverkehr beruht regelrecht auf „rest day working“. Das heißt, er ist auf Lokführer angewiesen, die an ihren freien Tagen freiwillig Zusatzschichten übernehmen.
Wer an Wochenenden in Großbritannien reist, muss Geduld haben. An einem Sonntag im Juni letzten Jahres gab es in ganz England besonders viel Chaos. Der Grund? Es war Vatertag in Britannien und gleichzeitig spielte die englische Fußballmannschaft ihr erstes Spiel in der Europameisterschaft. Es konnten nicht genügend Lokführer gefunden werden.
Das Problem könnte sich noch verschlimmern. Von den rund 27 000 Lokführern in Großbritannien werde in den nächsten fünf Jahren bis zu ein Drittel in Rente gehen, schrieb der
Guardian.
Vor allem die Jahre 2022 bis 2024 waren für Passagiere schwierig, denn neben den üblichen Personalproblemen riefen Gewerkschaften zu 18 Streikaktionen auf, mit denen sie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen forderten. Einige dieser Streiks legten den Bahnverkehr in großen Teilen Großbritanniens lahm. Im vergangenen Jahr einigte man sich auf einen Tarifvertrag.
Als der konservative Premier John Major in den 1990-er Jahren die Privatisierung der Bahn einleitete, hoffte seine Partei, dass der Wettbewerb zwischen Bahnunternehmen den Reisenden zugute kommen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Den Unternehmen wurde vorgeworfen, eher im Interesse der Aktionäre als dem der Fahrgäste zu handeln.
Nach mehreren Unfällen, die auf fehlerhafte Wartung zurückzuführen waren, wurde das Schienennetz im Jahr 2002 wieder in staatliche Hand gebracht. Private Bahnunternehmen bedienten jedoch weiterhin verschiedenen Regionen – als Franchise-Nehmer sozusagen. Trotz der Privatisierung blieb die Bahn für den Staat teuer. Die Regierung zahlte zum Beispiel Subventionen an Unternehmen, damit auch kommerziell weniger rentable Regionen weiterhin bedient wurden. Als die Umsätze in den Covid-Jahren einbrachen, musste die Regierung dem Privatsektor stark unter die Arme greifen.
All das soll sich jetzt ändern, denn Keir Starmers Labour-Regierung will die Bahn wieder verstaatlichen. Das soll die „größte Eisenbahnreform seit einer Generation“ werden, so die ehemalige Transportministerin Louise Haigh. Die aktuellen Verträge der Bahnunternehmen will die Regierung in den kommenden Jahren auslaufen lassen. Anschließend soll
„Great British Railways“ gegründet werden, ein staatliches Unternehmen, das das Eisenbahnsystem in England, Wales und Schottland beaufsichtigen wird.
„Durch die Gründung von Great British Rail werden wir unsere Eisenbahnen reformieren, um die Arbeitsabläufe zu modernisieren, Fahrkarten einfacher und fairer zu gestalten, den Fahrgästen einen besseren Service und den Steuerzahlern bessere Konditionen zu bieten“, versprach Heidi Alexander, die Nachfolgerin von Louise Haigh.
Der Gesetzentwurf soll dem Parlament im Herbst vorgelegt werden. Die erste Firma, die verstaatlicht wird, ist Southwestern Railway, deren Vertrag im Mai dieses Jahres ausläuft.
Lokführer begrüßen größtenteils die Verstaatlichung. Es sei „die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit, ein Ende der gescheiterten Fragmentierung unseres Netzwerks“, so Mick Whelan, Chef der Lokführergewerkschaft Aslef gegenüber dem Guardian. Die Eisenbahn werde nun wieder „als öffentliche Dienstleistung und nicht für private Zwecke betrieben“ werden.