Jeff Schinker „Il faut tout brûler!“, skandiert Jean-Luc Godard in Richard Linklaters Nouvelle Vague – denn wahres Kino, so erneut der (von Guillaume Marbeck verblüffend verkörperte) Godard, revolutioniert oder plagiiert. Und wer wie Godard die Revolution sucht, kommt nicht darum herum, mit dem, was vorher war, aufzuräumen. Wer bei Godards geplanter tabula rasa nicht an die ersten und letzten Waldbrandsequenzen von Lynne Ramseys Die My Love denkt, der am selben Tag wie Linklaters Metakino-Hommage auf der Croisette lief, hat wohl kein Gespür für genau die Zusammenhänge, die sich im Laufe eines Festivals erschließen – und die teils deswegen entstehen, weil gesellschaftliche Unruhen stets auch die Fiktion prägen, teils, weil sich jemandem, der täglich vier bis fünf Filmprojektionen aufsucht, irgendwann eine Schar an Verknüpfungen auftut, teils aber auch, weil es, abgesehen von Wes Andersons Selbstpastiche, die er seit einem Jahrzehnt betreibt und die in seinem The Phoenician Scheme konsequent auf ihre inhaltsleere und formal vorhersehbare Spitze getrieben wird, einen Grund gibt, wieso genau diese Filme dieses Jahr in der Königsdisziplin aller filmischen Wettbewerbe fungieren.
Marc Trappendreher Ja, das Team um Festivaldirektor Thierry Frémaux programmiert überaus klug, es lassen sich auch dieses Jahr wieder thematische Konstanten, wiederkehrende Motive und Stilismen in den Filmen unterschiedlichster Künstler ausmachen: Da gibt es das Individuum, das sich gegen ein übermenschliches System behaupten muss, in Lozintsas Aufarbeitung des Stalinismus oder bei Molls Blick auf die Polizeigewalt im Kontext der Gelbwestenbewegung. Auch ist die Frage nach der umfassenden Zirkulation von Bildern im Zeitalter des Smartphone und Social Media, bei Moll ebenso wie bei Ari Aster in Eddington präsent. Und ja: Wes Anderson beweist einmal mehr, dass er sich in selbstgefälligen Endlosschleifen bewegt. Natürlich meint ein auteur zu sein auch, den gleichen Film immer wieder zu machen, aber die Schablone, die Anderson uns in den letzten Jahren immer wieder vorlegt, hat jedweden Reiz verloren. In der Zusammenschau mit anderen Festivalbeiträgen beweist der Film paradoxerweise nur, wie sehr Anderson überholt ist, dass Kino mehr sein kann als bloßes Puppentheater. Dafür aber muss man sich auf radikalere Werke im Wettbewerb einlassen, beispielsweise auf die meditative Reise, die Olivier Laxe uns mit Sirāt vorschlägt oder der komplexe deutsche Festivalbeitrag Sound of Falling, der eine überaus unkonventionelle und herausfordernde Erzählweise bemüht.
J. S. Überhaupt scheint der Wettbewerb dieses Jahr über eine Dramaturgie zu verfügen, die ich in sieben Festivaljahren so noch nicht erlebt habe. So finden sich die verstümmelten Körper in Mascha Schilinskis generationsübergreifendem Sound of Falling auch in Sergei Loznitsas Deux procureurs wieder – ja, sogar taucht ein in der Wettbewerbsouverture abgetrenntes Bein zehn Filme später in Kleber Medonça Filhos O Agente Secreto wieder auf, wo es humpelnd Prostituierte und Freier verprügelt (doch dazu nächste Woche mehr). Bei Schilinksi, die die Polyphonie eines frühen Iñárritu mit der verstörenden Bildsprache eines Lynch und der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung eines Haneke verzahnt und dabei vier Frauenschicksale poetisch verflechtet, ist es Onkel Fritz, der in einer furchterregenden Sequenz durch den Hof gejagt wird, weil man ihm mit dem Beil, mit dem auf dem Bauernhof sonst Schweine geschlachtet werden, ein Bein abtrennen will – später stellt sich heraus, dass dieser als Arbeitsunfall getarnte Folterversuch in Wahrheit der verzweifelte mütterliche Versuch darstellte, den Sohn vom Einzug in den Krieg zu schützen. Bei Loznitsas kafkaesker Ermittlung inmitten Stalins „Großer Säuberung“ hingegen wird ein treuer Bolschewik so lange gefoltert, bis er sich selbst als Verräter denunziert. Staatsanwalt Kornev ist dabei durch und durch (bis hin zum K im Vornamen) eine Kafkafigur und das, was er durchstehen muss, wird irgendwann so absurd (ich denke hierbei an das Labyrinth des Gerichtshofs, gefilmt wie ein Gemälde von Escher, aus dem eine Figur keinen Ausweg mehr findet, oder auch an das Ende, das den Anfang von Kafkas Prozess spiegelt), dass die formale Strenge von Loznitsas 32. Film zunehmend und bis zu seinem tragischen und tragisch vorhersehbaren Ende ins Übernatürliche kippt.
M. T. Das ist ein spannender Befund: Dieses Jahr scheint sich im Wettbewerb eine düstere Klammer aus Gewalt, Körperlichkeit und existenzieller Bedrohung zu bilden, die fast wie ein unterbewusstes Narrativ des Festivals wirkt. Was auffällt, ist die Art wie bei Schilinski und Loznitsa Gewalt nicht bloß als Schockeffekt, sondern als Ausdruck tieferer systemischer oder familiärer Mechanismen inszeniert wird. In Sound of Falling wird das Abschlagen des Beins ja fast zu einem pervertierten Akt der Fürsorge – brutal, aber eben auch getragen von Ohnmacht gegenüber größeren Kräften, wie dem Krieg. Und bei Loznitsa kippt der Justizapparat der Stalin-Zeit so sehr ins Groteske, dass man fast schon an ein metaphysisches Gefängnis denkt – wie du sagst: kafkaesk, aber auch mit dieser Escher-haften Bildsprache nahezu traumlogisch. Ich frage mich, ob nicht genau diese Verschränkung von Historischem und Surrealem ein Versuch ist, unsere Gegenwart zu verarbeiten.
J. S. Solche Spiegelungen gibt es bisher ständig und überall, sodass, ein bisschen wie in Schilinskis Sound of Falling, der Wettbewerb aus Echos, Resonanzen und Doppelgängerfiguren besteht: Die Polizeigewalt in Dominik Molls Dossier 137 findet sich auch in Ari Asters Eddington wieder. Moll erzählt aus der Sicht einer Polizistin, die für die IGPN (Inspection Générale de la Police Nationale) arbeitet und die, genau wie Loznitsas Kornev, inmitten eines Systems, dessen Infragestellung weder erwünscht noch toleriert wird, gegen einen Vorfall möglicher Polizeigewalt während einer Gelbwestendemo ermittelt. Dabei gerät sie zwischen die Fronten – sowohl die Kollegen bei der Polizei wie auch die Familie des hospitalisierten Guillaume konstruieren Lea Druckers Stéphanie als Feindbild: Für die Kollegen ist sie eine Nestbeschmutzerin in Zeiten der Unruhe, die Solidarität braucht, für die Mutter des Opfers bleibt sie eine Polizistin – ein Berufsstand, der einer Beschimpfung gleichkommt. Denn wie Stéphanies Teenie-Sohn seiner Mutter klar vermittelt: „Personne n’aime la police.“ Bei Asters Neowestern Eddington wird die Polizeigewalt dann so lange ad absurdum geführt, bis sie sich gegen sich selbst wendet.
M. T. Absolut, Asters Film beschreibt in der Bildsprache des Westerns eine Verrohung, es ist ein schonungsloser Spiegel der gegenwärtigen US-Gesellschaft. Auf engem Raum inszeniert er die großen Konfliktlinien eines gespaltenen Landes. In der fiktiven Kleinstadt treffen Pandemie-Politik, Verschwörungstheorien, politische Radikalisierung und familiäre Zerrüttung aufeinander – Themen, die seit 2020 die gesellschaftliche Realität Amerikas prägen. Die Hauptfigur, ein störrischer Sheriff, wird zum Symbol eines tief verwurzelten Misstrauens gegenüber staatlicher Autorität und hochmoderner Wissenschaft. Die Wahlkampf-Farce, die sich aus einem simplen Streit um die Maskenpflicht entwickelt, steht stellvertretend für die Absurdität öffentlicher Debatten im digitalen Zeitalter, in dem soziale Medien Wahrheiten verzerren und die Grenze zwischen Information und Manipulation längst aufgehoben ist. Mit seinem überhöhten, satirischen Stil macht Regisseur Ari Aster die zersetzende Kraft von Angst, Nostalgie und ideologischer Verblendung sichtbar – und zeichnet damit das Porträt einer Nation, die sich zunehmend selbst fremd geworden ist. Grenzen werden nicht mehr gen Westen gezogen, sondern sie verlaufen innen: zwischen Ideologien, Klassen und Rassen.
J. S. Dabei ist Eddington der erste Film, der auf eine beeindruckende Art die zerstörerische Kraft des Smartphones und einen durch die Pandemie ausgelösten Paradigmenwechsel inszeniert – und somit die verheerende Konsequenz dessen, was passiert, wenn wir, wie es Jesse Eisenbergs Mark Zuckerberg in The Social Network voraussagte, im Internet leben, verbildlicht: Asters Figuren existieren fast ausschließlich in ihrer identitätsstiftenden digitalen Blase, verschanzen sich in Mikrogemeinschaften und lösen im Namen der eigenen Ideologie, die sich (fast) immer tolerant und engagiert gibt, eine Spirale der Gewalt aus, die Aster in seinem radikalen Finale konsequent und hyperbolisch zu Ende denkt. So zeigt sich Asters vierter Film als wahrhaft apokalyptisch, eine ähnliche Weltuntergangsstimmung zieht sich dann auch wie der sprichwörtliche rote Faden durch die erste Hälfte des Wettbewerbs: Eddington allegorisiert ein verlassenes Kaff in New Mexiko als Schauplatz aller postpandemischer Pathologien des heutigen US-Amerikas; in Oliver Laxes Sirât wird die marokkanische Wüste zu einer Hölle, in der sich marginalisierte Menschen zusammentun, um zu überleben (wäre Hobbes ein Regisseur gewesen, der auf sinnliche Elektromusik steht, hätte er diesen Film gedreht) – und in Ramseys Die, My Love wird eine toxische Beziehung mit Starbesetzung in einem finalen Waldbrand metonymisiert – ein Film wie eine dunkle, kranke Variante von Noah Baumbachs Marriage Story.
M. T. Man kann auch an eine krankhafte Version von Revolutionary Road von Sam Mendes denken. Vielleicht lassen sich in den Filmen des diesjährigen Wettbewerbs grob zwei Tendenzen ausmachen: Der Appell und das Angebot. Dossier 137; Eddington; Two Prosecutors; Die, My Love begreifen sich als filmische Appelle, sie wollen aufrütteln, Gegenwärtiges spiegeln – unmittelbar und direkt, überhöht und schwarzhumorig. Während der Appell auf Reaktion zielt – auf Bewusstmachung, Zustimmung, auf Positionierung – liegt im Angebot eine andere Geste: die des Bereitstellens, des Auslegens, des Möglichen. Sound of Falling oder Sirāt sind vielmehr Einladungen, sie inszenieren keine Gewissheiten, sondern lassen Assoziationen zu. Die Bilder – ein verendetes Reh im Kornfeld, eine tote Fliege auf der Wasseroberfläche in Sound of Falling oder die langen körperlichen Rave-Sequenzen in Sirāt – sind keine eindeutigen Symbole, sondern fragile Träger einer Bedeutung, die sich erst im Moment der Betrachtung, in der Bewegung zwischen Film und Publikum ergibt. Die lose Struktur, die fragmentarische Erzählweise und die enigmatischen Bilder sind keine geschlossene Botschaft, sondern Anknüpfungspunkte: für Assoziationen, eigene Erfahrungen, innere Bilder.
J. S. Einverstanden. Also gibt es dieses Jahr doch vielleicht eine filmische Revolution und kein simples Plagiat: Abgesehen von Wes Anderson, dessen Filme immer mehr wie ein Readymade wirken, entfernen sich einige Wettbewerbsfilme – eben die, die du, Marc, sehr treffend als „Angebot“ kennzeichnest – deutlich von eingetretenen Formen der Filmsprache oder, ganz einfach, von der Wirklichkeitsnachahmung. Es stellt sich allerdings die Frage, ob, weil die filmische Revolution heutzutage eben nicht mit jeder neuesten Festivalauflage möglich ist (oder sagen wir es mal so: weil eine Kunstform, je länger sie existiert, sich zunehmend schwieriger darin tut, sich zu erneuern), Linklater und die Festivalprogrammierer nicht den Ausweg über die Metaebene gesucht haben: Als Dokumentation getarnte Fiktion, die streckenweise genau dort stattfindet, wo die ersten Kritiker/innen den Film entdecken durften, nämlich im Palais des Festivals, spiegelt Nouvelle Vague unweigerlich den Zustand des zeitgenössischen Kinos, der sich an der cineastischen Revolution von damals messen muss. Dem Schelm Linklater, dessen Nouvelle Vague die strahlend helle Seite seines vor ein paar Monaten auf der Berlinale vorgestellten Blue Moon ist – dort ging es um die gescheiterte künstlerische Existenz und den Alkoholtod des Broadway-Musical-Dichters Lorenz Hart und den Abgesang auf die Kunstform, für die er stand; hier um die Geburt einer künstlerischen Karriere und einer Kunstbewegung –, gelingt es dabei, sich einer klaren Antwort auf die Fragen, die sein Film aufwirft, zu entziehen. Die Antwort darauf findet sich vielleicht in anderen Beiträgen: Bei Schilinski, Laxe und Aster, also den bisher radikalsten Vorschlägen, die auf der Croisette (relativ) neue filmische Ausdrucksformen ausprobieren. Um es mit Godards Wörtern zu resümieren: „C’est vraiment dégueulasse.“