Ein Betreuer sitzt mit einem jungen Mann am Tisch. Er fragt ihn, wie es ihm geht. Das ist die Eingangsszene von Orangerie, einem Dokumentarfilm, der Einblick in die Luxemburger Psychiatrie, genauer gesagt, ins Neuro-psychiatrische Landeskrankenhaus Ettelbrück gibt. Es sind unterschiedliche Geschichten, welche die Filmemacher Anne Schiltz und Benoît Majerus mit ihrer Kamera einfangen, von psychisch kranken Frauen und Männern, alt und jung, in Luxemburg geboren oder nicht. Sie alle eint, dass sie in der Orangerie in Ettelbrück untergebracht sind und dort betreut werden.
Andere haben keine solche Betreuung. Sie riskieren, durch das Hilfenetz zu fallen. Trotz Dezentralisierung und politischer Priorität auf die Psychiatrie: Gerade für ältere Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen tun sich in der psychiatrischen Versorgung hierzulande Lücken auf. Jeder Fünfte über 60 Jahren, das sind 21 Prozent, braucht psychiatrische Hilfe.
Eine davon ist Françoise M.* Mit 80 Jahren wurden Gelenkprobleme so schlimm, dass sie sich operieren ließ. Nichts Ungewöhnliches für viele Frauen in ihrem Alter. Doch nach der Vollnarkose ist sie nicht mehr dieselbe. Angstzustände, Panikschübe. Die Tochter erkennt ihre eigene Mutter kaum wieder. So groß ist die Panik, dass die Frau kontinuierlich Betreuung braucht und nicht mehr daheim mit ihrem ebenfalls labilen Ehemann wohnen kann.
Eine Odyssee durch die psychiatrischen Hilfsangebote beginnt. Nach einer extremen Angstattacke fährt die Tochter sie in ein Akutkrankenhaus in die Hauptstadt. Die Diagnose des behandelnden Arztes lautet: schwere Angstdepressionen. Sechs Wochen später wird die Patientin entlassen, sie nimmt nun Medikamente gegen die Panik und die Schwermut. Eine Nachversorgung gibt es nicht, sie bleibt sich selbst überlassen. Kein Anschlusstermin, keine Beratung der Angehörigen, obwohl Fachleute dem Land bestätigen, dass das „absolut nicht geht“. Völlig unklar, wer nun die Behandlung übernehmen wird. Nicht einmal auf die Sozialhelferin, die es in jedem Krankenhaus gibt, macht der behandelnde Psychiater Mutter und Tochter aufmerksam. Durch einen Zufall erfährt Letztere davon. Auch die Sozialarbeiterin kann ihr nicht helfen: Nach dem Elternurlaub müsse sie sich erst einarbeiten.
Weil die Tochter keine andere Lösung findet und kein Altersheim die psychisch kranke Frau so schnell aufnehmen kann, wird sie zunächst provsorisch in einem so genannten „Vakanzebett“ einer Alteneinrichtung untergebracht. Dort bleibt sie – bis zum nächsten Anfall. Wieder eilt die Tochter zu ihr, fährt sie ins diensthabende Krankenhaus. Derweil geht die Suche nach einem Heim, das die kranke Frau pflegen kann, weiter. Nach vielen Telefonaten und einigen ergebnislosen Vorstellungsgesprächen findet sich schließlich eines, das sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Eine fachkundige psychiatrische Versorgung gibt es dort allerdings nicht. Das Pflegepersonal ist für diese Patienten nicht ausgebildet. Wegen ihrer Angstzustände, die in eine regelrechte Sozialphobie münden, kann die ältere Frau bei den dort gebotenen Aktivitäten nicht mitmachen. Aufgrund einer Infektion sitzt sie am Esstisch zudem alleine. Und auch die Suche nach einem Psychiater, der bereit ist, die auf Medikamente angewiesene Frau zu behandeln, erweist sich als Odyssee, die die Tochter alleine durchstehen muss. Auf 100 000 Einwohner kommen in Luxemburg 18,2 Psychiater, das ist weniger als in Deutschland (19,8) und Frankreich (21,8), aber etwas mehr als der OECD-Durchschnitt (15,4).
Nach monatelangem Suchen findet die Tochter schließlich einen Facharzt, die Fahrtzeit vom Altersheim beträgt mehr als 15 Minuten. Alle sieben bis acht Wochen fährt sie die Mutter zum Psychiater in die Hauptstadt. Dabei hatte der Arzt, der sie in der Klinik untersucht hatte, betont, zur BEobachtung sei es wichtig, in der Anfangszeit einmal wöchentlich einen Facharzt zu konsultieren.
Glaubt man dem sozialistischen Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo dürfte es solche Fälle nicht geben. In einer Antwort auf die parlamentarische Anfrage der CSV-Abgeordneten Sylvie Andrich-Duval beschreibt der Minister, wie die Versorgung idealerweise hätte organisiert sein müssen: Für psychiatrische Notfälle und Krisen ist das Akutkrankenhaus zuständig. Kann dort nicht geholfen werden, kann ein psychisch Kranker Patient ins Ettelbrücker CHNP überwiesen und dort stationär behandelt werden. Im Falle Françoise M. hat das aber nicht funktioniert: Der diensthabende Arzt im Akutkrankenhaus verlor über eine mögliche Unterrbingung im CHNP kein Wort.
„Das Problem ist uns bekannt“, bestätigt Marc Graas. Der Psychiater und Leiter des psychiatrischen Krankenhauses in Ettelbrück hat rund 80 Langzeitpatienten in seiner Klinik. Sie können nicht ohne fachärztliche Behandlung leben. Während es für Demenzkranke Angebote in diversen Pflegeheimen des Landes gibt, sind Betreuungsstrukturen für ältere psychisch Kranke rar. Deshalb hatte Grass, auf der Suche nach einem neuen Wirkungskreis für das reformbedürftige CHNP, vor einiger Zeit noch einen Vorschlag beim Gesundheitsministerium eingereicht, ein Heim für ältere Leute einzurichten, die chronisch psychisch krank sind. „Für diese Altersgruppe der psychisch Kranken, die nicht gefährlich sind, fehlen Wohnstrukturen“, sagt Graas.
Die Betreuung müsse aber nicht unbedingt in einer Einrichtung geschehen. „Grundsätzlich ist es gut, wenn die Personen so lange wie möglich selbständig bleiben“, betont Graas, der heute froh darüber ist, dass sein Vorschlag vom Ministerium damals nicht zurückbehalten wurde. „Wir neigen in Luxemburg dazu, stationäre Strukturen zu schaffen. Besser wären kleiner Wohnstrukturen oder Ateliers. Die sind nicht umsonst zu haben.“ Grass plädiert für weitgehend ambulante Dienste, die psychisch kranken Senioren auch daheim zur Seite stehen könnten und so einer „Stigmatisierung“ vorbeugen. Der CHNP-eigene ambulante Spat (soins à domicile) betreut Patienten daheim, seine Ressourcen sind aber sehr begrenzt.
Auch eine engere Vernetzung zwischen Altersheimen und psychiatrischen Kliniken ist sinnvoll“, fährt Graas fort. Erste Konventionen zwischen Krankenhäusern und Altersheimen gibt es bereits. So arbeiten beispielsweise Ettelbrücker Psychiater mit dem Pflegeheim in Consdorf zusammen, das sich auf Korsakow-Patienten, eine spezielle Form der Amnesie im Alter, spezialisiert hat. Auch Caritas accueil et solidarité, deren Mitarbeiter sich um Obdachlose kümmern, wird regelmäßig von einem Psychiater aus dem CHNP unterstützt. Ähnliches kann sich Graas für andere Einrichtungen vorstellen.
Es wäre eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: für den Patienten, der eine adäquate fachkundige Betreuung bekommt, für das CHNP, das sein Fachwissen weitergeben und seinen Geschäftsbereich ausdehnen kann und für die jeweilige Einrichtung, die das psychiatrische Knowhow selbst nicht hat, aber so sein Angebot vervollständigen kann. Doch obwohl bekannt ist, dass auch in Luxemburg die Bevölkerung immer älter wird und, wie Fachleute meinen, psychische Erkrankungen im Alter zwangsläufig zunehmen, gibt es derartige Kooperationen bisher nur wenige – und wenn, dann meist nur auf Initiative einzelner Träger.
Das könnte sich in Zukunft ändern. Die Copas, die Konföderation der Träger von Pflege- und Altersheimen in Luxemburg, hat angekündigt, hier aktiv zu werden. Vor zwei Jahren hat sich der Verband umstrukturiert und Arbeitsbereiche, etwa zur außerpsychiatrischen Versorgung, für die Altenpflege und andere organisiert. „Unser Vorteil ist, dass wir die verschiedenen Akteure unter einem Dach vereinigt haben. So können wir sie leichter an einen Tisch bringen“, sagt Copas-Koordinator Evando Cimetta. Genau das soll in den kommenden Wochen und Monaten geschehen. Ein interner unveröffentlichter Bericht des Verbands über die psychiatrische Versorgung von Patienten habe besonders im ambulanten Bereich Versorgungsdefizite aufgewiesen. Das deckt sich mit dem Bericht des CRP Santé zur Psychiatriereform, der ebenfalls Versorgungslücken bei der ambulanten, nicht-stationären psychiatrischen Versorgung konstatiert und mehr Vernetzung anmahnt (d’Land vom 27.09.).
Nun wollen sich die Träger Gedanken über mögliche Lösungen machen. Eine verbesserte Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen akuten psychiatrischen Diensten wie Reseau psy oder Liewen dobaussen, Alters- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern könnte ein Weg sein, um das Versorgungsnetz enger zu stricken. Entsprechende Überlegungen bestehen innerhalb der Copas bereits, stecken aber noch in den Kinderschuhen. „Wir wollen zunächst prüfen, wie die Situation ist und was tragfähige Lösungen sein können“, sagt Evando Cimetta vorsichtig.
Er meint damit wohl auch: finanzierbar für die Träger. Denn das könnte sich als die größte Hürde sein: Die Unterbringungskosten von chronisch psychisch kranken Senioren, die nicht mehr alleine zurecht kommen werden, in Alteneinrichtungen werden von der Pflegeversicherung in der Regel nicht übernommen.
Françoise M. hat Glück im Unglück: Obwohl sie in einem Pflegeheim ist, weil sie wegen ihrer Angstzuständen und Depressionen auf permanente Hilfe angewiesen ist, bekommt sie die Ausgaben für die Unterbringung von der Pflegeversicherung nicht zurückerstattet. Für die Konsultationen beim Psychiater kommt die Krankenkasse auf. Weil ihr Mann Staatsbeamter ist, kann sich die Seniorin die mehrere tausend Euro teure Unterbringung dennoch leisten. Andere können das nicht.