Trotz Spionen und Bombenleger war die Regierungskrise im Sommer keine Systemkrise. Anders als in sonstigen europäischen Staaten löste sie sich am Sonntag reibungslos innerhalb des traditionellen Parteiensystems durch einen geordneten Stimmentransfer innerhalb des bürgerlichen Lagers.
Somit ist das Ergebnis der vorgezogenen Kammerwahlen alles andere denn überraschend. Die Regierung war am 10. Juli über den hysterisch gewordenen Geheimdienst gestürzt, nachdem das gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische Projekt von CSV und LSAP vor drei Jahren mit der Tripartite gescheitert war. Erwartungsgemäß verloren die beiden Regierungsparteien Stimmen: die CSV landesweit vier Prozentpunkte, die LSAP landesweit zwei Prozentpunkte. Auch wenn beide das etwas plump zu vertuschen versuchten: Die CSV, indem sie ihr Ergebnis willkürlich an einem „historischen Durchschnitt“ maß; die LSAP, indem sie darauf hinwies, dass ihre Sitzzahl unverändert blieb.
Die CSV hat die meisten Stimmen und Mandate aller Parteien verloren. Sie hat zwischen drei und sechs Prozentpunkte ihrer Stimmen eingebüßt, am meisten in den kleineren Bezirken Norden und Osten, wo sie auf einige populäre Kandidaten verzichten musste. Auch wenn das Luxemburger Wort am Montag meldete, das Ergebnis der CSV „sei mehr als zufriedenstellend“, verlor sie zum letzten Mal vor 40 Jahren drei Mandate in einem gleichgroßen Parlament – damals verzichtete sie noch am Wahlabend auf eine Regierungsbeteiligung und ging in die Opposition.
Die CSV, die noch verzweifelt die Partei der Ordnung als Bollwerk gegen einen politischen Wechsel zu spielen versuchte, wurde von einem Teil ihrer Wähler dafür abgestraft, dass sie nicht mehr die versprochene Sicherheit und Stabilität gewährleisten konnte. Premier Jean-Claude Junckers Geheimdienst hatte die innere Sicherheit gefährdet, Finanzminister Luc Frieden konnte keine stabilen Staatsfinanzen mehr garantieren. Jean-Claude Junckers Zauber war gebrochen. Im Wahlkampf wurde er von den drei anderen Spitzenkandidaten in die rechte Ecke gedrückt, dann bekam er zu spüren, dass er auch das Vertrauen vieler seiner Wähler verloren hatte: Er bekam 17 Prozent weniger Stimmen.
Allerdings verlor die CSV im Vergleich zu einem Ausnahmeergebnis: Unter dem Druck der ein Jahr zuvor offen ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise waren die verängstigten Wähler 2009 scharenweise in die Arme der Konservativen gelaufen, die CSV verbuchte ihr bestes Wahlergebnis seit einem halben Jahrhundert. Deshalb war die Partei am Sonntag heilfroh, dass sie mit einem blauen Auge aus der von ihr verschuldeten Regierungskrise herauszukommen schien. Denn sie hat auch jetzt noch mindestens zehn Sitze mehr als jeder andere Partei. Aber sie ist nicht mehr so stark, dass sie unumgänglich ist. Als gegen Mitternacht das letzte Wahlbüro in Esch-Alzette ausgezählt war, stand fest, dass eine LSAP/DP/Grüne-Koalition gegen die CSV wieder arithmetisch möglich ist.
Große Nutznießerin des neuen Misstrauens gegenüber der CSV, die landesweit vier Prozentpunkte verlor, ist die DP, die vier Prozentpunkte gewann. Glaubt man den TNS-Ilres-Umfragen über die Wählerwanderungen, dann verlor die CSV im Zentrum rund 30 000 Stimmen an die DP und rund 27 000 im Südbezirk. Die DP, die neun Jahre brauchte, um sich von ihrer Wahlniederlage von 2004 zu erholen, gewann vier Mandate hinzu, davon gleich zwei im Zentrumsbezirk.
Der Erfolg der DP ist nicht zuletzt auf ihren Wahlkampf zurückzuführen, denn sie hatte keinen. Um nichts Falsches zu sagen, sagte sie so wenig wie möglich. Sie hatte nicht einmal einen Spitzenkandidaten; Parteivorsitzender Xavier Bettel zierte sich bis zum Schluss. Beim abschließenden Fernsehduell zwischen dem Regierungschef und dem Oppositionsführer war die DP als größte Oppositionspartei abwesend, ein Minister, Etienne Schneider, hatte den Platz der Oppositionspartei eingenommen. So ließ die DP sich von enttäuschten CSV-Wählern zum Sieg tragen, gestützt von den Unternehmerverbänden, die für einen liberalen Wechsel warben, den der LSAP-Spitzenkandidat nur halbherzig versprechen durfte.
Trotzdem atmet die LSAP erlöst auf. Sie hatte nach zwei Legislaturperioden an der Seite der CSV und einer historischen Wirtschaftskrise samt Indexmanipulation ein Debakel bei den für Mai 2014 geplanten Kammerwahlen befürchtet. Der Befreiungsschlag durch den Sturz der Regierung und die Verwandlung in eine Oppositionspartei unter ihrem neuen Spitzenkandidaten Etienne Schneider war ein voller Erfolg, nicht weil die Partei die Wahlen gewinnen wollte, sondern weil sie das Debakel vermeiden konnte. Durch einen Glücksfall konnte sie sogar den Verlust eines Mandats im Zentrum durch den Gewinn eines Mandats im Norden ausgleichen, so dass die Stimmenverluste in allen Bezirken sich nicht in Mandatsverlusten ausdrückten.
Anders als ihr Koalitionspartner CSV verlor die LSAP nicht wegen allerlei Affären. Im industriellen Südbezirk, ihrer traditionellen Hochburg, gingen laut TNS Ilres rund 20 000 LSAP-Stimmen an die Lénk und die Kommunisten. Das war der Protest gegen die Sozialpolitik der Regierung während der vorigen Legislaturperiode und wohl auch ein Misstrauen gegen das liberale Modernisierungsprogramm des LSAP-Spitzenkandidaten.
Wie die DP auf Kosten der Regierungspartei CSV, so zählt déi Lénk auf Kosten der Regierungspartei LSAP zu den Wahlgewinnerinnen. Im Süden gewann sie als romantische LSAP ein Drittel Stimmen hinzu, auch weil OGBL-Präsident Jean-Claude Reding nicht mehr die Ausgrenzungspolitik seines Vorgängers betreibt. Die Linken gewannen aber auch Stimmen von den Grünen und der ehemaligen Mutterpartei KPL, so dass sie nun mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten sein wird.
Unter dem Druck der Linken konnten die Kommunisten, die 2009 erstmals seit 20 Jahren wieder Stimmen hinzu gewannen, keinen Vorteil aus der Enttäuschung linker Wähler über die LSAP ziehen. Sie beharrten als einzige auf einer prinzipiellen Ablehnung der bestehenden Verhältnisse, auch weil sie nicht in der Lage waren, sich programmatisch zu entwickeln.
Die Grünen verloren wie kaum eine andere Partei Stimmen an die Piraten, weil eine neue Generation Jungwähler sich nicht mehr richtig mit den gestandenen grünen Berufspolitikern identifizieren kann. Für die Generation Twitter übernehmen nun die Piraten die Rolle der Jugendpartei. Mit einer vergleichsweise professionellen Wahlkampagne und einem hastig zusammengeklaubten Programm verkauften sie sich erfolgreich als Marke und erhielten in allen Bezirken um die drei Prozent der Stimmen.
So wie es innerhalb der Opposition die Funktion der Piraten war, die Grünen zu schwächen, so war es jene der Partei fir integral Demokratie, die Alternativ demokratech Reformpartei zu schwächen. Obwohl ADR-Dissident Jean Colombera noch rasch seinen Wahlverein holistisch aufmotzte nach dem Vorbild der sich ebenfalls auf US-Esoteriker Ken Wilber berufenden Integralen Partei Deutschlands (IPD) und Integralen Politik Schweiz (IP), gelang es ihm nicht, seinen Kammersitz zu retten. Aber das Ergebnis der Pid ist nicht weit von demjenigen der Piraten entfernt.
Die ehemalige Rentenpartei ADR, die seit mehr als einem Jahrzehnt nach einer neuen Daseinsberechtigung sucht, setzte auch am Sonntag ihren Niedergang vor. Sie verlor in allen Bezirken Stimmen und im Norden einen weiteren Sitz. Da sie im Laufe der vorigen Legislaturperiode schon zwei Sitze durch Parteiaustritte verloren hatte, ist sie mit ihren nunmehr drei Mandaten nicht unzufrieden – auch wenn jeder ihrer drei Abgeordneten eine eigene Partei in der Partei ist.