D’Lëtzebuerger Land: Herr Schneider, Sie haben in der Vergangenheit, wenn es schlechte Nachrichten aus der Industrie gab, geklagt, Ihnen seien aufgrund von EU-Regeln die Hände gebunden. Nun hat die EU-Kommission Ihnen und Ihren Wirtschaftsministerkollegen vergangene Woche ein neues Arbeitspapier vorgelegt, mit dem Ziel die EU zu ‚reindustrialisieren’. Daraus könnte man schließen, man sei mit dem starken Fokus auf die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft ein wenig auf dem falschen Dampfer gewesen. Ist dem so?
Etienne Schneider: Nein. Ich glaube nicht, dass dem so ist. Eher, dass sich die Kommission bewusst wird, dass die Industrie trotz aller anderen Bemühungen extrem wichtig bleibt, dass das produzierende Gewerbe in der EU weiterhin gebraucht wird. Die Wissensgesellschaft, die Informationstechnologien und alles, was daran hängt, das ist alles schön und gut, aber eine Wirtschaft – da sind sich alle europäischen Wirtschaftsminister einig – hat ohne Industrie keine Zukunft. Das heißt, die Diskussionen auf Ebene der EU-Wirtschaftsminister geht dahin, dass wir eine wirkliche Industriepolitik brauchen.
Welche Probleme soll diese beheben?
In der EU gibt es gleich mehrere Probleme. Das Hauptproblem: Durch die Globalisierung, die offenen Weltmärkte, schwinden für die europäische Industrie generell und die Luxemburger Industrie im Besonderen die Zukunftsperspektiven. Schon allein weil der Druck auf die Margen bei verschiedenen Produkten dramatisch gestiegen ist, beziehungsweise die Margen auf „banalen“ Industrieprodukten sehr gesunken sind. Wir haben deswegen in Westeuropa eine Reihe von Unternehmen, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
Für die gewünschte EU-Industriepolitik bedeutet das was?
Eine der Fragen, die ich im Ministerrat aufgeworfen habe, betrifft das Beihilfengefälle. Beispiel Luxguard Düdelingen: Wenn wir alles ausreizen, was wir haben, können wir die Investition für einen neuen Ofen mit maximal acht Prozent bezuschussen. Wenn sie ihn an ihrem Standort in Ostdeutschland bauen, erhalten sie 30 Prozent Investitionsbeihilfe. Wie lange können wir uns erlauben und wie lange ist es sinnvoll, wenn wir uns europaintern mit der Beihilfenpolitik Konkurrenz machen? Wo liegt der Sinn, wenn die Schließung eines Werkes in Europa mit öffentlichen Geldern getragen wird, damit an anderer Stelle die Öffnung eines Werkes mit Beihilfen bezuschusst wird? Das andere Problem ist allerdings, dass wir der Industrie in Europa in den vergangenen Jahren sehr viele Auflagen gemacht haben, vor allem im sozialen wie im Umweltbereich. Das ist auch zu verstehen, wenn man zur besseren und saubereren Gesellschaft werden möchte. Aber, Wenn diese Unternehmen einer weltweiten Konkurrenz ausgeliefert sind, und man die gleichen Produkte, die unter völlig anderen Bedingungen hergestellt wurden, importieren darf, hat man ein Riesenproblem. Das ist genau das Problem, was wir nun haben und das möchte ich im Ministerrat diskutieren.
Wie wollen Sie es lösen?
Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir bauen Auflagen ab, um unsere Industrie wieder wettbewerbsfähiger zu machen – es reden doch alle ständig von ‚better regulation’. Oder man stelltt Mindestanforderungen für die Güter, die nach Europa importiert werden. Das hieße, wer frei in die EU importieren will, muss gewisse soziale und ökologische Standards erfüllen. Wer das nicht macht, muss eine Einfuhrgebühr zahlen. Ich bin wirklich nicht für Protektionismus. Aber wir können nicht einfach zusehen, wie alles kaputtgeht. Die Werke, die Produktionsanlagen, die hier verschwinden, die kommen nie wieder. Dieses Knowhow ist definitiv verloren.
Sie haben zusammen mit den Ministern aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Rumänien einen Brief an die Brüsseler Kollegen verfasst, indem Sie fordern, entweder die Auflagen zu senken oder die Importbedingungen zu verschärfen. Darin haben Sie auch die Subventionsproblematik angesprochen...
... ja, aber nicht nur als internes Konkurrenzproblem. Wir werfen außerdem die Frage auf, ob wir weiterhin stur eine Anti-Subventionspolitik anwenden, auch wenn wir dadurch verhindern, dass Unternehmen sich nicht in der EU niederlassen, weil sie anderswo diese Möglichkeiten haben?
Das widerspricht allem, wofür die Kommission sich seit Jahren einsetzt: freier Handel, keine Staatsbeihilfen, ... Wie ist denn die Reaktion in Brüssel?
Sie steht noch aus. Bei den Mitgliedsländern gibt es hingegen zwei Denkschulen. Auf der einen Seite stehen die großen Exportnationen, Großbritannien, Deutschland. Sie wollen keine Handelsbarrieren, weil sie Gegenmaßnahmen befürchten. Ich bezweifele, dass es dazu kommen würde. Die USA zum Beispiel haben Einfuhrgebühren auf Solarmodulen eingeführt, um ihre Solarbranche zu schützen. Dabei predigen die USA wie kein anderer den freien Handel.
Die Vorschläge sind also nicht mehrheitsfähig.
Heutzutage in Europa eine gemeinsame Meinung zu bilden, ist fast nicht mehr drin. Aber wir sagen ja: Wenn das nicht der Weg ist, den wir einschlagen, dann lasst uns eine Einigung zum Regulierungsabbau finden. Da sind ganz schnell alle im Boot, wenn es darum geht, die Regulierung auf ein Minimum zurückzustutzen.
Also geht es eher in Richtung Regulierungsabbau als in Richtung Schutzmaßnahmen?
Ich bin ja selbst nicht für mehr Protektionismus, weil ich glaube, dass diese Zeiten vorbei sind. Aber als Minister eines kleinen Landes, sage ich mir, kann ich doch ein wenig provozieren. Man muss den Leuten das vor Augen führen, damit es dann wenigstens auf einer anderen Ebene ein Weiterkommen gibt, in diesem Fall, der der Regulierung.
Man kann fast ein wenig überrascht sein, wie die Kommission die Industrie neuentdeckt und sie für einen dauerhaften Aufschwung unabdingbar findet. Nur bleibt wegen der schlechten Konjunktur die Nachfrage aus, was zu Überkapazitäten führt. Im Bezug auf die Stahlbranche hat dazu Roland Junck, ehemaliger CEO von Arcelor-Mittal, vergangene Woche bei RTL gemeint, wenn die Stahlindustrie in Europa sich nicht erhole, werde ein europäischer Plan gebraucht, um die Überkapazitäten egalitär abzubauen. Würden Sie als Wirtschaftsminister einen solchen Mechanismus begrüßen?
Nein.
Wieso nicht?
Ob er Florange oder Lüttich zumacht, entscheidet Lakshmi Mittal selbst. Der kümmert sich doch nicht darum, den Kummer gerecht zwischen Frankreich, Belgien und Spanien zu verteilen, sondern nur um die Produktionsoptimierung. Ihm geht es darum, die Rentabilität zu steigern, nicht darum, einen solchen Abbau sozial gerecht zu gestalten. Und ich wüsste nicht, wie die EU das gestalten sollte. Sollte sie sagen, anstelle von Florange schließt ihr ein Werk in Spanien? Da muss man sich fragen, ob es nicht auch darum geht, der EU-Kommission den Schwarzen Peter für den Stellenabbau zuzuschustern?
Zum konkreten Fall: Nächste Woche tagt das Comité de suivi der Stahltripartie. Dann soll das Audit des Wirtschaftsministeriums über die OGBL-Studie über Arcelor-Mittal Rodingen-Schifflingen besprochen werden. Laut OGBL kommt es zur Schlussfolgerung, dass ein Weiterbetrieb machbar ist. Welche Position ergibt sich daraus für die Regierung?
Den definitiven Bericht habe ich noch nicht gesehen, aber der Zwischenbericht hat besagt, durch die Investition einer nicht unerheblichen Summe, wäre es möglich die Werke in Form von Mini-Mills mit einer schwarzen Null unterm Strich zu betreiben. Das wird wahrscheinlich auch das Ergebnis der definitiven Analyse sein. Aber: das ist gar nicht die Fragestellung. Das Problem sind die Überkapazitäten im Markt. Die Strategie von Arcelor-Mittal war es ja nicht, alles zu tun, um diese Werke irgendwie am Leben zu halten. Die Strategie war es, Überkapazitäten abzubauen. Darüber entscheiden nicht wir, sondern der Inhaber. Der ist es ja auch, der über Investitionen entscheidet, wie die in Belval, die im Tripartite-Abkommen vorgesehen sind. Da heißt es nun konzernintern: "Wir können keine Entscheidung treffen, bis wir eine ganze Reihe von Schulden abgebaut haben." Deswegen haben wir ihnen Zeit gegeben bis Mitte 2013, um die Entscheidung zu treffen. Ich stehe nach wie vor zu dem, was abgemacht ist. Wenn sie also 2013 entscheiden, dass ihr Engagement zu den Investitionen in Belval nicht mehr gilt, gilt mein Engagement auch nicht mehr.
Zurück zu Rodingen-Schifflingen.
In einem ersten Schritt werden wir die Analyseergebnisse festhalten. Dann stellt sich die Frage, was machen wir mit dieser Information?
Welche Möglichkeiten gibt es?
Es gibt mehrere Varianten, alle sind schwierig. Erstens: Der Weiterbetrieb ist möglich, wenn beispielsweise 20 bis 30 Millionen investiert werden. Wir gehen damit zu Arcelor-Mittal, und die sagen uns, dass es sie nicht interessiert, weil sie nicht investieren wollen, sondern Überkapazitäten abbauen. Zweitens: Die Gewerkschaften fordern, dass jemand anderes das Werk kauft, Arcelor-Mittal sagt, eher wird es abmontiert als verkauft, weil sie Überkapazitäten abbauen wollen. Es gibt aber hier in Luxemburg keine Enteignungsprozedur. Drittens: Dann kommt die letzte Forderung, nämlich dass die Regierung das Werk kauft. Und dann? Ich kann doch als Wirtschaftsminister nicht Stahlbaron spielen. Was kostet das? Was machen wir damit, wenn es keine Nachfrage gibt und wir aus der Studie wissen, dass sogar unter großen Anstrengungen höchstens die Kosten gedeckt werden können? Wir sind doch nicht in einer Zeit, in der der Staat jedes Unternehmen kaufen kann, das in Schwierigkeiten gerät.
Das heißt, dann, dass die Schwerindustrie verschwindet.
Ich habe doch darauf keinen Einfluss. Welche Mittel habe ich denn? Ich will aber nicht depressiv werden. Wir werden doch nie wieder Wachstum haben, wenn wir nur schlechte Stimmung verbreiten. Deswegen versuche ich, auf die Möglichkeiten in neuen Bereichen hinzuweisen, den Bio-, Gesundheits-, Umwelt- und Informationstechnologien, wo die Aussichten ganz gut sind und es Projekte gibt.
Das sind alles sehr forschungsintensive Aktivitäten. Und Forschung in Reifen wird in Luxemburg sehr viel betrieben, dennoch werden immer weniger Reifen hergestellt. Wie gelingt es, aus der Forschung Produktionsaktivitäten abzuleiten? Da sind schließlich die Jobs.
Forschungsergebnisse in eine banale Produktion umzusetzen, wird nur möglich sein, wenn auch der Produktionsprozess hohen Mehrwert schafft. Ein Reifen, an dem lange geforscht wurde, ist in der Produktion nicht unbedingt kompliziert und kann deswegen überall hergestellt werden. Die Industriebetriebe, die in Zukunft hier funktionieren können, sind solche, die hohen Mehrwert schaffen.
In ihrer Rede zur Eröffnung der Herbstmesse haben Sie die Sozialpartner zur Mitarbeit aufgefordert bei der Neudefinition des Luxemburger Modells. Bei Cargolux, einem ‚Unternehmen in Schwierigkeiten’, wurde kürzlich unilateral das Tarifabkommen gekündigt. Im Zwischenbericht des externen Experten Oliver Wyman gibt es eine Fußnote, die besagt, dass um die geplanten Einsparungen bei den Sonntagszuschlägen durchführen zu können, die Arbeitsgesetzgebung geändert werden muss. Sieht so das neue Sozialmodell aus?
Dass der Interim-CEO das Tarifabkommen in einem Unternehmen, das zu 65 Prozent direkt oder indirekt dem Staat gehört, unilateral gekündigt hat und auf diese Art vorgeprescht ist, ist absolut unglücklich. Das setzt ja auch ein Zeichen nach außen für andere Privatfirmen. Da bricht ein Damm. Das ist in meinen Augen wirklich nicht gut gelaufen. Dennoch müssen bei der Cargolux eine ganze Reihe von Reformen durchgeführt werden und es müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden, wenn wir die Firma am Leben halten wollen. Da habe ich als Wirtschaftsminister ein großes Interesse daran, wegen der Logistikbranche, die momentan noch ein zartes Pflänzchen ist. Wenn das nicht niedergetrampelt werden soll, kann ich nicht morgen ohne Cargolux dastehen. Noch liegt nur ein Zwischenbericht der Wyman-Studie vor. Da stehen eine ganze Reihe von Dingen drin, die für einen staatlichen Aktionär nicht begehbares Terrain sind.
Ist es annehmbar oder "nicht begehbares Terrain", wenn es heißt, Gesetze müssen geändert werden?
Wenn ich von einem neuen Modell Luxemburg rede, meine ich, dass wir in einer sich schnell verändernden Welt flexibler werden müssen. Auch in der Gesetzgebung. Ob das nun das Arbeitsgesetz ist oder die Sozialgesetzgebung. Dass muss man diskutieren. Ich finde es unverantwortlich, wenn man versucht, völlig stur alle Errungenschaften zu verteidigen, ohne zu sehen, was in der globalisierten Welt los ist.
Wenn Änderungen am Arbeitsgesetz kein "nicht begehbares Terrain" sind – was dann?
Eine komplette Schließung der Wartung zum Beispiel. Ich predige doch als Wirtschaftsminister nicht täglich den Privatunternehmen, sie sollen nicht schließen und durchhalten. Und dann machen wir hier eine Studie, finden heraus, wir sind zu teuer, schließen, setzen 450 Leute vor die Tür und machen die Wartung in Singapur. So geht das nicht. Wir müssen sehen, was hier Sinn macht und was nicht, wie man mit Luxair oder anderen zusammenarbeiten kann. Alles das gehört auf den Tisch.
Werden die 65 Prozent direkte oder indirekte staatliche Teilhaber im Verwaltungsrat in eine Richtung stimmen?
Absolut.
Und wer gibt den Ton vor?
Die Regierung.
Véronique Poujol
Kategorien: Finanzplatz, Infrastrukturen, Wirtschaftspolitik
Ausgabe: 19.10.2012