Gleich gegenüber dem Braderie-Stand der Fondation Élisabeth auf der Place d’armes, wo einige CSV-Kandidatinnen den Passanten freundlich Luftballons verteilten, warben vor drei Wochen junge Herren in biederen Anzügen mit Anstecknadeln, Luftballons und Broschüren. Die Piratenpartei ist zwar noch jung – sie wurde erst am 4. Oktober 2009 von einer Handvoll Schülern und Studenten gegründet – aber sie weiß schon, dass zu einer richtigen Partei nun einmal ein Wahlkampfstand auf der Braderie gehört.
Auch sonst wirkt die Partei auf den ersten Blick ziemlich alt. Das Wahlprogramm, das sie auf der Braderie verteilte, trägt die Losung „Frischer Wind in die Gemeindepolitik!“, den so oder so ähnlich schon jede Partei in den letzten 100 Jahren ein paar Mal benutzte. Auch als Präsident Sven Clement seine Partei während einer Pressekonferenz am Mittwoch dieser Woche stolz mit dem Motto „Transparenz schaaft Vertrauen“ vorstellte, klang er wie Lydie Polfer 1999 und ihr Versprechen von „Dialog und Transparenz“. Und das Gemeindewahlprogramm beginnt mit Vorworten des Präsidenten und des Vizepräsidenten, einschließlich ihrer Konterfeis, wie die stolze Festschrift einer Dorfkapelle.
Etwas ungewöhnlicher ist schon, dass die neue Partei einen Wahlkampfstand betreibt und ein Wahlprogramm verteilt, aber gar nicht an den Gemeindewahlen teilnimmt. Denn mit knapp einem Dutzend Aktiver aus dem ganzen Land reicht es nicht, um eine Kandidatenliste in einer Gemeinde aufzustellen. So spukt die Piratenpartei als Geisterschiff durch den Gemeindewahlkampf, den sie nutzen will, um auf sich aufmerksam zu machen und so eine Teilnahme an den Kammerwahlen 2014 vorzubereiten, wo weit weniger Kandidaten notwendig sind.
Noch weit ungewöhnlicher als der Geisterwahlkampf aber ist, dass politische Inhalten die geringste der Sorgen dieser Partei sind. In ihrem Wahlprogramm geht von demokratischeren Prozeduren und besserer Bürgerbeteiligung die Rede, aber nicht davon, worüber im Rahmen dieser Prozeduren verhandelt werden soll – bei den anderen Parteien sind das Kinderbetreuung, Sozialwohnungen, Busverbindungen...
Als ihr Präsident am Mittwoch die Internet-Seite Depuwatch.lu vorstellte, welche das in der Regel vorhersehbare Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten von der Internet-Seite des Parlaments übernimmt, ließ er keinen Zweifel daran, dass seine platonische Welt aus Daten besteht und sein Ideal von Transparenz das Sammeln, Schützen und Überprüfen, aber nicht das Verstehen von Daten bedeutet – dass die Piraten resolut die Partei des Signi[-]fiant und nicht des Signifié sind.
Denn die Piratenpartei ist die erste Partei der Informationsgesellschaft: Schützen, in den Begriffen der Kritik der politischen Ökonomie, LSAP, KPL und déi Lénk, das variable Kapital und die Grünen das konstante Kapital, so versprechen die Piraten, das so genannte immaterielle Kapital zu schützen, mit dem die Piraten ihren Lebensunterhalt zu verdienen gedenken.
Da die Partei laut Gemeindewahlprogramm für die Transparenz von Staat und Gemeinden und gegen die Transparenz der Privatpersonen und Privatiers kämpft – „gläserner Staat statt gläserner Bürger“ – und das „Europa ohne Grenzen“ sich nur auf das Internet, nicht aber auf Einwanderer bezieht, werden die Piraten bald die letzten Verteidiger des Bank- und Steuergeheimnisses und deren Steueroase sein.
Obwohl sich der leider allzu früh verstorbene Baudrillard ins Fäustchen lachen würde, klingt das alles nur unausgegoren. Aber in Wirklichkeit verspricht die Piratenpartei, den 30 Jahre alten Traum vom Ende der repräsentativen Demokratie und vom Anbruch der direkten Demokratie mittels Abstimmung am heimischen Computer in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Und dafür gibt es innerhalb der repräsentativen Demokratie möglicherweise auch hierzulande eine Wählerschaft von tatsächlichen und ewigen Studenten, Informatikunternehmern sowie des neuen Proleta[-]riats der Werbebranche, die sich keine oder noch keine mate[-]riellen Sorgen um Mieten, Mindestlohn, Kindergeld und Kündigungsschutz machen.
Diesen Verdacht hegen auch andere Parteien spätestens seit den Wah[-]len zum Berliner Abgeordnetenhaus am Wochenende, als dort die Piratenpartei 8,9 Prozent der Stimmen erhielt. Laut Umfragen über die Wählerwanderung verloren die Berliner Grünen am meisten Stimmen an die neue Partei, und auch die Luxemburger Grünen beobachten die Luxemburger Piratenpartei besorgt.
Die Grünen fürchten, dass sich die Geschichte noch einmal auf ihre Kosten wiederholt. Waren die Grünen vor bald 30 Jahren als jugendliche, liberale Antipartei nach dem Vorbild einer deutschen Mutterpartei gegründet worden, um die Natur als ihr beinahe religiös verehrtes, ureigenes Biotop zu schützen, so ist nun die Piratenpartei nach dem Vorbild mehr einer deutschen als einer schwedischen Mutterpartei als jugendliche, liberale Antipartei gegründet worden, um das Internet als ihr beinahe religiös verehrtes, ureigenes Biotop zu schützen.