Notizen zu Rausch und Ernüchterung

Weltrettung in der Weinstube

Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 09.05.2025

Ja, es ist immer wieder schön, wenn am Ende des Tunnels unverhofft ein Lichtlein blinkt. Inmitten der großen weltweiten Verwirrung greifen wir dankbar nach jedem Strohhalm, der uns Halt verspricht. Wir sind geradezu süchtig nach guten Nachrichten und suchen neue Ansätze, frische Perspektiven und überraschend positive Initiativen, die uns aus dem geopolitischen Schlamassel befreien könnten. Und plötzlich jubilieren wir: Es gibt noch Wunder! Verschmähen wir sie nicht. Richten wir unseren Blick nach Süden, ins Herz der Minetteregion. Dort wurden fast zeitgleich zwei neue Weinstuben eröffnet, eine in Düdelingen und eine in Differdingen. Das ist höchst erstaunlich zu einem Zeitpunkt, da europaweit der Weinkonsum auf breiter Ebene sinkt und die Winzer dramatische Absatzeinbußen beklagen. Könnte es sein, dass hier mit hohem Risiko auf das falsche Pferd gesetzt wird? Haben wir es mit Idealisten zu tun, die den Zeitgeist mangelhaft interpretieren? Keine Bange: So ist es nicht. Vielmehr schwingt sich ausgerechnet die Minetteregion zur Speerspitze einer neuen Weinkultur auf. Seit die halbe Tageblatt-Redaktion sich freiwillig vinifiziert hat und regelmäßig im Weinberg malocht, ist der Trend nicht mehr aufzuhalten. Das weitgehend verblichene Eisenerzbecken wird vom Weinfieber erfasst. Nun macht sich konsequenterweise die Weinstuben-Euphorie breit.

„Morgens aufstehen und glücklich sein“, beschreibt der Düdelinger „WäinStuff“-Inhaber das Ziel seiner Lokalgründung. Wein als privater Glücksbeschleuniger ist sicher ein charmantes Ziel. Der vinophile Mann hat früher als Busfahrer gearbeitet und weiß: Das Klirren der Weingläser beim Anstoßen ist ungleich angenehmer als das monotone Motordröhnen im Bus. Auch seine künftige Klientel unterscheidet sich wesentlich von den oft übelgelaunten, griesgrämigen, streitsüchtigen, vom öffentlichen Transport gebeutelten Busbenutzern: Weintrinker haben immer ein Leuchten in den Augen. Sie sind immer friedlich und voller guter Absichten. Wer‘s nicht glaubt, wird (wein)selig.

Der Differdinger „Monni Tino“-Betreiber geht gar einen entscheidenden Schritt weiter. Für ihn ist der eifrige Weinkonsum im Kern eine Stadtverbesserungsinitiative. Nicht nur das persönliche Wohlbefinden soll gestärkt werden, die ganze Stadt soll sich im Weinrausch zu Glanz und Glorie aufschwingen. „Die Stadt wird neu aufblühen“, prophezeit er den Differdingern. Wenn sich nur genügend Wohlgesinnte in seinem Lokal versammeln und Gläschen um Gläschen dem fröhlichen Herrn Bacchus huldigen, weitet sich bald der Horizont, und die Stadt wird, wie von Geisterhand bewegt, ihre Lasten und Probleme abschütteln.

„Morgens aufstehen und glücklich sein“? Wie soll das gehen? Jeden Morgen springen mich aus den Presseschlagzeilen Verbrechervisagen an, ich bin umzingelt von Staatsterroristen und Massenmördern. Im Westen ein größenwahnsinniger Selbstbewunderer auf Rachefeldzug, der keinen Tag verstreichen lässt, ohne seine Hirnrissigkeit und persönliche Profitgier zum Maßstab des Weltgeschehens zu erheben, im Osten ein eroberungssüchtiger brtualer Gopnik („Hinterhofschläger“, so nennt der im Exil lebende russische Schriftsteller Viktor Jerofejew den kriegslüsternen Putin), dazwischen in allen Himmelsrichtungen Autokraten, Faschisten, Gesetzesbrecher, Schlächter, Folterer und Vergewaltiger jeder Couleur: Muss ich mir das antun? Soll wirklich jeder Tag mit Brechreiz und Niedergeschlagenheit beginnen? Nein, auf gar keinen Fall. Also auf in die elysischen Weingefilde von Düdelingen und Differdingen!

Ich habe voller Begeisterung die Probe aufs Exempel gemacht und mir die wundersame Wandlung der Stadt Differdingen aus nächster Nähe angeschaut. Ja, die Prophezeiung des Weinbar-Betreibers stimmt! Je mehr Wein in geselliger Runde getrunken wird, umso schneller entgiften sich die industriellen Schrotthalden. Ich kippe zwei Riesling hinter die Binde, und schon atme ich saubere Luft. Ich schlürfe einen würzigen Montepulciano d’Abruzzo, und gleich ist die Wohnungsmisere behoben. Ja, die neue Weinbar ist ein Laboratorium der Gesellschaftserneuerung. Ja, Wein verzückt und bewirkt schnell eine Hochstimmung. Sobald der edle Nektar seine Wirkung in den Adern entfaltet, überwältigt mich eine außerordentliche Milde und Versöhnungsbereitschaft. Nach dem dritten Glas bin ich so besänftigt, dass ich meine Todfeinde umarmen könnte. Nach dem sechsten Glas gleite ich unwiderstehlich in die halluzinatorische Phase hinein, ich werde von messianischen Visionen heimgesucht und möchte auf der Stelle die gesamte Menschheit mit meinem Gefühlsüberschwang anstecken. Nicht zu reden vom siebten, achten oder neunten Glas: Da erscheint mir nicht nur Differdingen, sondern das ganze Land im Strahlenkranz. Ich blicke betört himmelwärts, aus dem lichten Gewölk erschallt eine mächtige Stimme: Friede auf Erden den Menschen, die guten Weinwillens sind! Ja, Wein ist ein unschlagbares Aphrodisiakum, auf das keiner verzichten sollte. Und eine Weinbar ist nichts anderes als der Mittelpunkt der Welt: ein Sehnsuchtsort mit fast schon tropischem Feuchtigkeitsgrad. Hier ist gut sein, hier will ich bleiben.

Durchs Weinstubenfenster sehe ich draußen überall zutiefst friedfertige Differdinger wandeln, sie umarmen sich, lachen miteinander, trösten sich, haben nur nette Worte füreinander und strotzen förmlich vor Hilfsbereitschaft. Nirgendwo auch nur die geringste Spur von Streitlust, Gegnerschaft oder gar wüstem Hass. Ja, die Stadt hat sich zum Guten gewandelt, sie steigt auf wie der Phönix aus der Asche, mir wird ganz warm ums Herz. In Düdelingen ist es sicher nicht anders. Auch dort schwappt bestimmt eine wahre Flutwelle von Sympathie und Menschenliebe durch die Straßen und die Düdelinger überschlagen sich vor Zartgefühl und Fürsorglichkeit.

Dann am nächsten Morgen der herbe Rückschlag: nicht nur Katerstimmung, sondern totale Ernüchterung. Die strukturelle, geradezu systemische Weinseligkeit ist auf einen Schlag verflogen. Aus einem fahrenden Auto heraus werden ausgerechnet auf ein Differdinger Bistro Schüsse abgefeuert. Hinter dem Anschlag verbirgt sich offenbar eine abgrundtief mafiose Geschichte, deren Aufklärung langwierig sein wird. Die Gemeinde muss öffentlich zugeben, dass ihr Aktionsplan gegen die innerstädtische Kriminalität seit drei Jahren nicht greift. Ausgerechnet vor bestimmten Differdinger Cafés häufen sich die Fälle gewalttätiger Auseinandersetzungen. Ich bin entsetzt und denke: Hoffentlich ist in Düdelingen alles ganz anders.

Dafür gibt es leider keine Anzeichen. Wein kann des Teufels sein, wie die Karriere des höchst weinaffinen Herrn Gloden aus Grevenmacher beweist. Von der Weinwelle wurde er zunächst ins Bürgermeisteramt gespült, dann ins Innenministerium, wo er sich seit anderthalb Jahren – frei nach dem Motto „MAGA – Make Arrogance Great Again“ – als menschenverachtender Ordnungswüterich profiliert. Wein ist also nicht automatisch eine Sanftheitsdroge. Bei machtbesessenen Sturköpfen setzt der Traubennektar leider destruktive Energien frei und befördert niedere Instinkte zutage. Eigentlich müsste auf jeder Flasche ein Warnhinweis stehen: „Le vin nuit gravement à votre lucidité. Il peut accentuer vos fantasmes sécuritaires.“

Falls den Inhabern der neuen romantischen Minett-Weinstuben ihr eigenes Überleben wichtig ist, wären sie gut beraten, mindestens ein selektives Augenmerk auf ihre Kundschaft zu richten: „Platzverweis renforcé“ für Trinker mit Gloden-Mentalität, aber ein reserviertes Plätzchen am Stammtisch für die Opfer staatlicher Willkür, unter der liebevollen Obhut spendabler Menschenfreunde. Das wäre doch eine lebenswerte Utopie. Alle Besserung beginnt stets mit kleinen Schritten. Prost! Aber wieso bin ich plötzlich so misstrauisch gegenüber weingesteuerten Gesellschaftsmodellen? Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

Guy Rewenig
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