Anmerkungen zum Gesetzentwurf Nr. 8523

Staatliche Subventionierung systemkonformer Bibliotheken

d'Lëtzebuerger Land vom 09.05.2025

Die neuere Bibliotheksgeschichte des 21. Jahrhunderts beginnt am 4. Dezember 2001. Die Resultate der Pisa-2000-Studie sind ein nationaler Schock! Die pauschale Schlussfolgerung: Luxemburger Kinder können nicht lesen. Besorgte Eltern schauen sich im Lande um und fragen: Wo sind denn die Volksbibliotheken hin? Früher besaßen und förderten die katholische Kirche, die Gewerkschaften, Volksbildungsvereine und so weiter diesen unersetzlichen Unterbau jedes nationalen Bibliothekswesens. Doch fast alles wurde seit den 1970-er Jahren ersatzlos aufgelöst. Dass Bücherbusse nicht die Lösung sein konnten, leuchtete schnell ein. Es fehlte eindeutig an Bibliotheksstrukturen. Dem überrumpelten Staat fiel nichts ein. So wurde die Privatwirtschaft aktiv: Die ersten Vereine zum Betrieb kleiner öffentlicher Bibliotheken (ÖB) wurden mit viel Engagement und Ehrenamt gegründet. Die Mehrheit der Gemeinden half wenigstens bei der Bereitstellung kostenloser Räumlichkeiten.

Ab 2003 nahmen sich Parlamentarier der Problematik an. Wie konnte man dem eklatanten Mangel an ÖB entgegenwirken? Mit Gesetzesvorschlägen: Marc Zanussi (LSAP) machte 2003 den Anfang, Marco Schank (CSV) folgte 2007. Und mit europäischer Entwicklungshilfe: Dank der Leader-Programme zur Aufbauhilfe von Infrastruktur im ländlichen Raum konnten im Ösling und an der Mosel viele ÖB in unserem offensichtlich armen Grompere-Staat eröffnet werden. Thank you, EU!

2009 schließlich wurde die CSV-Kulturministerin Octavie Modert mit einem eigenen, das Rad gänzlich neu erfundenen Gesetzentwurf aktiv. Am 22. April 2010 wurde im Parlament das erste Bibliotheksgesetz in der Geschichte Luxemburgs einstimmig beschlossen. Die erste Chance dazu hatte es 1928 gegeben, in dem Jahr, als der mehrfache Pisa-Studiengewinner Finnland sein erstes Bibliotheksgesetz bekam. Allerdings sollten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise jede staatliche Bibliotheksförderung in den 1930-er Jahren zunichtemachen.

Das 2010-er Gesetz der Marke Eigenbau mischte sich in unverschämter Weise in Betrieb und Bestände der Bibliotheken ein. Der Staat wurde übergriffig. Alle Fachkreise waren dagegen und verlangten von Anfang an sofortige Reformen. Außerdem stellt das Bibliotheksgesetz das bis heute autoritärste in der EU dar. Zu neuen ÖB-Gründungen angesichts der abschreckend hohen Förderungshürden kam es nicht. Unser Land ist und bleibt bis heute Schlusslicht in Europa.

Zwei Regierungsprogramme (2018 und 2023) später traute sich endlich ein Kulturminister, sich diesem Reformvorhaben ernsthaft zu widmen. Dieser Wille zur Fehlerbeseitigung und zu Investitionen in eine jahrzehntelang vernachlässigte Bibliotheksinfrastruktur sei hier gebührend anerkannt. Eric Thills Vorgängerin Sam Tanson (Déi Gréng) war dazu nicht fähig.

Zwischen der Vorstellung durch den DP-Kulturminister am 17. März und der Hinterlegung des Gesetzentwurfs im Parlament am 4. April vergingen aber fast drei Wochen. Da herrschte wohl massiver Zeitdruck – und das merkt man dem Gesetzentwurf an. Allein die formalen Unstimmigkeiten zwischen Text, Kommentaren und selbst der Fiche financière werden dem Auge des Staatsrats nicht entgehen.

Neuheiten

Neue interessante Elemente wurden dem Gesetzentwurf hinzugefügt. Einerseits eine durch Fördergelder mögliche Kommunalisierung von privatwirtschaftlichen Volksbibliotheken (Träger: Vereine). Diese Idee wird seit Jahren von der FëBLux ASBL propagiert. Wie im Québec der Jahre 1964 bis 1972 erfolgreich durchgeführt, sind hiervon eine schnelle Vervielfachung der aktuell einfach lächerlichen Zahl kommunaler Bibliotheken (sieben) und eine nachhaltige Stärkung der Bibliothekslandschaft zu erhoffen. Angesichts von möglichen künftigen Wirtschaftskrisen ist die langfristige Überlebenschance kommunaler Bibliotheken außerdem höher als die der Vereine.

Neu ist auch die in Bibliotheksgesetzen eher unübliche Förderung zur Errichtung von Zweigstellen. Diese Subventionierungsoption gilt vor allem für Gemeinden über 10 000 Einwohner. Ob diese nur einmalige Finanzspritze die Motivation von Volksvertretern zur Gründung von Stadtviertelbibliotheken steigern wird, muss sich zeigen. Ein Beispiel: Luxemburg-Bahnhof bräuchte dringend einen niedrigschwelligen Frequenzbringer und eine Stadtviertelaufwertung in Form einer Zweigstelle der Lëtzebuerg City Bibliothèque. Die Stadt Luxemburg hat Geld wie Heu. Warum tut sie nichts?

Fehlentwicklungen

Dennoch wurden die autoritären Altlasten von 2010 fast gänzlich übernommen. Der nationale Minderwertigkeitskomplex verlangt weiterhin nach „großen“ Bibliotheken in jeder Ortschaft des „Groß“-Herzogtums. Allerdings sieht die Realität anders aus: Kleinstbibliotheken im Klein-Herzogtum. Wie 2010 wird erneut mit Kanonen auf Spatzen geschossen. So passt der überschwängliche alle (fünf) Bibliothekstypen umfassende Exposé des motifs inhaltlich gar nicht zum Texte de projet de loi. Unter anderem folgende Mängel sind wiederzuerkennen:

1) Generelle Vermischung von ÖB und Spezialbibliotheken (Special libraries). Spezialbibliotheken haben als eigenständiger Typus in der Regel und der Welt keine Fördergesetze, weil sie eigenartigerweise zu speziell sind. Ihre Förderung mit Steuergeldern hängt von verschiedenen Ministerien ab. Ein vom Bibliothekarverband Albad am 14. August 2024 an den Kulturminister gerichtetes Schreiben warnte vor den Konsequenzen einer Einbeziehung einer unbegrenzten Zahl von Spe-zialbibliotheken in ein ÖB-Förderungsgesetz. Trotz eines beschwichtigenden Antwortschreibens vom 23. September 2024 weiß man jetzt, dass die Fass-ohne-Boden-Warnung der Albad schließlich in den Wind geschlagen wurde.

2) Wie sieht es mit der Gründung neuer ÖB aus? Problematisch, weil bereits Bücher und eine bezahlte Vollzeitkraft vorhanden sein müssten, ehe es für eine „création“ Fördergeld gibt. Pionierleistung belohnen, geht anders. Man setzt wieder mal auf Abschreckung.

3) Die Mehrzahl der staatlichen Bibliotheken, inklusive der Nationalbibliothek, werden nicht von qualifizierten Bibliothekaren geleitet. Warum soll das per Gesetz Pflicht in kleinen nicht-staatlichen Stadt- und Dorfbibliotheken sein? In Österreich werden 80 Prozent der Büchereien ehrenamtlich verwaltet. Ehrenamt? – Dieses Wort sucht man im Gesetzentwurf vergebens. Doch damit beginnt jede Erfolgsgeschichte einer Bibliotheksgründung.

4) Die Benutzung bibliothekarischer Fachterminologie bereitete wie immer Probleme, allerdings wurde auf die Definition von teils neu erfundenen Begriffen in den Kommentaren verzichtet.

5) Ein Minimum von zwölf Stunden Öffnungszeit generiert in der Regel mehr Personalkosten. Der 2025-er Pluspunkt: Immerhin wurde die Freiheit zur selbstständigen Bestimmung der Öffnungszeiten wieder hergestellt.

6) Die 2010-er Schande wurde wiederholt: Der Staat darf weiterhin die „Themen“ der Bestände nicht-staatlicher Bibliotheken bestimmen! Nicht unerwünschte, sondern erwünschte Bücher will die Regierung in Stadt- und Dorfbibliotheken aufgestellt sehen. Der staatlichen Willkür für ausgewählte systemkonforme Bibliotheken sind, wie 2010, alle Türen geöffnet. Demokratisch unhaltbar! Dabei steht in Artikel 8(3) darunter das einzig Richtige: die freie Auswahl, der libre choix. Beides, autoritäres und demokratisches Gedankengut, in einem Artikel, das passt nicht. Das beißt sich geradezu.

7) Die Pflicht zur Teilnahme am staatlichen Verbundkatalog, dem „réseau [informatique]“ Bibnet.lu bleibt bestehen, welcher mit einer bestimmten Software, nämlich Alma, einer bestimmten Firma, nämlich Clarivate, funktioniert. Allein für die Aussicht, nach 15 Jahren, auf eine verlängerte gesetzlich verankerte Festigung ihrer Monopolstellung wird das US-amerikanische Unternehmen sich bestimmt bedanken. Dazu ein Fun Fact: Am Abstimmungsdatum 22. April 2010 des aktuellen Bibliotheksgesetzes wurde im Parlament eine Motion der DP-Abgeordneten Anne Brasseur deponiert und abgelehnt. Ausgerechnet die DP wollte die heimische Bibliothekssoftware-Industrie (es gibt sie bis heute) vor der gesetzlichen Monopolisierung der damaligen Firma Ex libris Group (Software Aleph) schützen. Vielleicht sollte Anne Brasseur ihren Parteikollegen Eric Thill mal briefen?

Verbesserungsvorschläge

Was gehört kurzgefasst in ein freiheitlich-demokratisches Gesetz zur Förderung öffentlicher Bibliotheken in einem Kleinstaat und Entwicklungsland? Jedenfalls sollte bestenfalls auf vom Staat erlassene „selig machende Vorschriften, was Büchereien landauf, landab zu tun haben“, wie es im Vorwort des 2024-er Büchereientwicklungsplan Österreichs treffend steht, verzichtet werden. Vorschläge:

A) Die Anpassung an die aktuell fortschrittlichste EU-Bibliotheksgesetzgebung, die französische Loi Sylvie Robert, das beste Gegengift gegen jede extremistische Bibliothekspolitik.

B) Insbesondere im Anfangsstadium Kann- statt Muss-Vorschriften den Vorzug geben.

C) Nach Gründung einer Bibliothek genügt erst mal als Mindeststandard die Ablieferung von Benutzungsstatistiken. Mehr nicht.

D) Die Festlegung auf das Hauptziel jeder ÖB, nämlich die außerschulische Leseförderung, das heißt die promotion de la lecture mit Konzentration auf die Förderung der Freude am Lesen, der überaus wichtigen plaisir de lire in der Freizeit.

E) Die freie Auswahl der Bibliothekssoftware sowie die Freiheit, die Mitgliedschaft an Verbundkatalogen, Netzwerken oder Verbänden auswählen zu dürfen.

F) Bei der Formalerschließung von Medien in Kleinstbibliotheksbeständen reichen Kurzkatalogisate, wie etwa die Erfassung von Autor, Titel und Erscheinungsjahr. Punkt!

G) Die Reduzierung der minimalen Pflichtöffnungszeit auf vier Stunden, wie es für ländliche Bibliotheken in Frankreich, der vergleichbaren Luxemburger small and rural library, gilt.

H) Das Bibliothekspersonal darf ehren-, neben- oder hauptamtlich beschäftigt sein, frei je nach individuellem autonom-kommunalem Bedarf.

I) Eine staatliche Personalkostenbezuschussung und dementsprechende starke finanzielle Abhängigkeit von Regierungsanordnungen gehört nicht zur westeuropäischen Tradition ausländischer Bibliotheksförderung.

J) Die Grundausbildung, beziehungsweise Fortbildung des nicht-qualifizierten Bibliothekspersonals muss freiwilliger Natur sein, jedoch sollten finanzielle Anreize zur Teilnahme geschaffen werden.

K) Ein Conseil supérieur des bibliothèques ist überflüssig, denn dieser Rat muss sich korrekterweise um alle Bibliothekstypen eines Landes kümmern. Jedoch gehören diese in die Zuständigkeitsbereiche von verschiedenen Ministerien. Unter anderem dies erklärt die Nicht-Existenz eines solchen Gremiums in der absoluten Mehrheit der EU-Länder.

L) Die Schaffung einer Servicestelle für ÖB, einer National authority on public libraries, die die Kommunen kostenlos professionell beräten und je nach politischem Willen jede Menge andere Dienstleistungen anbieten kann.

Die Liste der Verbesserungsvorschläge ließe hier sich beliebig und vor allem gerne detailliert fortsetzen, jedoch reicht der Platz dafür nicht aus. Deshalb entnehmen Sie bitte weitere Einzelheiten und Ideen den seit 2001 vom Autor im Land publizierten Artikeln zum Bibliothekswesen.

Fazit

Der unausgegorene Gesetzentwurf Nr. 8523 gehört größtenteils überarbeitet. Wie? Zur Vermeidung weiterer Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren qualifizierten Bibliothekar oder nationalen Experten. Fragen kostet nichts, Hilfe ist möglich, für jedermann, der an der Prozedur zur Verbesserung des Gesetzentwurfs beteiligt ist. Allerdings nur so lange das hehre Ziel heißt: Gründung zahlreicher Volksbibliotheken und die gesetzlich festgelegte Garantie für deren freie demokratische Entfaltung.

Zum Schluss die hoffnungsvolle Geschichte einer Glanzleistung: Am 15. Juni 2022 wurde die Ukrainische Bibliothek (Träger: Lukraine ASBL) in Luxemburg-Rollingergrund eröffnet. Laut dem nun vorliegenden Gesetzentwurf kann diese ÖB (ja, definitorisch ist sie eine) finanziell nur gefördert werden, wenn sie die richtigen Sprachen besitzt. Dennoch zeigte unser Land sich hier von seiner besten Seite. Noch nie wurde in Luxemburg eine ÖB in so kurzer Zeit aufgebaut. Yes, we can. Geht doch! Kriterien- und gesetzlos, mit großzügiger und effizienter Hilfe der Stadt Luxemburg und des Bildungsministeriums. Richtig gelesen: nicht aus dem Kulturministerium. Welche politischen Lehren hieraus wohl gezogen werden können? Eine Menge! Doch urteilen Sie selbst.

Der Autor, Jg. 1975, Dipl.-Bibl. (FH) und MaLIS, vereinsmäßig national (Albad, ULBP, FëBLux) und europäisch (Eblida) sehr engagiert, beschäftigt sich seit 25 Jahren mit europäischer Bibliotheksgesetzgebung und impft sich gegen insulare Luxemburger Einflüsse, indem er weiterhin staatlich unaufgefordert und aus Gründen persönlicher Fortbildung auf eigene Kosten regelmäßig ausländische Fachkongresse besucht.

Jean-Marie Reding
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