Alle Hinweise waren da. Dennoch verkannte das Finanzministerium das Ausmaß von Luxleaks und schlug deshalb nicht Alarm

„La situation est sous contrôle“

d'Lëtzebuerger Land vom 14.11.2014

„La situation est sous contrôle“, heißt es in einem Schreiben des Finanzministeriums, vier Tage nach der Veröffentlichung hunderter Steuer-Vereinbahrungen, im Englischen Ruling genannt, durch das International Consortium of Invesgative Journalists (ICIJ). Damit sollen Firmen beruhigt werden, die überlegen, sich aus Luxemburg zurückzuziehen, weil sie nach den weiltweiten Berichten, wie Großkonzerne mit solchen Rulings ihre Steuerlast senken, um ihren guten Ruf fürchten. Die von der Beraterfirma PWC für die Konzerne vorbereiteten Rulings, insgesamt sind es 28 000 Seiten, die auf der Webseite des ICIJ eingesehen werden können, stammen allesamt aus der Amtszeit von Jean-Claude Juncker (CSV), weshalb er in vielen Berichten persönlich ins Visier genommen wurde und vielerorts sein Kopf als EU-Kommissionspräsident verlangt wird.

Schwarzer Humor im Finanzministerium? Denn die Situation ist alles andere als unter Kontrolle. Die Enthüllungen seien „ein Schlag, der den Ruf Luxemburgs hart trifft“, hatte Außenminister Jean Asselborn dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel am Wochenende gesagt. Und Staatsminister Xavier Bettel hatte sich zur Aussage hinreißen lassen, er werde nicht zulassen, dass ganz Luxemburg „duerch de Kacka gezu gëtt“. Dass die Situation völlig außer Kontrolle ist, dafür ist das Finanzministerium, an der Spitze Finanzminister Pierre Gramegna (DP), verantwortlich. Und das riskiert, noch zum Politikum zu werden. Nicht nur weil die CSV ihre Rolle als Oppositionspartei wahrgenommen und gefordert hat, dass Gramegna am heutigen Freitag noch einmal in die parlamentarische Finanzkommission kommt, um zu klären, ob er vor einer Woche dort die vollständige Wahrheit gesagt hat (siehe Seite 9). Da soll er den Parlamentariern gesagt haben, er habe von der Sache erst die Woche davor erfahren, als er am Rande der OECD-Konferenz in Berlin ein Interview gegeben habe. Dabei hatte sich das ICIJ bereits am 14. Oktober mit einem sehr konkreten Fragenkatalog an Pierre Gramegna gerichtet, wie das Luxemburger Wort berichtete.

Ob Gramegna der Finanzkommission, mit oder ohne Absicht nur eine halbe Wahrheit gesagt hat, ist aber nicht das einzige Problem. Denn Staatsminister Xavier Bettel (DP) hatte er offenbar auch nicht darüber informiert, dass sich das ICIJ bei ihm gemeldet hatte. Das hat Bettel beim Pressebriefing vergangenen Freitag selbst mehrmals vor laufender Kamera unterstrichen. Er habe von einem belgischen Journalisten davon erfahren, der die Visite von Bettels Amtskollegen Charles Michel am Tag vor der Veröffentlichung begleitete. „Ech soen Iech nach eng Kéier, ech sin op jidde Fall net au courant gesat ginn, wann de Finanzministär au courant gesat ginn ass, de Finanzministär huet jo och seng Communicatioun organiséiert,...“ so Bettel, der noch Ende Oktober mit Pierre Gramegna nach Dubai reiste, um am World Islamic Economic Forum teilzunehmen. Bettel war nicht der einzige, der von den Ereignissen, vom Ausmaß der Berichterstattung überrascht wurde. Auch den Botschaften sagte man erst am Tag der Veröffentlichung Bescheid. Was einen gewissen Unmut bei den Botschaftern ausgelöst haben soll, die gerne im Voraus gewusst hätten, wie sie auf Anfragen reagieren sollten. Pierre Gramegna hat es abgelehnt, die Fragen des Land zu beantworten, darüber, wann er den Fragenkatalog des ICIJ erhalten hat, wann er den Staatsminister und den Rest der Regierung davon in Kenntnis gesetzt hat, wann und wie man auf die Fragen der Journalisten reagiert habe, wann genau die Beraterfirma PWC das Finanzministerium kontaktiert hatte. Er will heute in der Finanzkommission Stellung nehmen.

Ob Gramegna absichtlich erst seine Kollegen und danach die Abgeordneten im Dunkeln gelassen hat? Viel wahrscheinlicher ist, dass er und seine Berater den Ernst der Lage vollkommen unterschätzt haben. Obwohl am Mittwoch im Handelsblatt zu lesen war: „Die Brisanz von Luxembourg Leaks sei ihm sofort klar gewesen, erzählt Gramegna. Er habe den Premierminister angerufen, der ihm gesagt habe: ‚Das stehen wir durch.‘“ Denn im Schreiben des Finanzministeriums vom 10. November heißt es: „Le MinFin était au courant de l’enquête du Consortium depuis quelques semaines. Nous nous attendions à des publications, mais du type des articles parus plus tôt dans l’année dans le FT et le WSJ. Nous ne savions pas que les journalistes disposaient de plus de 500 Rulings et allaient les publier.“ Das gibt zu denken, denn Regierungssprecher Paul Konsbruck hatte vergangenen Freitag im Pressebriefing versucht, die Situation zu retten, indem er erklärte, dass sich seines Wissens nach PWC zehn Tage vor der Veröffentlichung beim Finanzministerium gemeldet habe, um Bescheid zu sagen, dass die vor zwei Jahren bei ihr entwendeten Dokumente „recycelt“ würden und „in diesem Rahmen etwas kommen wird“. Land-Informationen zufolge wusste man im Finanzministerium sogar, wann das ICIJ seine Berichte veröffentlichen würde. Ein bisschen Zeit, Krisenmanagement zu betreiben hätten die blau-rot-grünen Fans neuer Management- und Kommunikationsmethoden durchaus gehabt. Stattdessen lies sich Gramegna zitieren, Rulings gehörten zum nationalen Kulturerbe, und Bettel damit, er könne nicht die Steuern anheben, damit es den Nachbarländern besser gehe.

Wenn die schlechte Handhabung von #Luxleaks durch die Regierung nicht vorsätzlich geschah, so ist sie ein Musterbeispiel für Dilettantentum. Auch ohne vorherigen Verdacht – spätestens das Schreiben des ICIJ an den Finanzminister hätte Großalarm auslösen müssen. Darin schreibt Marina Walker Guevara, man werde bald die Ergebnisse einer neun-monatigen Recherche veröffentlichen. „We are partnering with 31 media organizations around the world.“ In der ersten von elf Fragen heißt es: „Our research shows that over the past 10 years multinational companies from around the world have systemically used Luxembourgs tax rulings to obtain significant tax advantages in Luxembourg and elswhere.“ „Our investigation shows that substance rules are likely being violated“, heißt es weiter und „we have found that in case after case the proportion of profits actually taxed is marginal, often as little as 0,25%“. Hinweise genug, dass hier einerseits eine Riesentruppe an internationalen Medien am Werk war und dass sie im Besitz konkreter Unterlagen sein musste?

Allerspätestens als PWC beim Finanzministerium Bescheid sagte, dass es sich um die gestohlenen Steuerunterlagen ihrer Kunden handelte, hätte dem Finanzminister und seinen Beratern aufgehen müssen, was die Stunde geschlagen hat. Denn 2012 hatte France 2 anhand der gleichen Dokumente die Sendung Cash Investigation hergestellt (siehe auch Seite 10). Das Interview mit dem damaligen Finanzminister Luc Frieden (CSV) war zum Fremdschämen peinlich, das mit der damaligen beigeordneten Direktorin der Steuerverwaltung etwas steif. Dafür hatte der Presseattaché die Kameracrew umso unbekümmerter und scherzend durch die Steuerverwaltung geführt und das leere Büro des legendären und sagenumwobenen Steuerbeamten Marius Kohl gezeigt. Deshalb musste man im Ministerium eigentlich wissen, dass diese Unterlagen seither in der freien Wildbahn zirkulierten.

Ob sich der damals bloßgestellte Luc Frieden heute in London ins Fäustchen lacht? Er kennt das ICIJ und seine Vorgehensweise nur zu gut. Denn das Missverständnis, durch das er im April 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Bankgeheimnis abschaffte, beruhte auf der Enthüllungsgeschichte, mit der das ICIJ zum ersten Mal weltweit Aufsehen erregte: Offshoreleaks. Das Consortium stellte eine gigantische Datenbank ins Netz, die zeigte wie VIPs in Offshore-Zentren Geld versteckten. Dass sich an diese Vorgehensweise – im Einklang mit der Strategie der Luxemburger Regierung, möglichst viele Brutto-Informationen ins Netz zu stellen, damit sich die Bürger selbst ein Bild machen können – niemand mehr erinnert, ist deshalb so erstaunlich, weil die Aufgabe des Bankgeheimnisses in Luxemburger Medien als nationales Trauma gilt. Und das Consortium und langjährige Kritiker des Bankgeheimnisses Friedens „Einknicken“ auf Offshoreleaks zurückführten – obwohl er sein Interview Tage vorher gegeben hatte.

Worin bestand also die Strategie, „die Kommunikation“, mit der sich das Finanzministerium gegen die internationale Medienfront wehren wollte? Am Tag vor den ICIJ-Veröffentlichungen hielt man eine Pressekonferenz für die Luxemburger Medien ab, um darüber zu informieren, was man seit Regierungsantritt alles in Sachen Steuertransparenz unternommen hat. So konkret fällt die Antwort ans ICIJ, die dem Land vorliegt, nicht aus – keine einzige Frage wurde direkt beantwortet.

Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik. Genau wie Luc Frieden damals, glaubte auch der heutige Finanzminister, die Situation vorbereitet zu haben, um dann dennoch von den internationalen Medien überrollt zu werden. Dass sich Luxemburg den Entscheidungen, die in den kommenden Monaten und Jahren auf OECD- wie auf EU-Ebene getroffen werden, um die Schlupflöcher für Konzerne zu schließen, beugen will, hat Gramegna schon vor Monaten angekündigt. Vor zwei Wochen peitschte er noch schnell ein Gesetz durch, das helfen soll, die Prüfung des Global Forum on Taxation zu bestehen, damit Luxemburg von dessen schwarzer Liste entfernt wird. Luxemburg gehört zu den Ländern, die freiwillig besonders schnell den automatischen Informationsaustausch für Privatpersonen innerhalb der OECD einführen werden. So eifrig will die blau-rot-grüne Regierung sein, dass Staatsminister Xavier Bettel vergangenen Freitag auf Nachfrage sagte, alle künftigen Steuer-Rulings zu veröffentlichen, sei „eine Möglichkeit, die geprüft wird“, obwohl Pierre Gramegna dies schon abgelehnt hat, weil dies, ohne das Steuergehimnis abzuschaffen, ein wenig schwierig würde. Außenminister Jean Asselborn (LSAP), wegen seiner Äußerungen im Spiegel und weil er sich zu Anne Will ins Fernsehstudio gesellte, kritisiert, ist demnach nicht der einzige, der die Fakten nicht immer ganz so genau beisammen hat und ausschert.

Warum die Regierung ihre guten Taten nicht offensiver in den internationalen Medien anpries, mag im Falle Bettels darauf zurückzuführen sein, dass er nicht wusste, worum es ging. Er hielt das Ganze für einen taktisch getimten Angriff auf Jean-Claude Juncker, der nur Tage zuvor den Dienst als EU-Kommissionspräsident angetreten hatte.

Für Jean-Claude Juncker ist das Ganze tatsächlich unangenehm. Kaum ist er im Amt, fordern internationale Medien und EU-Parlamentarier am linken und rechten Rand seinen Kopf. Er sei als Kommissionspräsident nicht mehr glaubwürdig, weil er als Luxemburger Premier und Finanzminister ein Steuersystem aufgebaut habe, das andere EU-Länder geschädigt habe, so das Argument. Jean-Claude Juncker vollführte also seinerseits „einen Juncker“. Er tauchte eine Woche lang ab, tauchte dann ohne Vorwarnung auf, so dass sich weder Journalisten noch Parlamentarier auf seine Auftritte am Mittwoch in Brüssel vorbereiten konnten. Dann nahm er den Kritikern Wind aus den Segeln, indem er (kleinere) Fehler eingestand und Reue zeigte. „Politisch“ sei er „verantwortlich“ – den Wortlaut hatte er auch in der Srel-Affäre gewählt. Dann ging er in die Offensive, kündigte an, seine Kommission werde Druck machen, um eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Besteuerung von Unternehmen in der EU einzuführen. Und einen Richtlinienvorschlag für den Austausch von Steuer-Rulings vorbereiten. Das werde er auch beim Gipfel der G-20 Staaten dieser Tage im australischen Brisbaine vorschlagen. Juncker selbst ist sich der Ironie der Situation sicher bewusst. Im April 2009 hatte die EU den Vorsitzenden der Eurogruppe nicht mit zum Gipfel der G20 nach London fahren lassen. Sonst hätte er sicher zu verhindern versucht, dass allen voran Frankreich Luxemburg auf die graue Liste der Steuerparadiese hatte setzen lassen.

Was seine Vorschläge wert sind? In Sachen einheitliche Bemessungsgrundlage in der EU gibt es seit Jahren kein Vorankommen, weil sich eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten dagegen wehrt – eine Umsetzung ist ziemlich unrealistisch. Dennoch kam Juncker bei seiner Erklärung im Europaparlament erstaunlich gut weg. Die großen Fraktionen wollen wohl verhindern, dass Juncker, dem sie wohl die besten Chancen zugerechnet hatten, dass er nicht ausschließlich von Angela Merkels Gnaden funktionieren werde, genau dieses Schicksal zuteil wird. Doch der Liberale Guy Verhofstadt brachte die Sache auf den Punkt. Sollte die Untersuchung der Wettbewerbsbehörden in den konkreten Fällen Amazon und Fiat Finance and Trade feststellen, dass ihre Luxemburger Rulings illegalen Staatsbeihilfen entsprechen, „dann haben Sie ein Problem“, so Verhofstadt zu Juncker.

Nachdem die Regierung im Vorfeld der ICIJ-Veröffentlichungen ziemlich deutlich versagt hat, bleibt die Frage, wie sie im Nachhinein reagiert. Denn ihr Bekenntnis zu Steuergerechtigkeit und -transparenz ist, wenn überhaupt, auch nicht viel mehr wert, als das der Vorgängerregierungen. Es waren Blau-Rot-Grün, die mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof verhindern wollen, dass die Kommission alle Rulings der vergangenen Jahre einsehen kann. Sie hat ebenso Ursache, vorsichtig zu sein wie die Vorgängerregierungen, denn es steht Geld auf dem Spiel. Wie viel genau, darüber wollen die wenigsten Leute auch nur spekulieren. Doch die Souvernitätsnischen werden kleiner und mit ihnen schwinden die öffentlichen Einnahmen.

Als Reaktion auf die ICIJ-Berichte schlug Pierre Gramegna vergangenen Freitag in der Finanzkommission vor, man könne die für 2017 geplante Steuerreform im Bezug auf die Unternehmensbesteuerung vorziehen. Seither zirkuliert die Idee, den nominalen Körperschaftssteuersatz drastisch zu senken – nach dem irischen Modell – und dafür die Vielzahl von Abschreibungsmöglichkeiten abzuschaffen, mit der Konzerne die Steuerrechnung senken. In Arbeitgeberkreisen frohlockt man. Schließlich ist dieser Schritt eine langjährige Forderung ihrerseits, weil potenziellen Investoren im Ausland so schwer zu erklären ist, dass die Steuerrechnung in Luxemburg trotz vergleichsweise hohem nominalen, Satz im Endeffekt günstig ausfällt. Würde die Regierung dies tun, kämen die Arbeitgeber noch besser weg, als ihnen ohnehin versprochen wurde. Noch bei der Eröffnung der Herbstmesse hatte Staatssekretärin Francine Closener (LSAP) ihnen versichert, es werde keine Steuererhöhungen geben.

Etienne Schneider hatte seinerseits vergangenen Freitag treuherzig erklärt, die Bemühungen der OECD und der EU in Sachen Firmenbesteuerung zielten darauf ab, die Steuerlast wieder gerechter zwischen privaten Steuerzahlern und Unternehmen zu verteilen, damit auch die Unternehmen wieder in stärkerem Maße zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte beitrügen. Ob eine Senkung des nominalen Körperschaftssteuersatzes dabei zielführend ist, sollte sich die blau-rot-grüne Regierung vielleicht noch einmal überlegen. Es ist ebendiese Regierung, welche die intérêts notionnels von den DP-Firmenberatern ins Regierungsprogramm schreiben ließ. Es war niemand anderes als der damalige Oppositionschef Jean-Claude Juncker, der Xavier Bettel nach seiner Regierungserklärung im Parlament beschworen hatte, von diesem Wunderinstrument, mit dem Konzerne in Belgien sehr viele Steuern sparen, abzusehen.

„Il convient de rassurer (les entreprises): la situation est sous contrôle, des réformes seront faites (mais la législation ne va pas changer brutalement ; la nouvelle transparence ne signifie pas qu‘il n‘aura plus de confidentialité), le Luxembourg reste as business friendly as ever, le pays a énorment d’atouts, au delà de la fiscalité“, heißt es im Schreiben des Finanzministriums. Da kann ja fast nichts mehr schiefgehen.

Michèle Sinner
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