Insgesamt zwölf Forderungen zählt ein Schreiben der WhatsApp-Gruppe SOS Gare. Es ist eine Art Synthese der Beschwerden der Anwohner/innen, derart konkret und auf den Punkt gebracht hat man sie bisher nicht gelesen. Sechs Forderungen an die Hauptstadt und ihre liberale Bürgermeisterin Lydie Polfer: mehr Polizeipräsenz, Sicherung des öffentlichen Raumes, Verbesserung der städtischen Infrastruktur, ehrliche Kommunikation, Dezentralisierung der sozialen Strukturen und Unterstützung der Geschäftsleute. Von der Regierung werden unter anderem mehr Fußpatrouillen der Polizei, Gesetzesreformen, eine Verbesserung der Sozialarbeit und die nationale Dezentralisierung der sozialen Strukturen gefordert. Land-Informationen nach ist dieses Schreiben bisher nicht an die verantwortlichen Politiker verschickt worden. Es gehe den Initiatoren darum, Ideen zu sammeln und sie weiterzugeben, erklärt ein Mitglied der Gruppe. Zum Schluss ein Kassandraruf: Die Menschen würden sich bald selbst wehren und rechtsextreme Parteien immer mehr Zuspruch bekommen, wenn sich die Situation nicht bessere.
Vor allem die fünfte Forderung an die Gemeinde lässt aufhorchen. Die Einwohner/innen wenden sich explizit gegen die Stëmm vun der Strooss, die sie als mitverantwortlich für die Situation in der Rue de Fonderie sehen, wo die ASBL. seit 2015 ihren Sitz hat und um die sich ein Drogen-Hotspot entwickelt hat. Die Stëmm habe die Straßen in eine rechtsfreie Zone verwandelt, die dortige Betreuung der Menschen sei unzureichend, die Verwaltung sei lax und das Modell, das bedingungslos funktioniert, das also alle willkommen heißt, ohne nach Aufenthaltspapieren zu fragen, müsse überdacht werden. Am liebsten wäre es den Nachbarn der Stëmm, sie verschwinde völlig aus der Nachbarschaft, heißt es im Schreiben.
Seit zehn Jahren kommen jeden Tag mehrere Hunderte Menschen in sozialer Not in die Stëmm Mittag essen, duschen sich und waschen ihre Kleidung. Seit der Corona-Pandemie werden es jedes Jahr mehr. Unter ihnen sind auch Drogenkranke, die wiederum Händler anziehen. „Die Situation hat sich enorm zugespitzt. Wir sitzen auf einer Zeitbombe“, erklärt Alexandra Oxacelay, Direktorin der Stëmm. Sie versteht die Anwohner, die den Lärm und die Gewalt, die in der Szene ausbricht, nicht aushalten können. Dass die Misere an der Stëmm liege, weist Alexandra Oxacelay zurück, die Wurzel des Problems liege woanders. Der ASBL. obliege nicht die Rolle einer medizinischen und sozialen engmaschigen Betreuung der Klienten, dafür fehle es schlichtweg an Personal und sie sei nicht dafür gegründet worden. „Ich befürworte die Idee einer Dezentralisierung. Wir brauchen einen Ort, an dem wir ein neues Gebäude bauen können – aber wir müssen auch dort sein, wo die Abhängigen sich aufhalten. Denn wenn wir weg sind, wo sollen sie dann hin?“
Die Kantine sei überlaufen und die Struktur müsse sich mehr Mittel geben, monieren derweilen Leute, die den Sektor kennen. Festhalten lässt sich, dass die Situation sich verschlimmert hat, weil verpasst wurde, dem Umschwung von Heroin auf Kokain in der Szene auf nachhaltige Art entgegenzuwirken. Mittlerweile nutzen viele Suchtkranke Crack. Die Droge braucht häufigeren Nachschub, die Abhängigen sind nervös und schlafen wenig, dadurch verbringen die Suchtkranken mehr Zeit auf der Straße. Den extremen Zerstörungseffekt der Droge sieht man an den großen Ballungspunkten in Europa, wie etwa am Bahnhof in Frankfurt am Main. Die Aggressivität nimmt auf Crack ebenfalls zu.
„Im Bahnhofsviertel kann man nicht wohnen wie auf dem Land“, sagt Alexandra Oxacelay. Es gebe Menschen, die würden die Uhr 30 Jahre zurückdrehen wollen, ein Ding der Unmöglichkeit. In jeder größeren Stadt gebe es diese Probleme, in Luxemburg seien sie nur länger versteckt gewesen und in den letzten Jahren rapide sichtbar geworden.
In den letzten Wochen hatten sich Anwohner erneut an die Medien gewandt – jede Nacht würden Menschen in ihren Hauseingängen schlafen, im gesamten Bahnhofsviertel, auch an der Place de Paris. Am heutigen Donnerstagmorgen treffen sich Lydie Polfer und die zuständigen Minister/innen (Justiz, Gesundheit, Inneres, Familie) mit den Anwohnern des Garer Quartiers, um ihren Aktionsplan gegen die Drogenkriminalität vorzustellen. Dabei wurde die Diskussion mit einer Stunde zeitlich begrenzt und auf einen Wochentag gelegt, die Leine somit kurzgehalten, damit die erbosten Bewohner/innen nicht Überhand nehmen können. Bereits um halb elf werden Innenminister Léon Gloden, Gesundheitsministerin Martine Deprez, Justizministerin Elisabeth Margue und Familienminister Max Hahn den plan d’action mit den Abgeordneten besprechen.
Der Aktionsplan, scheinbar ein Lieblingswort der CSV-DP-Regierung, soll der Komplexität der Situation gerecht werden. Dass nach knapp drei Monaten Arbeiten die Welt neu erfunden wird, ist unwahrscheinlich. Vor allem ist den politisch Verantwortlichen daran gelegen, die Aufruhr der alteingesessenen Luxemburger, ihrem Wahlvolk, zu besänftigen. Immerhin hatten Mitglieder von SOS Gare bereits mehrmals die Idee einer Bürgermiliz eingeworfen. Zu erwarten ist möglicherweise eine Ausweitung der Kameraüberwachung in Richtung Hollerich und Gesetzesreformen, die schnelleres Handeln bei Drogendelikten ermöglichen. Ob die Bürgermeisterin und die Minister in so kurzer Zeit die nötige Aufstockung der sozialen Strukturen vornehmen und etwa einen weiteren Konsumraum finden konnten, scheint unwahrscheinlich. Im Gespräch mit dem Land sagt Lydie Polfer, es handle sich um konkrete Maßnahmen, „doch die Sache habe sich damit nicht erledigt“. Vergangene Woche hatte sie im100,7 bereits Erwartungsmanagement betrieben. Mit allzu viel könne man nicht sofort rechnen, sagte sie. „Auch wenn der Aktionsplan vorliegt, wird die Drogenkriminalität nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden.“ Da das Parlament beteiligt wird, nehme das mehr Zeit in Anspruch. Es sei intensiv gearbeitet worden, und das sei auch „mehr als nötig“.
Für die Hauptstadt bleibt das Viertel sein enfant terrible. Ein Dauerproblem, das die Art und Weise, wie Luxemburg sich als Stadt nach außen verkaufen will, kontinuierlich untergräbt. In der Rue du Commerce hat man über die Jahre mehrere Strategien ausprobiert: neben klassischer Musik mit Verdrängungseffekt auch mehr Sozialarbeit wie etwa die À vos côtés Streetworker und Sicherheitsfirmen sowie eine Lokalpolizei. Die Bewohner/innen erklären immer noch, es nütze nichts.
Andere Städte wie Zürich haben ihre Drogenproblematik in den Griff bekommen, indem sie an der Obdachlosigkeit gearbeitet haben. Mittlerweile gibt es in Luxemburg-Stadt noch immer lediglich 46 Wohnungen im Rahmen des Housing-First-Programms, Hëllef um Terrain bietet 52 Betten an. Einst war das soziale Gewissen in der Caritas beheimatet, die mit ihrem politischen Plädoyer Gehör bei der Regierung fand – ersetzt wurde diese Rolle durch den Dienstleistungsträger Hut nicht. Dabei müsste die schwarz-blaue Regierung diese Übernachtungs- und Wohnkapazitäten mindestens verdrei- oder vervierfachen, um der sozialen Krise entgegenzuwirken. Die neue CSV und ihr Premier Luc Frieden hatten doch den Kampf gegen die Armut zur Priorität erklärt – ein weiterer „Aktionsplan“ soll bis Ende des Jahres vorliegen.